Читать книгу Wünsch dich ins Märchen-Wunderland - Martina Meier - Страница 31
Оглавление*
Ayana
„Ich möchte nicht, dass du dasselbe Schicksal erleidest wie deine Stiefschwester“, klagte die Großmutter, deren kahler Kopf nur noch die silberne Krone, aber nicht mehr ihr schneeweißes Haar zierte.
„Keine Sorge! Ich habe nicht das Verlangen, meine zierliche Schwanzflosse gegen Quadratlatschen in einer Laufmaschine einzutauschen“, lächelte Ayana. „Ich möchte aus unserem Versteck emportauchen, um Prinz Jeldrik zu sprechen, der Sooyoung ins Unglück stürzte.“
„Was willst du tun, wenn du ihn triffst? Rache nehmen?“, fragte die Königinmutter.
„Keine Ahnung!“, zuckte Ayana mit den Schultern. „Ich folge meinen Gefühlen.“
„Bleibe!“, bat die Greisin. „Ich habe meinen Sohn noch nie so glücklich gesehen wie in den letzten 18 Jahren, als er deine Mutter traf, sich verliebte, sie heiratete und du aus dem Schaum zu uns kamst.“
„Oma, nach unseren Gesetzen hätte ich schon vor drei Jahren zu der Welt der Menschen emportauchen dürfen! Länger kann und will ich nicht warten! Bitte gib mir deinen Segen!“, flehte Ayana.
„Du machst ja doch, was du willst! Ich nähe dir meine zwölf Austern auf deinen Schwanz. Sie zeigen deine adelige Abstammung. Setze deine goldene Krone auf! Wenn du nicht mehr weiterweißt, drehe sie nach links, dann nach rechts.“
„Danke!“, flüstere Ayana und küsste ihre faltige Wange.
Eilig schwebte sie vom königlichen Garten, der des Nachts im Dunkeln lag und nur durch den rosa Mond am Himmelszelt erhellt wurde, leicht wie eine Feder empor. Sie huschte an den Wächtern des Königreiches, den glubschäugigen Koloss-Kalmaren, deren Augen größer als Fußbälle waren, unbemerkt vorbei und schwirrte durch das dunkelblaue Wasser des Weltmeeres. Anglerfische beschützten die kleine Nixe, indem sie mit ihren blitzenden Taschenlampen den Weg durch die Peitschen der neunschwänzigen Katze, das Palmtang, beleuchteten. Durch das türkisfarben werdende Nass, in dem sich noch Ruderfußkrebse tummelten, die Ayana mit bläulich leuchtenden Sprechblasen begrüßten, glitt sie bis zu den hellblau schimmernden Wellen empor, in denen Clown-, Doktor- und Mandarinfische sowie Königsfeenbarsche ihren Hofstaat bildeten.
Kurz vor der Marmortreppe des Wasserschlosses, in dem Sooyoung mit Jeldrik kurze Zeit glücklich gewesen war, tauchte sie auf.
Auf der untersten Stufe saß ein junger Mann und starrte trübselig auf die Gischt. „Könnte ich doch die Unterwasserwelt erkunden!“, seufzte er.
„Komme mit mir!“, säuselte Ayana und umschlang seinen Leib. Ihre langen roten Haare, die ein Seestern schmückte, und der türkis schimmernde Schwanz gaben ihr das Aussehen einer Königslilie.
„Potzblitz!“, rief der Bursche erstaunt. „Eine rothaarige grünäugige Meereshexe!“
„Ich bin Prinzessin Ayana, jüngste Tochter des mächtigen Meereskönigs“, erwiderte Ayana beleidigt und wedelte mit ihrem Schwanz. „Bist du Prinz Jeldrik?“
„Prinz Jeldrik ist mein Vater. Ich heiße Alvar. Warum fragst du?“
„Dein Vater hat meine Schwester Sooyoung auf dem Gewissen! Statt sie, seine Lebensretterin, zu heiraten, wählte er eine andere Braut. Sooyoung wollte lieber zu Meeresschaum werden, statt ihn zu töten, um ihr Leben als Meerjungfrau wieder aufzunehmen. Die Töchter der Luft haben ihr Zuflucht gegeben“, klagte Ayana den Jüngling bitterböse an.
„Sie war eine Meerjungfrau? Mein Vater segelt schon jahrelang über die Weltmeere, um sie zu finden. Er glaubt, dass sie noch lebt. Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben.“
„Ich bedauere dich.“
„Ich bin viel allein und mir ist langweilig.“
„Komme mit mir!“
„Ich möchte nicht auf dem Friedhof deines Vaters begraben sein.“
„Kannst du nicht schwimmen?“
Alvar schüttelte den Kopf. Ayana drehte ihre Krone nach links, dann nach rechts und pfiff, bis ein blau-weißer Delfin erschien, der sie freudig begrüßte.
„Halte dich an seiner Finne fest! So lernst du spielend schwimmen“, befahl Ayana.
Alvar zögerte, gab sich einen Ruck, stürzte sich in die Fluten und begann, langsam mit dem Delfin zu schwimmen. Bald konnte er sich mühelos über Wasser halten. Begeistert ergriff er die Flipper des freundlichen Tieres und tanzte Walzer. „Fantastisch!“, juchzte er. „Ich will noch mehr entdecken, will tauchen lernen.“
Ayana drehte ihre Krone nach links, dann nach rechts und schlug mit ihrem Schwanz drei Mal aufs Wasser, bis die Tentakel einer portugiesischen Galeere erschienen.
„Hilfe, eine Krake!“, schrie Alvar.
„Du brauchst keine Angst zu haben!“, beruhigte ihn Ayana. Sie flüsterte mit dem Meeresungeheuer, das so schnell, wie es aufgetaucht war, auch wieder versank. Es dauerte nicht lange, bis die Fangarme eine Maske, eine Brille, einen Atemregler, eine Bleiflasche und einen Meerjungfrauenschwanz freigaben.
„Dies sind Raritäten, die die Wassermüllabfuhr vom Meeresboden aufgesammelt hat“, erklärte Ayana. „Zieh dich um!“
Gesagt, getan.
Zunächst schnorchelten, dann tauchten sie. Immer tiefer sanken sie vorbei an antiken Tempelruinen, Schiffswracks, bunten Korallen, grünen Augentierchen, glitschigen Quallen und Röhrenwürmern, die mit ihren Federkronen als Insignien des Meereskönigs galten. Sie durchquerten zahlreiche Fischschwärme, denen Alvar zuwinkte gleichsam, als wollte er sie mit: „Hallo, liebe Fische!“, begrüßen. Als sie die schwarzen Raucher der Tiefseevulkane erreichten, signalisierte Alvar: „Ich bekomme kaum noch Luft. Mir ist so heiß. Ich mache mich auf den Heimweg. Auf Wiedersehen!“
Ayana schwamm eilig zu ihrer Großmutter, die bereits voller Sorge auf sie wartete. Sie erzählte ihr von ihrer ungewöhnlichen Begegnung mit Prinz Jeldriks Sohn.
„... und wie geht es nun weiter, Oma?“, fragte Ayana und drehte ihre Krone erst nach links, dann nach rechts. „Erlaubst du mir, so oft nach oben zu tauchen, wie ich will, um Alvar zu treffen?“
„Solange du nur einen Freund besuchst, bin ich einverstanden“, erklärte die Königinmutter. „Ziehe deinen schönsten Tankini an! Wir wollen deine Rückkehr mit einem Ball feiern.“
Im Schlossgarten eilten Oktopusse unentwegt hin und her, um den geladenen Gästen die köstlichsten Speisen zu servieren. Auf dem Muschelklavier sorgten Krebse für eine fröhliche Musik. Seepferdchen tanzten ein zauberhaftes Ballett. Schließlich lauschten ihr Vater, ihre Mutter, ihre Großmutter, ihre Stiefschwestern und die Meeresbewohner atemlos Ayanas Eindrücken über die Menschenwelt.
Plötzlich riefen die Koloss-Kalmare: „Feindlicher Fisch ist im Anmarsch!“
„Ist es ein Hai?“, rief der Meereskönig und ergriff seine Harpune. „Schnell, Kinder! Folgt eurer Großmutter, Stiefmutter und Mutter und bringt euch im Schloss in Sicherheit. Zu den Waffen!“
„Majestät, es sieht wie mein Auge aus!“, rief eine der Wachen.
Ayana weigerte sich, die Flucht zu ergreifen. Ungläubig starrte sie auf ein riesiges rundes gläsernes Fenster, aus dem Alvar ihr zuwinkte. Er hielt einen Zettel an die Glasscheibe, auf dem zu lesen war:
Hallo, Ayana! Ich habe mir das Tiefseeboot meines Vaters ausgeliehen. So kann ich dich so oft besuchen, wie ich will. Freust du dich?
Ayana nickte und klatsche vor Begeisterung in die Hände. „Vater, es ist Alvar!“
„Er soll unser Ehrengast sein“, entschied der Meereskönig. Der Unterwasserball wurde mit aller Pracht weitergefeiert.
Ich wünschte, du und ich wir wären dabei gewesen! Pass auf, wenn du das nächste Mal über den Ozean schipperst, ob du nicht auf den Wellen Alvars Tiefseeboot entdeckst, das von seiner Reise vom Meeresboden auftaucht! Vielleicht siehst du in den Wellen auch Ayanas Kopf und Schwanz, wie sie im Schmetterling-Stil ihrem Freund das Geleit gibt? Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.
Anja Apostel, geboren 1963, Minden, Dipl.-Volkswirtin, Magister Artium. Weitere Infos unter www.anjaapostelwixsite.com.