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Ich stieg über die tote Ratte, die O’Malley mir zur Begrüßung vor die Wohnungstür gelegt hatte, und ließ mich grübelnd aufs Sofa fallen. Was konnte es mit Violetta Kalskis Bemerkung auf sich haben, meine Mutter sei für den Tod ihres Sohnes verantwortlich? Ich hatte nicht die geringste Ahnung, warum jemand so etwas behaupten sollte oder wer diese Cassandra war, auch das Internet spuckte nichts Brauchbares aus.

So kam ich nicht weiter. Ich musste die Sache anders angehen. Meine Mutter und Alexa kannten durch ihre Jobs viele Leute in der Gegend, vielleicht war ja zufällig auch eine Cassandra darunter? Ich griff zum Telefon und entschied mich, es zuerst bei Alexa zu versuchen, da meine Cousine momentan eindeutig in der besseren nervlichen Verfassung war.

»Natürlich kenne ich Madame Cassandra«, sagte Alexa. »Ich habe mir von ihr allerdings noch nie die Zukunft vorhersagen lassen.«

»Ach du liebe Güte, sie ist Wahrsagerin?«

»Sogar eine recht bekannte.«

»So bekannt kann sie nicht sein, bei meiner Onlinesuche habe ich kein einziges Wort über sie gefunden.«

»Angeblich belegt sie alle Leute, die sich im Internet über sie austauschen, mit einem Fluch.«

»So ein Blödsinn.«

»Sag das nicht, eine ehemalige Klassenkameradin von mir hat mal einen Erfahrungsbericht über sie in einem Forum gepostet. Kurz darauf bekam sie Läuse, und ihr Mann brannte mit der Babysitterin durch. Die Läuse wurde sie erst wieder los, als sie den Bericht gelöscht hatte, ihren Kerl hat sie gar nicht mehr zurückbekommen.«

Ich biss mir auf die Unterlippe. »Auf einen Fluch kann ich wirklich gut verzichten.«

»Halte dich einfach an das, was Madame Cassandra dir sagt, dann hast du nichts zu befürchten.«

Ich fütterte O’Malley, holte mir ein Bier und eine Tüte Chips als Abendbrotersatz aus der Küche und machte mich daran, die Unterlagen von Günther Fabricius genauer durchzusehen. Bisher hatte ich die Berichte und Notizen nur überflogen, nun war es an der Zeit, das Ganze etwas strukturierter anzugehen.

Um kurz vor zehn hatte ich mir einen Überblick über Andreas Kalskis ehemaligen Freundeskreis verschafft. Dabei stellte ich fest, dass Frank Heykes wirklich nichts von der Verlobung an Günther Fabricius weitergegeben hatte, kein einziges Wort davon fand sich in den Notizen.

Rita Janssen war Frank Heykes’ feste Freundin gewesen. Die beiden waren etwa vier Wochen vor Andreas Kalski und meiner Mutter zusammengekommen. Sie hatte die Aussagen und Vermutungen ihres Freundes im Wesentlichen bestätigt, ansonsten aber nur wenige Berührungspunkte mit Andreas gehabt. Irgendwann musste sie geheiratet haben, denn Fabricius hatte über ihren Nachnamen den Namen Lugner geschrieben, dazu den Vermerk »verzogen nach Berlin«.

Inge Behrends war ebenfalls eine langjährige Freundin des Vermissten und zwei Jahre jünger als er. Keine Notiz über einen geänderten Nachnamen. Sie war die Tochter eines Bauunternehmers und hatte in der siebten Klasse zusammen mit Andreas Kalski die Schulbank gedrückt. Wie es aussah, hatte er entweder nur kurze Schulfreundschaften geschlossen, die so lange anhielten, wie das jeweilige Schuljahr dauerte, oder aber Freunde fürs Leben gefunden.

Norbert Coordes und Dieter Kuhlmann, die beiden Letzten im Bunde, waren so alt wie meine Mutter und gehörten dem Jahrgang an, zu dem Andreas Kalski zuletzt hinzugestoßen war. Von beiden hatte Günther Fabricius ein Foto ins Notizbuch geklemmt. Coordes war ein hochgewachsener Sportler, Kuhlmann ein etwas schüchtern dreinblickender Brillenträger.

Die Clique war zum letzten Mal auf der Geburtstagsfeier von Norbert Coordes zusammengekommen, am Freitag, bevor Andreas verschwand. Keiner von ihnen schien sich wegen seines Abtauchens zunächst Sorgen gemacht zu haben. Selbst als Fabricius zwei Wochen später zum ersten Mal mit Dieter Kuhlmann gesprochen hatte, war dieser davon ausgegangen, dass Andreas nur einen Städtetrip machte und bald wieder nach Hause zurückkehren würde.

Ich blätterte zu Violetta Kalskis Angaben. Es war damals häufiger vorgekommen, dass ihr Sohn sich ein oder zwei Tage lang nicht zu Hause blicken ließ, daher hatte sie die Vermisstenanzeige erst drei Tage nach seinem Verschwinden aufgegeben. Ansonsten stand dort das, was sie mir heute bereits erzählt hatte.

Bei meiner Mutter verhielt es sich ähnlich. Sie hatte die mir bekannten Details mit Fabricius besprochen. Auffällig war bei ihrer Aussage jedoch, dass sie damals keineswegs davon ausgegangen war, Andreas habe Geheimnisse vor ihr gehabt und sei ins Ausland gegangen, vielmehr glaubte sie zunächst an einen Unfall mit möglicherweise tödlichem Ausgang, nach dem Andreas nicht gefunden worden war.

Ich widmete mich dem zweiten und dritten Notizbuch mit den Befragungen der Nachbarn und unzähligen lockeren Bekanntschaften von Andreas. Das Ergebnis war ernüchternd. Niemand hatte Andreas am Montag beim Verlassen des Hauses gesehen. Die übrigen Gesprächspartner erweckten größtenteils den Eindruck, einfach nur ihren Namen in der Zeitung lesen und sich im Schatten seines Ruhms sonnen zu wollen.

Ich fragte mich, wie Fabricius es angestellt hatte, bei dieser mageren Informationslage so viele Artikel unters Volk zu bringen, wie ich in der Kiste fand. Wenig später kannte ich den Grund: Da er kaum brauchbare Details zu Andreas’ Verschwinden vorweisen konnte, hatte er sich einfach darauf verlegt, die Gerüchte, die über die Kalskis in Umlauf waren, aufzugreifen. Nachdem er die Ausreißer-Theorie als Tatsache dargestellt hatte, ging es vorrangig um die Gründe für sein Abtauchen, von denen die Suche nach seinem unbekannten Vater oder die mögliche Flucht vor rachsüchtigen Geliebten ganz oben auf der Liste standen. Auch angebliche Augenzeugen, die den Vermissten in Spanien oder Frankreich gesehen haben wollten, wurden ins Spiel gebracht und Zugfahrpläne als Beweise herangezogen. Von seinem Einstieg in die Hamburger Rotlichtszene war die Rede, da die Kontakte durch seine Mutter bestanden. Kein Wunder, dass Violetta Kalski so verbittert war, wenn es um dieses Thema ging. Fabricius hatte tatsächlich nicht beabsichtigt, ihr auf irgendeine Art und Weise zu helfen.

Bei den allgemeinen Notizen im vierten Band las ich, dass sich nach dem Erscheinen von Fabricius’ erstem Artikel mehrere Augenzeugen beim Ostfriesland-Reporter und der Polizei gemeldet hätten. Sie gaben an, Andreas Kalski am Tag seines Verschwindens auf der Strecke zwischen Aurich und Emden als Anhalter am Straßenrand gesehen zu haben. Die Beschreibung passte, beinahe jedem von ihnen war sein auffälliges gelbes T-Shirt mit dem Stern ins Auge gesprungen. Komisch nur, dass von insgesamt vier verschiedenen Stellen die Rede war, denn die Strecke war nicht besonders lang. Auch wurde er weder im Bahnhofsgebäude in Emden gesehen noch in einem der Züge.

In diesem Buch fand ich auch die Namen der beiden Privatdetektive, die Violetta Kalski beauftragt hatte. Der erste hieß Otto Saathoff, doch wie mir eine nachträglich eingefügte Notiz am Rand des Notizbuches mitteilte, war er vor elf Jahren verstorben. Keine Chance also, von ihm noch etwas in Erfahrung zu bringen. Sein Nachfolger hieß Georg Hoffmeyer. Fabricius hatte das damalige Alter und die Adresse des Privatdetektivs notiert, demnach war er inzwischen Anfang siebzig und lebte in Georgsheil, also ganz in der Nähe. Die Adresse war noch aktuell, und ich beschloss, ihm gleich morgen Vormittag einen Besuch abzustatten. Aber erst, nachdem ich mit Madame Cassandra gesprochen hatte. Ich wollte wirklich zu gern wissen, warum sie meine Mutter bezichtigte, für Andreas Kalskis Tod verantwortlich zu sein.

Mein Telefon klingelte, es war Phil. »Noch viermal schlafen«, sagte er. »Dann kann ich dir endlich bei deiner Recherche behilflich sein.«

»Ich berichte nicht über das Sex-Thema.«

»Dann wüsste ich aber etwas, bei dem du mir behilflich sein könntest.«

Sein Tonfall grenzte schon fast an sexuelle Belästigung. Na gut, so richtig belästigt fühlte ich mich nun auch wieder nicht. Ganz im Gegenteil.

»Wenn du deine Libido wieder im Griff hast, könntest du mir wirklich helfen.«

»Schieß los.«

»Ich beschäftige mich jetzt doch mit dem Vermisstenfall Andreas Kalski.« Ich berichtete ihm von der Verbindung zwischen Andreas und meiner Mutter. »Hast du von deinen Auricher Kollegen etwas erfahren können?«

»Stefan hat nachgesehen, aber es gab niemals eine heiße Spur in dem Fall. Die ermittelnden Beamten sind davon ausgegangen, dass er sich ins Ausland abgesetzt hat, und auch in den Jahren danach gab es nie einen Hinweis, der auf ein Verbrechen oder einen Unfall hingedeutet hätte. Aber da ist noch etwas.«

»Und das wäre?«

Sein Tonfall wurde ernst. »Ich habe mich gefragt, warum du bei unserem letzten Telefonat auf einmal doch nach Infos über diesen Fall gefragt hast.«

»Ich habe dir doch gesagt, dass er mit meiner Mutter verlobt war.«

»Das weißt du aber erst seit heute.« Er machte eine Pause. »Die Ähnlichkeit ist ja schon verblüffend.«

Ich wusste natürlich, worauf er hinauswollte. Letzten Herbst, als ich Phil kennenlernte, hatte es auch zwischen Sebastian und mir heftig geknistert. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, für wen ich mich entschieden hätte, wäre Sebastian noch unbescholten und nicht untergetaucht, auf der Flucht vor der Polizei. Phil wusste das, und ich glaube, das war einer der Gründe, warum er ihn gern hinter Gittern sehen wollte.

»Sind die beiden miteinander verwandt?«, fragte Phil.

»Ich weiß es nicht. Sebastians Eltern leben nicht mehr, und ob es sonst noch Familienangehörige gibt, weiß ich nicht.« Es fiel mir schwer, Sebastians Namen Phil gegenüber auszusprechen.

»Du suchst aber wirklich nur nach diesem Andreas? Oder führt deine Suche dich noch weiter?«

»Willst du mich verhören? Es geht nur um Andreas.«

»Elli, du würdest es doch nicht für dich behalten, wenn du eines Tages herausfinden würdest, wo Sebastian steckt?«

»Bestimmt nicht.«

»Sicher?«

»Ganz sicher.«

Zu mindestens sechsundneunzig Prozent.

Der falsche Friese

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