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Henri, der Schneemann

Auf der Wiese vor dem großen Wohnblock in der Mozartstraße bauten die Kinder einige Tage vor Weihnachten einen dicken Schneemann und nannten ihn Henri. Sie setzten ihm einen zerbeulten Hut auf, gaben ihm Augen, Nase, Mund und schenkten ihm zum Schluss noch einen alten Spazierstock. Stolz begutachteten sie ihr Werk und waren zufrieden damit. Sie tanzten ausgelassen um Henri herum und sangen ein paar Lieder dazu. Als der Nachmittag vorbei war und die Dunkelheit hereinbrach, wünschten die Kinder Henri eine gute Nacht und verschwanden im Wohnblock.

Nun stand Henri allein im Schein der Straßenlaternen auf der großen, verschneiten Wiese. Überall in den Häusern wurden Lichter angezündet und um ihn herum wurde es immer ruhiger. Seine Augen blickten zum sternenklaren Himmel und der Mond lächelte zu ihm herunter. So verstrich Stunde für Stunde und Henri stellte fest, dass ihm die Nacht überhaupt nicht gefiel. Keine Menschenseele war unterwegs und auf der Straße fuhr nur hin und wieder ein einsames Auto vorbei. Es war, als wäre die Welt ausgestorben. Henri konnte den nächsten Tag kaum erwarten und er hoffte, dass die netten Kinder wieder zu ihm kämen und um ihn herumtanzen würden. Das hatte ihm sehr gefallen.

Aber Henri wurde enttäuscht. Am nächsten Morgen sah er zwar die Kinder aus dem Haus stürmen, aber sie schenkten ihm keine Beachtung. Sie stapften an ihm vorbei, plapperten und zogen Schlitten hinter sich her. Traurig schaute sich Henri um. Menschen liefen eilig die Straße entlang, aber keiner warf einen Blick zu ihm herüber. Als er jedoch ein paar lachende Kinder hörte, hoffte er, dass sie zu ihm kämen und um ihn herumtanzten. Doch er wurde enttäuscht. Niemand wollte ihn, keiner beachtete ihn, weder an diesem Tag noch am nächsten und übernächsten. Plötzlich mochte Henri auch die Tage nicht mehr.

In der vierten Nacht seines Schneemanndaseins kam Henri zu dem Entschluss, dass er sich ein neues Zuhause suchen musste, eines, in dem er nicht mehr so einsam war. Als der Mond direkt über ihm stand, begann Henri seine Wanderschaft.

„Wo willst du denn hin, Henri?“, fragte der Mond.

„Ich weiß es nicht. Dorthin, wo man nicht achtlos an mir vorübergeht. Ich möchte nicht allein sein. Weißt du keinen Platz?“

„Nein, Henri. Tut mir wirklich leid. Wenn ich in der Nacht scheine, brauche ich meine ganze Kraft dafür. Andererseits muss ich ein wenig auf die Sterne aufpassen, damit sie am Himmel keinen Unfug treiben, verstehst du?“

„Ist schon klar, lieber Mond. Aber du wirst mich doch auf meinem Weg ein Stück begleiten?“

„Das will ich gerne tun, vorausgesetzt, dass mir keine Wolken begegnen, denn ich habe gehört, es soll wieder schneien.“

Henri wanderte ein Stück die Mozartstraße entlang und bog in eine kleine Seitengasse ein. Hier lag der Schnee so dick, dass er nur langsam vorwärtskam. Ab und an riskierte er im Schein einer Laterne einen Blick in einen Garten. Vielleicht stand dort ja ein einsamer Schneemann, dem er Gesellschaft leisten konnte.

Als er wieder einmal stehen blieb, hörte er eine Stimme, die ihn ansprach: „Hey, Schneemann, was willst du denn hier in unserer Straße?“

Henri erschrak, konnte aber niemanden sehen. „Wer bist du?“, fragte er ängstlich.

„Ich bin die Blautanne, schau doch mal nach links, dann kannst du mich im Mondschein sehen.“ Henri wandte den Kopf und sah den großen Tannenbaum an, der teilweise mit Schnee bedeckt war. „Jetzt sehe ich dich. Habt ihr in eurem Garten einen Schneemann?“, fragte er.

„Schneemann? Nein“, antwortete die Tanne. „Die Kinder, die hier wohnen, haben keine Zeit, einen Schneemann zu bauen oder Schlitten zu fahren. Sie müssen viel lernen, gehen in die Musikschule, zum Ballett oder zum Judokurs. Zeit zum Spielen haben die nicht.“

„Schade“, sagte Henri und verabschiedete sich traurig.

„Gute Reise!“, rief ihm die Tanne noch nach.

Eine ganze Weile wanderte Henri weiter. Niemand begegnete ihm, nur der Mond am Himmel war sein treuer Begleiter. Und wiederum stellte der Schneemann fest, dass er die Nacht überhaupt nicht mochte.

Mittlerweile hatte er das Dorf hinter sich gelassen. Sein Weg führte ihn jetzt über Wiesen und Felder. Kalter Wind blies um seinen Kopf und er fürchtete um seinen Hut.

„Henri“, rief ihm der Mond zu. „Es schneit bald, ich kann es riechen. Wolken kommen auf uns zu und werden mich bald bedecken. Dann ist es sehr dunkel auf der Erde.“

„Ich kann hier bis morgen warten und dann weitergehen“, schlug Henri vor.

„Wenn es die ganze Nacht hindurch schneit, kommst du vielleicht morgen nicht mehr von hier fort, weil du feststeckst“, meinte der Mond. „Gleich kommt der Wald, vielleicht findest du dort ein neues Zuhause. Beeil dich, die Wolken sind nicht mehr fern.“

Henri marschierte weiter. Als er die ersten Bäume erreichte, verschwand der Mond hinter Wolken und es fing an zu schneien. Nun war Henri ganz auf sich allein gestellt und ging im Dunkeln weiter. Er nahm seinen Spazierstock und pendelte damit vor sich her, damit er über kein Hindernis stolperte. Er fühlte sich einsamer denn je und wurde von Minute zu Minute trauriger. Hier würde er keine Freunde finden.

Als Henris Verzweiflung am größten war, hörte es auf zu schneien und er sah, wie aus der Ferne ein Licht auf ihn zueilte. Direkt vor ihm hielt ein großer Schlitten an. Darin saß ein Wesen, das von einem goldenen Lichtschein umgeben war, und sprach ihn an: „Lieber Henri, was machst du allein im Wald?“

„Ich …“, seine Stimme gehorchte ihm nicht. Er schaute das Wesen verzaubert an und seine Angst war wie weggeblasen. „Wer bist du? Und woher kennst du meinen Namen?“, fragte er.

„Ich kenne jeden auf der Erde, Henri. Weißt du denn nicht, was heute für eine Nacht ist?“

Der Schneemann schüttelte den Kopf.

„Es ist Weihnachten, Henri. Ich bin das Christkind und komme einmal im Jahr, an Heiligabend, von weit her aus dem Himmelreich, um den Menschen Freude zu bringen und sie zu beschenken. Jetzt will ich wieder zurück in den Himmel fliegen, weil meine Arbeit getan ist. Es ist gleich Mitternacht und ich will auch dir noch einen Wunsch erfüllen.“

Weihnachten? Christkind? Davon hatte Henri in seinem kurzen Schneemannleben noch nichts gehört. Doch es konnte sich dabei nur um etwas sehr Schönes handeln, vermutete er. Mit fester Stimme sagte er: „Ja, liebes Christkind. Ich wünsche mir, niemals mehr in meinem Leben einsam zu sein.“

Das Christkind lächelte ihn freundlich an. „Nun geh zurück zu deiner Wiese, Henri. Frohe Weihnachten.“ Dann war es verschwunden. Mittlerweile waren auch die Wolken weitergezogen und Henri konnte wieder den Mond sehen, der ihm den Weg nach Hause wies.

Am nächsten Morgen stürmten die Kinder aus dem Wohnblock und blickten verwundert auf die große Wiese. Menschen standen um ihren Schneemann Henri herum, riefen „Ah!“ und „Oh!“ und betrachteten ihn wie ein fremdes Wesen. Als sich die Kinder ihm ebenfalls näherten, fiel ihnen sofort auf, dass Henri sich verändert hatte. Ein Strahlen ging von ihm aus, so, als wäre er von einem Heiligenschein umgeben. Er lächelte ihnen sogar zu, bewegte den Kopf und zwinkerte mit den Augen.

Oder bildeten sie sich das nur ein?

Als die Kinder aus dem Wohnblock in der Mozart-straße allein waren, machten sie einen Kreis um ihren Henri, waren fröhlich und ausgelassen. Sie tanzten und sangen wie an dem Tag, als sie ihn gebaut hatten.

Sie besuchten ihn von da an jeden Tag und für diesen Augenblick Gesellschaft war Henri dankbar. Und mit Sicherheit der glücklichste und außergewöhnlichste Schneemann der Welt.

Brigitte Kemptner, geboren in Hessen, wohnt in Baden, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Ihre Hobbys sind Lesen, Handarbeiten, Kochen, Wandern und Schreiben von Gedichten und Prosa. Einige ihrer Geschichten und Gedichte wurden schon in Anthologien veröffentlicht.

Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland Band 3

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