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Der größte Schatz

Es war einmal, vor vielen Jahren, einigen Monaten, mehreren Wochen und ein paar Tagen, da herrschte große Aufregung in Akvo, dem großen Unterwasserreich der Meereskönigin Yara. Narius, ein sehr dicker Wassermann, hatte sich den Fuß an einem Wasserfahrrad gestoßen, das sein Nachbar Nero achtlos hatte liegen lassen. Narius war im Kreis herumgehüpft und hatte wütend mit den Armen und Beinen gewedelt.

Dadurch waren riesige Wellen entstanden. Fische, Meerjungfrauen, Wassermänner, Meerhexen und Seeungeheuer waren herumgewirbelt worden. Prinzessin Maila, die Tochter der Meereskönigin, war gerade dabei, ein paar Perlen zu suchen. Von einer riesigen Flutwelle erfasst, wurde sie auf eine Insel gespült. Bewusstlos lag sie am Strand.

„Wen haben wir denn da?“ Eine schlanke Gestalt, in ein dunkles Gewand gehüllt, mit langen silbernen Haaren, beugte sich über die Prinzessin. „Ich glaube es nicht. Die Tochter der Meereskönigin.“ Die Gestalt hob die immer noch ohnmächtige Prinzessin hoch und nahm sie mit.

„Wo ist meine Tochter?“ Yara hatte alle Untertanen mobilisiert, um Maila zu finden. Die Fische waren suchend durchs Wasser gesaust, sämtliche Winkel, Riffe und Muschelverstecke waren abgesucht worden. Doch die Prinzessin blieb verschwunden.

Nach einiger Zeit kamen die beiden Fische Schuppi und Flossi angeschwommen. Sie waren die Hausfische der Prinzessin und begleiteten sie überallhin.

„Prinzessin Maila ist auf der Insel“, blubberte Flossi. Schuppi weinte, aber unter Wasser konnte man die Tränen nicht sehen.

Yara blickte zur Wasseroberfläche. „Enja!“, rief sie aus. „Meine böse Schwester hat sie in ihren Fängen.“ Alle wussten, dass Maila nicht länger als drei Tage ohne Meerwasser überleben würde. Narius, der das Malheur verursacht hatte, bot sich an, sie zurückzuholen.

Die Meereskönigin schüttelte den Kopf. „Sie wird dich töten. Dem schrecklichen Inselkönig Tala hatte sie unseren Meeresschatz versprochen. Dafür wollte er sie zur Königin über Wasser und Land machen. Ich habe meine Schwester auf die Insel verbannt, wo sie auf Rache sinnt.“ Yara hob ihren Zauberstab mit den leuchtenden Korallen und Perlen. „Ich habe keine Macht an Land.“

Enja lief mit der Prinzessin zum Schloss. Endlich würde Tala sie belohnen müssen. Zur Strafe, dass sie ihr Versprechen nicht gehalten hatte, war sie von Tala in den Kerker des Schlosses geworfen worden. Nur zum Arbeiten durfte sie hinaus. Sie schritt die Treppe zum Schloss empor. „Yara, nun wirst du dafür büßen, dass du mich verbannt hast.“

König Tala lachte laut, als Enja ihm ihren Fund präsentierte: „Haha! Nun haben wir den größten Schatz der Meereskönigin.“ Er holte Salzwasser und schüttete es über Maila aus.

Sogleich erwachte die Prinzessin. Sie hustete und versuchte, sich aufzurichten, doch sie war zu schwach.

Enja zog an Mailas Haaren. „So eine Schönheit, doch die wird bald vergehen.“ Sie lachte böse und schnitt mit einem Messer die roten Haare der Prinzessin ab.

König Tala rief vier seiner Gesellen und übergab ihnen das Haar der Prinzessin. „Fahrt aufs Meer hinaus und gebt Yara das Haar. Sie soll uns den Meeresschatz bringen, wenn sie ihre Tochter lebendig zurückbekommen will.“ Dann drehte er sich zu Enja um: „Du wirst meine Frau und Herrscherin über Wasser und Land werden, sobald du dein Versprechen eingelöst hast.“

Aufgeregt versammelten sich alle Meeresbewohner um ihre Königin. Sie hielt das rote Haar ihrer Tochter in den Händen. Yara war traurig und wütend zugleich. „Nun haben wir den Beweis. Wir haben nicht viel Zeit. Es ist schon Abend.“ Sie hielt das rote Haar an ihre Brust. „Wir brauchen eine List. Niemals werden wir unseren Schatz verraten.“

Yara schwamm hin und her. Schließlich rief sie: „Ilayda, liebe Wasserfee, bist du hier?“

Ein zartes Geschöpf mit blauen Haaren und glitzernder Haut kam zwischen den anderen hindurchgeschwommen. Ilayda verbeugte sich. Yara sprach: „Du bist die Einzige hier, die sich an Land einen Tag lang bewegen und wieder zu uns zurückkehren kann. Ich werde dir eine andere Gestalt verleihen, sodass niemand dich als Wasserfee erkennen wird.“

Ilayda schreckte zurück. „Tala wird mich durchschauen.“

Yara schüttelte den Kopf: „Nein, nicht, wenn ich dich in Enja verwandle. Gehe morgen ganz früh zum Schloss. Nimm die Kiste hier mit und sage, dass es der Schatz aus dem Meer sei, den ich dir gegeben habe. Tala wird nur Augen für diesen Schatz haben. Zur Sicherheit nimm diesen silbernen Stab mit, er wird Enja sofort betäuben, sobald du sie damit berührst.“

Ilayda war bang ums Herz. Sie schwamm noch vor Sonnenaufgang los, begleitet von vier Wassermännern, die im Wasser mit der Kiste warten würden. Sie verabschiedete sich von ihnen und nahm an Land unmittelbar Enjas Gestalt an. Nun hing alles von ihr ab.

Ilayda betrat das Schloss. Alles war ruhig. Sie ging eine Treppe hinauf und landete auf einem langen Gang. Plötzlich ging eine Tür auf, Enja trat hinaus. Ilayda berührte sie mit dem Stab, brachte sie ins Zimmer und verschloss es hinter sich. Dann schlich sie zur nächsten Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Tala lag dort im Bett.

„Hallo“, flüsterte sie.

Tala sprang auf und zog sofort sein Messer. „Was gibt es denn um diese Zeit so Wichtiges?“, rief er böse.

Ilayda hatte noch nie vor jemandem so viel Angst gehabt, aber sie fasste sich. „Unten am Meer ist eine Abordnung meiner Schwester mit dem versprochenen Schatz. Wenn wir ihnen Maila bringen, gehört der Schatz uns.“

Talas Gesicht hellte sich auf. „Du holst Maila.“

Ilayda lief in den Keller. „Wache“, rief sie, „öffne die Zelle und bring mir die Prinzessin.“ Die Wasserfee hätte sie am liebsten umarmt. Aber das durfte sie nicht. So stieß sie die Prinzessin vor sich her, den Weg zum Meer hinunter. Tala wartete schon.

Die Wassermänner schwammen um die Kiste herum. „Gebt mir euren Schatz.“ Tala baute sich zu seiner vollen Größe auf.

Narius hielt die Kiste fest. „Erst wenn wir die Prinzessin haben.“

„Halt, sie ist eine Betrügerin!“ Enja, die sich irgendwie aus dem Zimmer befreit haben musste, kam angerannt.

Tala blickte von einer zur anderen.

Ilayda lachte: „Du Verräterin, du bist von meiner Schwester gesandt worden, um den Handel zu verhindern. Aber es wird dir nicht gelingen, Tala, den großen mächtigen König zu täuschen.“

Tala schlug Enja mit der Hand beiseite. „Du hast recht, niemand betrügt mich.“

Ilayda übergab dem Wassermann die Prinzessin und nahm die Kiste. Enja hatte sich aufgerappelt und wollte ihr die Kiste wegnehmen. Ilayda berührte sie mit dem Silberstab und sie fiel sofort um. „Hier, mein König.“ Ilayda übergab ihm die Kiste.

Tala befahl seinen Männern, sie zu öffnen. Mit gierigen Augen wartete er. Ilayda sprang mit leichten Schritten ins Meer zurück. Sobald sie tiefer ins Wasser eingetaucht war, verwandelte sie sich wieder.

Tala war entsetzt: „Betrug, die Kiste ist mit Seetang und Muscheln gefüllt.“ Wütend erhob er seine Harpune, die er immer zum Fischen benutzte, und schoss sie ins Meer. Doch statt der Wasserfee traf er Enja. Wütend zertrümmerte er die Kiste und raste solange auf der Insel hin und her, bis er umfiel und nie wieder aufstand.

Heute befindet sich an dieser Stelle ein Felsen, der Teufelsfelsen. Enja ertrank im Meer und die Gesellen des Königs zogen mit Schiffen von dannen. Die Teufelsinsel blieb von da an für alle Zeiten unbewohnt.

Die Meereskönigin schloss ihre Tochter in die Arme und dankte Ilayda für ihren Mut. „Das ist unser wahrer Schatz“, sprach Yara, „unsere Freunde und Familie. Niemals kann jemand diesen Schatz stehlen. Er ist für immer in unseren Herzen.“

Alle Bewohner von Akvo feierten eine ganze Woche lang ihr Glück. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann feiern sie noch heute. Manchmal kann man es sehen, denn dann bewegen sich an der Oberfläche des Meeres die Wellen etwas stärker.

Sabine Nölke wurde 1960 geboren, wuchs im Ruhrgebiet auf und studierte in Bochum Biologie. Von der Ruhr zog es sie an den Rhein und von dort an die Eder. Seit einem Jahr lebt sie mit ihrem Mann und zwei Hunden im Schwalm-Eder-Kreis in Nordhessen. Sie arbeitet als freie Journalistin und schreibt Kurzgeschichten, Krimis und Gedichte.

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