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Julias letzte Zweifel versanken zusammen mit dem weichen Schaum ihres nach Aprikosen duftenden Duschgels im Abflussrohr. Die Vorfreude wuchs und ihre Gedanken kreisten mehr und mehr um das bevorstehende Treffen. Der Wetterbericht sprach von einem warmen Tag und milden Nachttemperaturen. Der ideale Abend für ein Fest. »Was zieh ich an? Lässig oder elegant? Hose oder das neue Kleid? »Natürlich das neue Kleid!«, sagte sie laut, »deswegen habe ich es doch gekauft!«

»Du siehst toll darin aus!«, hatte Roman bewundernd gesagt und toll aussehen wollte sie heute Abend auf jeden Fall. Wenn schon alleine, dann wenigstens nicht wie ein graue Maus.

Zufrieden schlüpfte sie nur wenig später in die engen weißen Jeans und zog eine bunte Tunika über. Es war ein bequemes und trotzdem schickes Outfit für die etwa dreistündige Autofahrt. Anschließend legte Julia ein wenig MakeUp auf und band die noch feuchten Haare zu einem Zopf zusammen. Lag es an der Frisur, dass sie sich mit einem Mal so jung und voller Tatendrang fühlte?

Obwohl es schon auf Mittag zuging, packte Julia ohne Eile ihre Reisetasche und nahm schließlich das neue Kleid samt Bügel vom Kleiderschrank. An der Tür hielt sie noch einmal kurz inne. Sie hatte ein wenig Bargeld eingesteckt und die Kreditkarte; der Ausdruck der Hotelreservierung lag in der Tasche, ebenso das Ladekabel für ihr Handy. »Ich glaube, ich habe alles«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Dann geh' endlich «, antwortete es. »Mach ich!“«

Julia war jetzt fest entschlossen, sich bestmöglich zu amüsieren und das Wiedersehen mit den alten Freunden zu genießen. Was war wohl aus Christian geworden, der in der Pause gerne mal einen Joint rauchte, weil das angeblich seinen Geist befreite? Ob er mittlerweile ein Spießer geworden war? Oder doch unter einer Brücke hauste, wie Lehrer und Mama es prophezeit hatten?

Oder aus Rebecca ? Außer ein paar wenigen banalen Sätzen per Mail wusste sie nichts mehr über ihre ehemalige beste Freundin. Damals saßen sie in viele Kursen nebeneinander und waren auch abends oft zusammen losgezogen. Rebecca war ein kluger Kopf: Sie musste selten richtig lernen – ihr flogen die guten Noten einfach zu. »Du kriegst bestimmt mal den Nobelpreis!«, war Julia überzeugt gewesen. Aber Rebecca hatte nur abgewunken und gelacht. Sie träumte sich schon in der zehnten Klasse lieber ein Leben mit Mann, vielen Kindern und einem Rosengarten. »Ich liebe Rosen und werde Rosenzüchterin«, hatte sie regelmäßig geantwortet, wenn sie nach ihren Zukunftsplänen gefragt worden war.

Julia schüttelte verwundert den Kopf. Sie hatte die ganzen Jahre nicht ein einziges Mal an Rebecca oder die anderen gedacht. Und jetzt kamen so viele Erinnerungen. Wie aus dem Nichts tauchten sie auf, als wäre ein Tor geöffnet worden, hinter dem sich die Vergangenheit versteckt gehalten hatte.

***

Der Motor heulte gequält auf, als Julia das Gaspedal fast bis zum Bodenblech durchtrat. Der Wagen machte einen Satz nach vorne, der Motor soff ab. »Mist!«, fluchte Julia. Der Kleine würde sie doch wohl nicht ausgerechnet heute im Stich lassen? Das Vergnügen wollte sie Roman nun wirklich nicht gönnen. »Komm, mein Schatz«, murmelte sie beschwörend und strich mit einer sanften Handbewegung über Lenkrad und Armaturenbrett, »ich brauch dich und ich zähl' auf dich.« Sie startete erneut, der Motor gluckerte leise und gleichmäßig. Julia hauchte ein Danke und legte krachend den ersten Gang ein. Dann brauste sie davon.

Sie schaltete das Radio an und sang gut gelaunt mit. Roman war von ihren Sangeskünsten eher wenig begeistert, weswegen sie bei gemeinsamen Fahrten meist nur sehr verhalten mitsummte. »Aber Roman ist ja nicht hier! Roman hat ein wichtiges Meeting mit den Spaniern«, meinte sie lapidar und drehte Radio und Stimme noch ein bisschen mehr auf.

Im selben Moment schoss wie aus heiterem Himmel ein Fahrradfahrer aus der Seitenstraße heraus. Für den Bruchteil einer Sekunde begegneten sich ihre Blicke. Julia schrie entsetzt auf und stieg mit aller Macht auf die Bremse. Das Heck des kleinen Stadtflitzers brach aus, die Reifen rutschten quietschend über den Asphalt. Julias Hände krallten sich um das Lenkrad, ihr Herz raste. Jeden Moment erwartete sie den Zusammenstoß. Als der Wagen endlich zum Stehen gekommen war, riss Julia die Tür auf und sprang auf die Straße. Der erste Blick ging unter den Wagen. War der Radfahrer unter die Räder gekommen? Nein, stellte sie erleichtert fest, nur um sich im gleichen Moment zu fragen, wo er denn sonst wohl abgeblieben war.

Das Schlimmste befürchtend ging sie langsam um den Wagen herum.

»Suchen Sie den Fahrradfahrer? Der ist weg!« Auf einem Balkon stand eine ältere Dame. Ihr geblümter Morgenrock leuchtete in einem grellen Pink, die Haare waren auf große Wickler gedreht. »Aber ich hab' alles gesehen. Falls …«

»Danke«, Julia nickte der Frau knapp zu, »das wird wohl nicht nötig sein.« Mit weichen Knien und am ganzen Leib zitternd setzte sie sich wieder hinter das Steuer. Als sie aus dem Blickfeld der Alten verschwunden war, fuhr sie rechts ran, stellte den Motor ab und legte den Kopf aufs Lenkrad. Das Zittern wollte nicht aufhören und ihre Brust war so eng, dass sie kaum noch Luft bekam. Minutenlang saß sie so da, bis sie sich irgendwann mit einem tiefen Seufzer aufrichtete. Bis jetzt war das heute definitiv nicht ihr Tag. Man konnte fast glauben, eine höhere Macht wollte sie von diesem Klassentreffen fernhalten. »Das ist doch absoluter Quatsch!« schimpfte Julia sofort ins Leere. »Einfach ausgemachter Unsinn! Welches Interesse sollte bitte eine höhere Macht daran haben?«

Sie atmete dreimal hintereinander tief durch die Nase ein und mit einem deutlichen pfffffffffff durch den Mund wieder aus. »Lass die Lippen vibrieren«, hörte sie Guru Sri Rami aus Mumbai sagen. Guru Sri Rami, für dessen Vortrag »Reise zu deiner Seele« Sonja ungefragt Karten besorgt und ein kleines Vermögen ausgegeben hatte; Guru Sri Rami, der eigentlich Karl-Heinz hieß und aus Bottrop stammte, wie sich später herausstellen sollte; Guru Sri Rami, ein Scharlatan, der ihnen einen wunderbar lustigen Abend beschert hatte. Alles Humbug, aber das mit dem dreimal Atmen, das half tatsächlich.

Auch jetzt wieder. Das Zittern ebbte ab, frischer Sauerstoff strömte durch ihren Körper und verscheuchte die dummen Gedanken in ihrem Kopf.

Alle guten Dinge sind drei! Julia startete erneut ihr Auto und sparte dabei nicht an Streicheleinheiten und guten Worten. Vorsichtig manövrierte sie zurück auf die Straße. Ab jetzt würde ihr hoffentlich nichts mehr in die Quere kommen und sie nichts mehr aufhalten.

Das Beinaheunglück mit dem Fahrradfahrer rückte mit jedem gefahrenen Kilometer ein bisschen mehr in den Hintergrund, die gute Laune kehrte in gleichem Maße zurück. »Liebe ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler, sehr geehrte anwesende Lehrerinnen und Lehrer! Ich freue mich …«

»Verdammt, wo ist die Zeit geblieben?«, ging es Julia durch den Kopf. Zwanzig Jahre und siebzehn davon mit Roman. In einem Biergarten waren sie sich das erste Mal begegnet. Sie war mit einer Kommilitonin unterwegs gewesen, er mit Freunden. Die Jungs hatten schon das ein oder andere Bier getrunken, waren laut und ziemlich übermütig. »Welch Glanz in unserer Nähe!«, meinte einer von ihnen, als Julia und ihre Freundin sich durch die Tischreihen drängelten. »Mädels, trinkt ihr einen mit?« Sie hatte ablehnen wollen, da war ihr Roman aufgefallen. Halb entschuldigend, halb bittend hatte er sie angesehen mit seinen strahlenden, eisblauen Augen. Sie hatte sich augenblicklich in ihn verliebt. Später am Abend gestand er ihr, dass es ihm genauso gegangen war. »Ich hätte mich vor dir in den Staub geworfen, wenn ihr unsere Einladung abgelehnt hättet«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich glaube – ach was, ich weiß es: Du bist meine Traumfrau!«

»Wir kennen uns gerade mal drei Stunden«, wiegelte sie damals sanft ab. »Ich habe noch die besten Chancen, dein größter Albtraum zu werden!«

Statt einer Antwort gab er ihr den ersten Kuss. Er schmeckte nach Bier und Sommer. Und in Julias Bauch flatterten aufgeregte Schmetterlinge. Die Welt um sie herum versank in Rosarot.

»Ich hasse Spanien!«, sagte Julia laut und schlug wütend gegen das Lenkrad. Es war so schön gewesen, damals, als sie beide noch am Anfang ihrer Beziehung und ihrer Karrieren standen.

Sie waren nahezu unzertrennlich gewesen. Bereits nach einem viertel Jahr war sie bei ihm eingezogen. Schaute ihm zu, wenn er grübelnd über den Gesetzestexten hing, diskutierte

mit ihm strittige Urteile. Er mimte im Gegenzug den Schüler, kochte ihr einen Tee, wenn sie mitten in den Korrekturen einer Klassenarbeit steckte. Sie kochten gemeinsam und gingen zusammen mit Freunden aus. Sie feierten ihre beruflichen Erfolge und stützten sich in schwierigen Zeiten. Für einander und miteinander - sie waren ein tolles Paar – damals! »Jetzt hör auf mit »es war einmal««, rief Julia sich selbst zur Ordnung. »Das ist ja deprimierend. Schau raus: Die Sonne scheint, der Raps blüht und die Wälder sind noch nicht gestorben.« Außerdem hatte sie Hunger. Die Tasse Tee von heute Morgen hatte die Grenze ihres Maximal-Nährwerts längst abgegeben und gegessen hatte Julia ob des Ärgers am Frühstückstisch auch noch nichts. Unterzucker macht schlechte Laune! Kein Wunder, dass sie ständig an früher dachte.

Julia fuhr den nächsten Rasthof an, gönnte sich eine Tasse Kaffee und ein belegtes Brötchen. Der Salat war welk, die Gurke an den Rändern trocken. Trotzdem hätte es in diesem Moment kaum besser schmecken können. Sie suchte sich einen Platz etwas abseits vom Trubel und hielt das Gesicht in die Sonne. Auch alleine war es schön, einfach nur da zu sitzen und den Augenblick zu genießen. Einen Moment lang schloss sie die Augen, spürte die Sonnenstrahlen auf der Haut und wie sich ihre Muskeln entspannten. Sie stellte sich vor, nicht auf einem Rastplatz, sondern irgendwo im warmen Süden zu sein: Dolce Vita und Eiscreme, danach ein Bad im Meer. Julia seufzte wohlig.

Leider drang der zunehmende Lastverkehr mehr und störend in ihren Tagtraum ein. Schließlich setzte sie sich auf und schaute gelangweilt den an- und abfahrenden Fahrzeugen zu. Da waren alte und beängstigend klapprige Lieferwagen; chromblitzende LKW und ein echter amerikanischer Truck.

Julia winkte einem freundlich hupenden Brummifahrer nach und schaute ein klein wenig wehmütig einer Familie mit zwei kleinen Kindern zu. Irgendwann zwang sie sich energisch, den Blick von dem süßen Baby auf dem Arm der fremden Frau abzuwenden. Sie goss den kalten Kaffee in den Gully und warf den Becher in den Müll. »Frau kann nicht alles haben. Mit so einem kleinen Fratz wärst du jetzt bestimmt nicht auf dem Weg zu deinem Klassentreffen «, tröstete sie sich. »Dann wäre ich eben nicht gefahren! «, gab sie aufmüpfig zurück.

Für einen kurzen Moment erlaubte sie sich, sich ihr Leben als Mama vorzustellen. Ob Junge oder Mädchen wäre egal. Morgens würde sie das Kleine in den Jogger setzen und eine Runde laufen gehen. Sie würde mit ihm spielen und eine dieser Mutter-Kind-Gruppen besuchen, wo man sich traf und plauderte, während die Kinder herumtollten. Roman wäre der perfekte Papa. Weder eine volle Windel noch ein schreiendes Baby brächten ihn aus der Fassung. Geduldig würde er es in den Schlaf wiegen, ihm vorlesen – später das Fahrrad fahren beibringen oder ein Baumhaus bauen. Sie würden ...

Julia fiel die noch ausstehende Nachricht an Roman ein. Damit war sie wieder in der Gegenwart angekommen. Dort, wo es kein gemeinsames Kind gab und Roman vor lauter Arbeit nicht einmal Zeit für sie oder Freunde hatte. Wo eine Familie Baker beinahe so unvorstellbar war wie Frieden für alle oder Strom ohne Atomkraftwerke.

Lustlos kramte sie das Handy aus der Tasche. “Hallo Roman, bin auf dem Weg zum Klassentreffen. Bin morgen Abend zurück. Sonja hat angeboten, dich zum spanischen Dinner zu begleiten. Gönn' ihr den Spaß und sei nett zu ihr. Gruß Julia“

»Nicht gerade liebevoll und romantisch«, resümierte sie beim Drüberlesen und war kurz versucht, wenigstens noch ein Herzchen oder ein Grinsegesicht einzusetzen. Irgendwie hatte sie ein schlechtes Gewissen. Vor einer Stunde war da noch so viel Trauer gewesen um die verlorenen romantisch-schönen alten Zeiten und jetzt gab sie sich selbst beinahe unpersönlich und sehr distanziert. »Es braucht immer zwei«, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren. Julia schluckte. Es musste sich etwas ändern, soviel war klar. »Aber nicht heute!« Sie drückte auf senden und schaltete das Telefon aus. »So, ich bin dann mal weg!«, sagte sie leise. Weg auf einem Ausflug zurück in eine Zeit, da die Probleme Matheklausur und ungespitzer Kajalstift hießen und nicht Roman und Beziehungskrise.

***

Die Autobahn war wenig befahren. »Ungewöhnlich für einen Ferien-Freitag«, dachte Julia, »aber mir soll es recht sein.« Vermutlich waren meisten Urlauber schon in der Nacht auf die Reise gegangen. Jetzt teilte sie sich die dreispurige Autobahn mit wenigen LKW, die auf der rechten Spur in einer Art Kolonne unterwegs waren, ein paar Campingwagen auf dem Weg an die See und dem ein oder anderen Kleintransporter, der eilig an ihr vorbeizog.

Julia genoss den Blick über gelb leuchtende Rapsfelder und grünen Waldgebiete. Schade nur, dass sie allein unterwegs war und die Begeisterung für so viel Schönheit mit niemandem teilen konnte.

»Das hat mir gerade noch gefehlt.« Eilig drückte Julia den aktuellen Sender weg. »Dich, mein lieber Enrique, will ich jetzt ganz bestimmt nicht hören. Deine Landsmänner haben meinen Plan von einer gemeinsamen Tour mit Roman aufs Übelste durchkreuzt. Wären die wie geplant gekommen, dann säße mein Mann, der sich diese beiden Tage extra freigenommen hat, nämlich jetzt neben mir.« Auf halber Strecke wären sie abgefahren und hätten sich abseits der Autobahn ein ausgiebiges zweites Frühstück gegönnt. Dabei hätte sie ihm, sozusagen zur Einstimmung auf das Klassentreffen, ein paar Anekdoten erzählt von damals, als sie kurz vor dem Abitur stand: Von Oberstudienrat Kramer, der Latein so gut sprach wie Deutsch und Alt-Griechisch; von Dr. Kriegesbaum, der seinem Namen alle Ehre machte und von den Schülern hinter vorgehaltener Hand »Dr. Friedenseiche« genannt worden war. Sie hätte Frau Dr. Bach, die Biologielehrerin, die jedes Mal einen roten Kopf bekam, wenn es um Sexualität und Fortpflanzung ging, erwähnt und ihm vielleicht sogar von Sebastian erzählt, dem Jungen, in den sie lange verliebt gewesen war, ohne dass der jemals davon erfahren hatte. Sie hätte von rückblickend gar nicht so wilden Feten gesprochen, geschwänzten Seminaren oder Rebeccas angeblicher Schwangerschaft sieben Wochen vor dem Abiturtermin, die sie völlig panisch hatte werden lassen.

Ja, es hätte viel zu erzählen gegeben. »Hätte, wenn ... Es ist, wie es ist!«, seufzte Julia und verscheuchte die wehmütigen Gedanken mit einem breiten Grinsen in den Rückspiegel. »Ich erzähle es ihm morgen. Oder wenn die Spanier wieder weg sind.« Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass Roman bis zum Ende der Verhandlungen mit seinen Gedanken nicht bei ihr und ihren Geschichten sein würde. Da gingen ihm nur wirklich wichtige Dinge durch den Kopf und für ein paar abstruse Storys aus der Vergangenheit wäre weder Platz noch Muße.

Auch Schmetterlinge können sterben

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