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Wer glaubt, dass Künstler erst nach ihrem Tod reich und berühmt werden, kennt meine Cousine Alexa nicht. Mit Mitte dreißig kann sie bereits von ihrer Kunst leben und hat nebenbei am Aufbau des Kontaktzentrums mitgewirkt, das vor einem knappen Jahr in Aurich eröffnet wurde. Hier betreut sie vorwiegend die Gruppe der ehemaligen Strafgefangenen.

Das Kontaktzentrum befindet sich in einem Stadthaus aus rotem Backstein in der Wallstraße, einer Nebenstraße der Fußgängerzone. Alexa, die eigentlich in Greetsiel wohnt, verbringt hier so viel Zeit, dass sie sich im Erdgeschoss ein Atelier eingerichtet hat, um ihren Eingebungen jederzeit nachgehen zu können, wenn die Muse sie küsst.

Ich durchschritt den Eingangsbereich, klopfte an die Tür zu Alexas Arbeitszimmer und öffnete sie, ohne auf eine Antwort zu warten. Es roch nach Ölfarben, Alexa stand mit dem Rücken zu mir vor der Staffelei und arbeitete an einem Gemälde. Sie erwiderte meine Begrüßung, ohne den Blick von ihrer Arbeit zu lösen. Ihre schwarzen Haare waren am Hinterkopf zu einem Knoten gedreht, den sie mit einem eingesteckten Pinsel fixiert hatte.

Mein Blick glitt über ihre Schulter zur Leinwand. Das Bild zeigte einen bulligen nackten Glatzkopf, dessen Geschlechtsteil von einem Feigenblatt bedeckt wurde. Ich sah an der Leinwand vorbei und entdeckte Henry, einen der ehemaligen Strafgefangenen, den Alexa unter ihre Fittiche genommen hatte. Er stand für dieses Bild Modell.

Nackt. Ohne Feigenblatt.

»Himmel!«, entfuhr es mir.

»Tu nicht so, als hättest du noch nie einen nackten Mann gesehen.« Alexa tupfte etwas Farbe auf ihren Pinsel und fügte eine Schattierung auf dem Gemälde hinzu.

»Moin!«, grüßte Henry freudestrahlend. Dass ich seinen Schwengel direkt im Visier hatte, schien ihn nicht zu stören.

»Warum trägt Henry kein Feigenblatt wie auf dem Gemälde?«

»Er hat immer so einen entspannten Gesichtsausdruck, wenn er sich völlig frei macht. So ist es für uns beide einfacher, schließlich beschäftige ich mich erst seit Kurzem mit der Aktmalerei.«

Von Entspannung war ich meilenweit entfernt. Natürlich habe ich gegen den Anblick eines nackten Mannes grundsätzlich nichts einzuwenden, aber einen zweiten Blick auf Henry musste ich nicht unbedingt riskieren. Ich bewunderte also die Bücher in Alexas Regal und tat so, als verstünde ich irgendetwas von dem, was die Buchrücken anpriesen. Wer wusste schon, wodurch Impressionismus und Expressionismus sich unterschieden? Ein paar unterschiedliche Buchstaben, sonst nichts.

Henry war Alexas Muse. Nicht mehr und nicht weniger, das hatte sie geschworen. Allerdings hatte sie auch geschworen, niemals Alkohol zu trinken, und vor nicht allzu langer Zeit hatte ich sie mit einem heftigen Kater erlebt.

»Ich kann gern später wiederkommen«, sagte ich.

»Nicht nötig, wir sind für heute fertig.« Alexa stellte ihre benutzten Gerätschaften in ein Glas mit klarer Flüssigkeit, die sich daraufhin grau verfärbte, zog den Pinsel aus ihrem Haarknoten und schüttelte ihr Haar.

Henry verschwand mit seinem Pinsel hinter einem weißen Paravent. Eigentlich unnötig, es gab ohnehin nichts mehr zu verbergen, er hätte sich auch gleich vor unseren Augen anziehen können.

Nachdem er in seine Klamotten gehüpft war, verabschiedete er sich mit einem Wangenküsschen von Alexa und ging seiner Wege.

»Warum auf einmal Aktmalerei?«, fragte ich.

Alexa wischte sich die Hände an einem farbbeklecksten Tuch ab. »Hör bloß auf, eigentlich ist das gar nicht mein Ding, aber es ist die einzige Möglichkeit für mich, Henry nackt zu sehen, ohne ihm dabei zu nahe zu kommen.«

»Ist das nicht ein bisschen albern? Ich bin mir ziemlich sicher, dass er auch auf dich steht.«

Alexa seufzte. »Das ist ja das Problem. Eine Muse bringt nur dann etwas, wenn sie unerreichbar ist und es auch bleibt. Sobald man seinen Gelüsten nachgibt, war’s das mit der Inspiration.«

Zum Glück hatte ich diese Probleme als Schriftstellerin nicht. Zwar stellte ich es mir gelegentlich ganz hilfreich vor, eine solche Inspirationsquelle zu haben, aber es hörte sich zugleich nach einer Menge Drama an, und dafür bin ich nicht der Typ. Überdies war ich seit einem halben Jahr in festen Händen.

Phil Winter, dem diese Hände gehörten, rangierte auf der Liste der wichtigsten Männer in meinem Leben auf einem soliden zweiten Platz gleich hinter meinem Kater O’Malley. Phil lebte in München, aber wir besuchten uns, so oft es ging und wann immer sein Job als Polizist es zuließ. Wie genau es mit uns weitergehen würde, wussten wir noch nicht. Ich war mir sicher, nicht für das Leben in den Bergen geschaffen zu sein, und Phil befürchtete, auf dem platten Land langfristig einen Koller zu kriegen.

»Aber du bist sicher nicht hier, um mit mir über mein nicht vorhandenes Liebesleben zu sprechen«, sagte Alexa. »Also, was führt dich zu mir, Cousinchen?«

Ich berichtete ihr zunächst von Hans Lemkes Zusammenbruch und schlug dann einen Bogen zu meinem Anliegen. »So bin ich beim Ostfriesland-Reporter gelandet und schreibe jetzt eine Artikelserie über Ostfrieslands Persönlichkeiten.«

»Wen hast du für deinen ersten Artikel im Sinn?«

»Dich natürlich. Du bist doch Ostfrieslands berühmteste Künstlerin.« Und die einzige, die ich kannte, aber das behielt ich für mich.

»Schätzchen, wenn du über eine wirklich bedeutende hiesige Künstlerin schreiben willst, solltest du mit Violetta Kalski anfangen.«

»Nie gehört.«

»Sie ist so ziemlich das Beste, was unsere Kunstszene jemals hervorgebracht hat.« Alexa deutete auf ein gerahmtes Bild an der Wand zu ihrer Linken. »Das Gemälde von Violetta Kalskis Arbeitszimmer hat mich ein Vermögen gekostet. Das hier ist allerdings nur ein Kunstdruck, das Original hängt in meinem Atelier in Greetsiel.«

Das Gemälde sah nett aus, aber warum Alexa so einen Wirbel darum machte, erschloss sich mir nicht. Wahrscheinlich fehlte mir einfach der entsprechende Kunstsinn. Ich sah nur ein Zimmer mit Holzdielen, links, rechts und geradeaus jeweils eine Tür, in dem sich bis auf einen Tisch mit zwei Holzstühlen nur eine Staffelei befand. Das Gemälde musste von der Fensterseite aus gemalt worden sein, denn aus dem Blickwinkel des Betrachters fiel Tageslicht in den Raum. Auf der Staffelei war ebendieser Anblick, der sich mir gerade bot, auf die Leinwand gebannt worden. Sozusagen ein Bild im Bild. Ich trat einen Schritt näher heran, um die Signatur zu entziffern, und stellte fest, dass das Gemälde vor dreiundvierzig Jahren entstanden war.

»Wie alt ist Violetta Kalski jetzt?«, fragte ich.

Alexa überlegte kurz. »In ihren Achtzigern.«

»Ich glaube nicht, dass sie zu den Persönlichkeiten gehört, die mein neuer Chef im Sinn hatte. Du kennst ja den Ostfriesland-Reporter, je reißerischer, desto besser. Darum wollte ich über deine Arbeit mit den Knastbrüdern schreiben.«

»Reißerisch ist das geringste Problem«, sagte Alexa. »Wenn ein Leben tragisch verlaufen ist, dann das von Violetta Kalski. Ihr Sohn wird seit vierzig Jahren vermisst. Ohne die geringste Spur.«

Ich horchte auf. »Das hört sich allerdings nach einer interessanten Geschichte an. Gibt es eine Vermutung, was mit ihm passiert sein könnte?«

»Er war ein Lebemann und Frauenheld, alle Welt geht davon aus, dass er sich ins Ausland abgesetzt hat. Davon hatte er wohl schon länger gesprochen. Nur seine Mutter will bis heute nichts davon hören.«

»Sie wohnt nicht zufällig hier in Aurich, oder? Dann könnte ich ihr gleich mal einen spontanen Besuch abstatten.« Ich kannte mich und meine Arbeitsweise. Ich bin eine Meisterin darin, Dinge aufzuschieben. Steuererklärung? Da räume ich doch lieber die Wohnung auf. Wohnung aufräumen? Erst mal die alten Zeitschriften durchsehen, ob ich etwas Wichtiges überlesen habe. Ein Teufelskreis. Wenn ich nicht so schnell wie möglich mit der Artikelserie begann, würde ich am Ende wieder unnötig unter Zeitdruck stehen.

Alexa dachte kurz nach. »Sie hat tatsächlich eine Villa hier in Aurich, in der Graf-Enno-Straße. Aber soweit ich weiß, lebt sie seit zwei oder drei Jahren in der großen Seniorenresidenz in Norddeich. Du weißt schon, dort, wo die ganzen Promis ihren Lebensabend verbringen. Die Nordsee liegt sozusagen in ihrem Garten.« Sie bekam einen schwärmerischen Gesichtsausdruck, der jedoch nicht der Nordsee galt. »Ich wollte sie immer schon mal kennenlernen, aber sie hat sich schon vor Jahren aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Es gab einfach nie den passenden Anlass, um ihr einen Besuch abzustatten.«

»Heißt das, du willst mich begleiten?«

»Natürlich. Diese Gelegenheit lasse ich mir doch nicht entgehen.«

In Gedanken überschlug ich meine Planungen für den heutigen Tag. Nach Norddeich brauchten wir pro Strecke ungefähr eine halbe Stunde. Ich konnte es also noch locker abends zu meinen Eltern schaffen, um mit ihnen über Hans Lemkes Zusammenbruch zu sprechen.

Alexa hatte unterdessen ihre Handtasche gepackt und war zum Aufbruch bereit. »Ich bin fertig, meinetwegen können wir gleich losfahren. Oder willst du dich noch weiter an Henrys Anblick auf der Leinwand ergötzen?«

Die »Residenz am Meer« war nur durch den Deich von der Nordsee getrennt, ein weißes, L-förmiges Gebäude mit rotem Ziegeldach und unzähligen Fenstern erstreckte sich vor uns. Alexa und ich passierten auf unserem Weg zum Eingang einen imposanten Springbrunnen vor dem Gebäude und fanden uns kurz darauf in einer Eingangshalle wieder, die nicht im Mindesten an ein Altersheim erinnerte, eher an eine Hotellobby.

Eine schlanke Blondine mit hohem Pferdeschwanz und Blazer über der weißen Bluse stand hinter einem Tresen und lächelte uns verbindlich entgegen. »Guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?«

»Wir möchten zu Violetta Kalski«, sagte Alexa.

»Sind Sie angemeldet?«

Ich warf Alexa einen Blick zu. Daran hätten wir denken sollen. Natürlich lebten in der »Residenz am Meer« keine Normalsterblichen, da ließ man nicht jeden x-beliebigen Besucher ohne Anmeldung herein.

Alexa lächelte einnehmend und stellte uns vor. »Leider sind wir nicht angemeldet, aber ich bin Künstlerin wie Frau Kalski und möchte sie sozusagen berufsbedingt sprechen.« Sie legte eine ihrer Visitenkarten auf den Tresen.

»Ich frage nach, ob sie Sie empfangen möchte. Einen Moment bitte.« Die Blondine schlug ein Telefonregister unter »K« auf und fuhr mit dem Finger suchend über die Namensliste. Sie wählte eine Nummer und teilte der Angerufenen unser Anliegen mit. »Frau Kalski empfängt Sie. Folgen Sie bitte diesem Flur bis zum Ende und biegen Sie dann links ab.« Sie wies nach rechts in einen breiten Gang. »Es ist die dritte Tür hinter dem Salon, unserem Gesellschaftszimmer. Nummer hundertachtzehn.«

Wir setzten uns in Bewegung. Ich hatte noch nie in meinem Leben ein Altersheim von innen gesehen, aber ich war mir sicher, dass dieses nicht der Norm entsprach. An den strahlend weißen Wänden hingen Bilder von Künstlern, deren Namen Alexa mir im Vorbeigehen zuraunte, edle Sitzmöbel boten in regelmäßigen Abständen Gelegenheit zum Ausruhen, und die Zimmertüren verfügten über Spione, unter denen sich messingfarbene Türklopfer befanden.

»Hier könnte ich es aushalten«, sagte ich zu Alexa. »Vielleicht sollte ich die Augen nach einem einsamen Witwer offen halten.«

»Du hast doch Phil. Und außerdem sind hier keine Haustiere erlaubt, was wird dann aus O’Malley?«

Und sofort zerplatzte der Traum wieder. Auf meinen Kater würde ich für nichts und niemanden verzichten. Er kennt mich in so vielen beklagenswerten Zuständen wie kein Mensch auf dieser Welt. Allein die Tatsache, dass er sich jeden Morgen freut, mich zu sehen, rechne ich ihm hoch an, denn ich biete nach dem Aufstehen wirklich keinen schönen Anblick.

Wir schritten am Salon vorbei, vor der Tür zu Zimmer hundertachtzehn blieben wir stehen.

»Himmel, bin ich aufgeregt!« Alexa atmete tief durch, um sich zu beruhigen, aber sie konnte kaum stillstehen. »Darf ich bitte klopfen?«

»Tu dir keinen Zwang an.«

Mit zittrigen Fingern betätigte sie den Klopfer. Als hätte sie etwas gestochen, zuckte sie zurück. »Oh mein Gott, ich habe an Violetta Kalskis Tür geklopft.«

»Starke Leistung.«

Hinter der Tür regte sich nichts. Zumindest nichts, was wir hier draußen hätten hören können. Sie wirkte so schwer und massiv, dass sie wahrscheinlich alle Geräusche schluckte, die sich dahinter abspielten.

Nach einer halben Minute wurde die Tür geöffnet, und wir standen einer hochgewachsenen, schlanken Frau gegenüber, die uns mit missbilligendem Blick musterte. Ihre Haare waren zu einem strengen Dutt zusammengebunden, und ihre aufrechte Körperhaltung erinnerte an eine Ballettlehrerin. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass sie einen schwarzen Rollkragenpulli trug, der eng an ihrem Oberkörper anlag. Ich konnte dem Impuls, einen Knicks zu machen, gerade noch widerstehen.

»Violetta Kalski«, hauchte Alexa.

»Alexa«, stellte Violetta Kalski nüchtern fest. »Treten Sie ein.« Sie wies in das Innere ihrer Wohnung, und wir folgten ihrem Wink.

»Sie kennen mich?« Alexa legte sich die Hand aufs Herz.

»Ich verfolge Ihre Arbeit seit Jahren. Besonders Ihre jüngsten Werke gefallen mir.«

Alexa verfügt über eine bemerkenswerte Selbstbeherrschung. Sie wird nicht laut, bekommt keine unschönen Hautrötungen, wenn sie aufgeregt ist, und ich glaube, sie kann sogar ihre Transpiration kontrollieren. Bei diesen Worten lief ihr Gesicht jedoch rosa an.

Violetta Kalski deutete auf eine Sitzgruppe unterhalb eines Fensters. »Setzen Sie sich bitte. Frau Grevers vom Empfang sagte, Sie möchten mich beruflich sprechen?«

Das war mein Stichwort. »Genau genommen möchte ich Sie sprechen. Oder besser: interviewen. Ich arbeite als Gastautorin für den Ostfriesland-Reporter und schreibe derzeit eine Artikelserie über Ostfrieslands Persönlichkeiten.«

»Und Sie sind?« Die Künstlerin zog die Augenbrauen hoch und sah mich abschätzend an. »Ihr Name ist leider nicht hängen geblieben.«

»Eleonore Vogel«, sagte ich, in der Hoffnung, dass mein vollständiger Name mir mehr Autorität verleihen würde.

»Vogel? Soso. Und da dachten Sie sich, Sie fahren mal zur Kalski ins Altersheim und sehen ihr beim Sterben zu.«

»Nein, ich wollte doch nur –«

»Schon in Ordnung.« Sie winkte ab.

»Warum leben Sie in dieser Residenz?«, fragte ich. »Sie wirken auf mich nicht so, als bräuchten Sie Hilfe.«

Violetta Kalski presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Ich leide unter schwerer Arthrose und bin nicht mehr in der Lage, meinen Haushalt selbst zu führen. Ich kann nicht einmal mehr einen Pinsel halten.« Ein bitterer Zug legte sich um ihren Mund, als sie ihre Hände hob, deren Finger krallenartig gekrümmt und verformt waren.

»Oh. Das tut mir leid. Haben Sie Ihr Haus verkauft?«, fragte Alexa.

»Nein, aber ich werde nicht dorthin zurückkehren. Die Erinnerung ist zu schmerzlich.«

»Die Erinnerung an Ihren Sohn?«, fragte ich.

Alexa machte auf ihrem Sessel wilde Gesten, die mir sagen sollten, dass Violetta Kalski sich mit dem Kommentar wohl eher auf ihre aktive Künstlerzeit bezogen hatte, aber es war zu spät, die Frage war schon rausgeflutscht.

»Sind Sie hierhergekommen, um mich über meinen Sohn auszufragen? Dann können Sie gleich wieder gehen.«

»Nein, entschuldigen Sie bitte.« Wie sollte ich da nur wieder rauskommen? Politiker hatten es leichter. Sie distanzierten sich einfach von ihrer Aussage, und die Sache war gegessen. »Fangen wir noch mal von vorne an.« Ich atmete tief durch und sortierte meine Gedanken. »Es geht in meiner Artikelserie um die Erfolgsgeschichten berühmter Ostfriesen und was diese Personen heute machen.«

Violetta Kalski schien besänftigt. Sie ließ sich zu ein paar Sätzen über ihre frühen Jahre hinreißen. Schon im Teenageralter hatte sie sich mit der Malerei beschäftigt, in ihren Zwanzigern war ihr der große Durchbruch gelungen. Sie führte ein ausschweifendes Leben, sowohl in Aurich wie auch in ihrer zweiten Heimat Hamburg, und unterhielt Kontakte zu vielen Prominenten, von denen nicht wenige aus dem Rotlichtviertel rund um die Reeperbahn stammten. Die Nachkommen einiger dieser Nachtclubbonzen waren noch heute im Besitz ihrer Bilder.

Sie gab nicht viel über ihr Privatleben preis. Zwar boten mir ihre Kontakte zum Rotlichtmilieu einiges, um einen Artikel ganz in Martin Jägers Sinn zu schreiben, aber die wirklich interessante Story lag im Verschwinden ihres Sohnes Andreas.

Ich beschloss, mich langsam heranzutasten. »Haben Sie jemals geheiratet?«

»Ich war mit meiner Kunst verheiratet.«

»Es gab keinen Lebensgefährten?«

Violetta Kalski verdrehte die Augen und stieß ein theatralisches Seufzen aus. »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Also gut, Sie können mir eine Frage über Andreas stellen. Eine einzige.«

»Es heißt, dass Sie nicht glauben, Ihr Sohn habe sich ins Ausland abgesetzt. Was ist Ihrer Meinung nach mit ihm passiert?«

»Er ist tot.«

»Warum glauben Sie das?«

»Sie haben Ihre Frage gestellt.«

»Das stimmt. Wenn Sie mir jedoch erlauben würden, diesen Aspekt in meinem Artikel aufzugreifen, könnten Sie dadurch Ihre Version der Geschichte verbreiten.« Mir wurde bewusst, dass ich mich fast wie Martin Jäger anhörte, und ich schwieg betroffen.

»Bitte gehen Sie jetzt.« Violetta Kalskis Gesicht war verschlossen, mit einer unwirschen Handbewegung deutete sie zur Tür.

»Aber wir haben noch gar nicht über die weiteren Punkte des Artikels gesprochen.«

»Ich habe es mir anders überlegt, es wird keinen Artikel geben.« Sie sagte das so bestimmt, dass ich mich nicht traute, etwas zu erwidern.

Mit Alexa im Schlepptau schlich ich zur Tür und trat auf den Flur. Die Wohnungstür knallte hinter uns ins Schloss, was angesichts der Tatsache, dass sie überaus schwer und die Künstlerin unglaublich zerbrechlich wirkte, eine reife Leistung war.

»Tut mir leid«, sagte ich zu Alexa.

Meine Cousine starrte geistesabwesend zur Tür. »Sie kennt mich. Sie kennt meinen Namen und meine Kunst. Ist das nicht großartig?«

»Dir ist aber schon aufgefallen, dass sie uns gerade rausgeschmissen hat, oder?«

»Du bist aber auch wirklich keine angenehme Interviewpartnerin. Meinst du echt, dass das der richtige Job für dich ist?«

»Das wirst du mir bald sagen können, du bist nämlich soeben zur Hauptperson meines Artikels befördert worden. Der erste Gedanke ist eben doch der beste.«

Der falsche Friese

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