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II. Zwei Modelle von Staatlichkeit in Europa

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Trotz der gemeinsamen Grundlagen haben sich die Verwaltungssysteme und Verwaltungsgesetze entlang nationaler Pfade unterschiedlich entwickelt. Eine vergleichende Analyse der Geschichte der Verwaltung und des Verwaltungsrechts in Europa muss sich mit einem wesentlichen konzeptionellen Problem befassen, welches durch die gegenläufigen Entwicklungen von Staatlichkeit in England und Frankreich aufgeworfen wurde und erstmals im 18. Jahrhundert in Erscheinung trat. Dieses Problem wird von dem Soziologen, Politikwissenschaftler und Historiker Charles Tilly in folgender Weise zusammengefasst: Obgleich die Tendenz nach 1500 in ganz Europa in Richtung zunehmender Staatlichkeit ging, bewegten sich die verschiedenen Regierungen mit sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Als Konsequenz nahmen internationale Disparitäten in Bezug auf die Staatlichkeit während des 16. und 17. Jahrhunderts zu. Im Hinblick auf Autonomie, Ausdifferenzierung, Zentralisierung und interne Koordinierung hatte Frankreich nahezu in der gesamten Zeitspanne nach 1500 eine führende Rolle in Europa inne, wohingegen sich in England Staatlichkeit in einer geringeren Geschwindigkeit und auf einem niedrigeren Niveau entwickelte. In England (welches viele Hoheitsfunktionen durch Friedensrichter, private Korporationen, Handelsflotten und ähnliche Verbände ausführen ließ, die nur indirekt in die zentrale Struktur eingebunden waren) zeigte sich bis in das 19. Jahrhundert hinein ein eher geringes Ausmaß an Staatlichkeit.[23]

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In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren England und Frankreich die beiden mächtigsten und „zivilisiertesten“ Länder der Welt mit einer langen Geschichte als unitarische Nationen. England war durch die Glorious Revolution und die industrielle Revolution gegangen. Frankreich hatte die wichtigste politische Revolution durchlebt, die sich bis dahin ereignet hatte. Beide verwalteten große Kolonialreiche. Ungeachtet dieser Gemeinsamkeiten, erschienen sie in der zeitgenössischen Wahrnehmung als Kontrastmodelle. So meinte Charles-Louis Secondat Baron de Montesquieu aus französischer Perspektive: „England ist bis heute das freieste Land der Welt“[24]. Voltaire, mit bürgerlichem Namen François Marie Arouet, stellte fest: „Die französischen Bürgerkriege dauerten länger, waren grausamer und brachten größeres Unheil hervor als diejenigen Englands; gleichwohl hatte keiner dieser Bürgerkriege eine weise und kluge Freiheit zum Ziel.“[25] Ähnlich äußerte sich Edmund Burke, der in seinen „Reflections on the Revolution in France“[26] (1790) die englische Glorious Revolution von 1688 pries als „a parent of settlement, and not a nursery of future revolutions“, wie dies bei der, so Burke, verachtenswerten Französischen Revolution der Fall gewesen sei.[27] In seinen 1828 bis 1829 gehaltenen Vorlesungen an der Sorbonne zur Geschichte der Zivilisation in Europa rühmte François Guizot England, wo die Glorious Revolution die „essence de la liberté“, eingeführt habe.[28]

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Während des frühen 19. Jahrhunderts wurden die beiden Modelle zu „ensembles hermetiques“[29] mit folgenden Charakteristika: Frankreich vermittelte den Eindruck eines starken Staates mit zentralisierter Verwaltung, welche von einem besonderen Rechtsgebiet, dem so genannten Verwaltungsrecht, geregelt wurde. Es galt als ein Staat, in dem die Bürger zwar innerhalb der Zivilgesellschaft grundlegende, in der Verfassung gewährleistete Rechte (wie die Versammlungsfreiheit) genossen, gegenüber dem Verwaltungsapparat jedoch lediglich passive administrés waren. England hingegen wurde als ein „staatsfreies“ Land angesehen, das durch lokale Institutionen regiert wurde und über ein einheitliches Rechtssystem verfügte, in welchem sich die Menschen nicht nur auf der Ebene der Verfassung, sondern auch auf derjenigen der Verwaltung erheblicher Freiheit erfreuten.[30]

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Die wichtigsten Eigenschaften, die den beiden Modellen zugeschrieben wurden, waren die folgenden: Erstens wurde in Frankreich die Verwaltung als ein Transmissionsriemen verstanden: „[D]ie Verwaltung besteht darin, […] die Übermittlung von Gesetzen an den Verwaltungsadressaten und von Beschwerden der Verwaltungsadressaten an die Regierung zu gewährleisten“[31]. Diese Rolle erforderte sowohl eine Zentralisierung als auch eine Einheitlichkeit, wie sie insbesondere das napoleonische Regime ausprägte. Das Hauptinstrument war der préfet, ein provinzieller Amtsträger mit interministeriellen Funktionen, der alle zentralen Ministerien im département repräsentierte.

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Zweitens bilden in Frankreich „das Verwaltungsrecht und das Zivilrecht zwei getrennte Welten, die kaum jemals in Frieden zusammenleben, die aber weder genug Freund noch genug Feind sind, um sich gut zu kennen“[32]. Das Verwaltungsrecht war getrennt vom Zivilrecht, weil „der Fürst nicht an die Zivilgesetze gebunden ist“[33]. Die Verwaltung war dem Zivilrecht nicht unterworfen („soustraction de l’administration à l’empire du droit privé“[34]). Daher verlief das die Verwaltung bestimmende Recht parallel zum Zivilrecht: Die zivilrechtlichen Regelungen des Privateigentums wurden im Verwaltungsrecht durch die Regulierung der domaine public gespiegelt; neben den Bestimmungen über die Haftung im öffentlichen Sektor gab es eine spezielle Vorschrift über die Haftung der Staatsbeamten. Vergleichbares galt in Bezug auf Verträge. Das Verwaltungsrecht war nicht nur ein anderes, sondern auch ein besonderes Rechtsgebiet, und zwar dadurch, dass es der Verwaltung einen privilegierten „Status“ zuerkannte (privilège du préalable und privilège de l’éxécution d’office). Bekräftigt wurde die Eigenständigkeit dieses Rechtsgebiets durch die Existenz eines speziellen Gerichts, des Conseil d’État.

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Das Verwaltungsrecht war zudem Gegenstand intensiver Auseinandersetzung, beginnend mit den „efforts d’inventaire“[35] des frühen 19. Jahrhunderts, einem Werk von Juristen (überwiegend Mitglieder des Conseil d’État), die als Rechtsgelehrte auftraten. Nur wenige Jahrzehnte später entwickelte sich aus diesem Werk heraus eine differenzierte Wissenschaft vom Verwaltungsrecht. Diese Wissenschaft sollte selbst zu einem Teil des öffentlichen Rechts werden; die Disziplin des öffentlichen Rechts sollte sich mithin nicht auf das Studium des positiven Rechts beschränken, sondern auch dessen Entwicklungen anregen.

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Für England stellte sich das Bild vollkommen anders dar. Erstens ist zu konstatieren, dass das Land, obgleich vom Zentrum aus regiert, nicht von dort aus verwaltet wurde.[36] Im Zentrum befanden sich, was die Verwaltung anbelangt, nur „bewegliche“ Aufsichtsbehörden und Kommissionen.[37] In der Peripherie gab es hingegen eine Fülle von örtlichen Einrichtungen, betrieben von Laien (der gentry), die ermächtigt waren, Konflikte zu regeln und zu entscheiden. Nach Auffassung des Historikers Edward Higgs „kann die [...] Geschichte des englischen Staates nicht in dem Sinne verstanden werden, dass Macht und Autorität ausgehend von einem zentralen Punkt expandiert sind. Vielmehr fand eine von außen nach innen verlaufende Kontraktion statt. Der Staat hörte erst zu einem späten Zeitpunkt auf, ein Konglomerat von Vorgängen unter der Beteiligung von Eliten zu sein, die aus den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft stammten und Aufgaben ohne Bezahlung als Laien wahrnahmen“.[38] Stattdessen wurde er zu einer ausschließlichen Domäne einer zentralisierten und bezahlten Gruppe von Staatsbeamten und Parteipolitikern.

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Zweitens existierte kein spezielles Verwaltungsrecht. Die ganze Nation unterstand der rule of law. Das gemeine Recht (das common law of the land) fand sowohl auf die englischen Bürger als auch auf die Träger öffentlicher Gewalt Anwendung. Das Recht war in diesem Sinne einheitlich. Es gab keinen besonderen Rechtszweig, der für Verwaltungsbehörden maßgeblich war. Ebenso wenig waren spezielle Gerichte eingerichtet, die über Streitigkeiten zwischen Bürgern und Behörden entschieden. In der Folge fehlten auch auf das „administrative law“ spezialisierte Juristen oder Wissenschaftler. Der Staat war ein unknown subject.[39]

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Es ist an dieser Stelle allerdings wichtig festzuhalten, dass die beiden Erscheinungsformen von Staatlichkeit in England und Frankreich erst im 19. Jahrhunderts zu unterschiedlichen Modellen verdichtet wurden, in den prägenden Jahren des liberalen Staates, während derer sich die wichtigste politische Frage um das Verhältnis zwischen der Verwaltung und dem Bürger drehte. In dieser Gestalt fanden sie dann Nachahmer. Das französische Modell zog eine größere Anzahl von Staaten in seinen Bann, darunter Deutschland,[40] Italien,[41] Österreich[42] und Polen.[43] Wie es bei rechtlichen Importen häufig geschieht, mutierten die Rechtsinstitute, die von einem Land in ein anderes verpflanzt wurden, in ihrer neuen Umgebung. So unterschieden sich beispielsweise der Consiglio di Stato und die prefetti in Italien stark von ihren jeweiligen französischen Vorbildern. Der Consiglio di Stato war nie eine „pépinière de grands commis“, eine Kaderschmiede, und die prefetti nahmen keine vollständige Kontrolle über die verschiedenen Bereiche der Verwaltung in der Peripherie wahr. Daher blieben beide Institutionen schwächer ausgestaltet als ihre französischen Äquivalente.

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Aber auch das englische Modell übte bedeutenden Einfluss aus, zum Beispiel in Ungarn.[44] Im Übrigen blickte fast jeder liberale Reformer in Europa mit Interesse auf das englische self government und die rule of law. Von besonderer Bedeutung ist die belgische Verfassung von 1830, welche Prinzipien der ungeschriebenen britischen Verfassung kodifizierte, insbesondere diejenigen der Gewaltenteilung und der ministeriellen Verantwortlichkeit. Das englische Modell wurde auf dem Kontinent allerdings auch durch liberale Autoren kritisch gesehen. So teilte Tocqueville nicht die Begeisterung seiner Zeitgenossen für das englische gouvernement mixte und rühmte stattdessen das amerikanische Modell, in welchem „die administrierende Gewalt […] weder […] etwas Zentrales noch etwas Hierarchisches an sich hat“, „der Staat regiert und nicht verwaltet“ und „die administrierende Gewalt in eine Vielzahl von Händen gelegt ist“[45].

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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlieh die deutsche Rechtskultur dem französischen Modell eine neue Dimension. Die wissenschaftliche Verbindung zwischen den beiden Kulturen wurde insbesondere von Otto Mayer hergestellt, der zwanzig Jahre in Straßburg verbracht hatte und ein Experte des französischen Privatrechts war. Zusammen mit Paul Laband und Carl Friedrich von Gerber überführte Mayer die privatrechtliche Methode in das Verwaltungsrecht und gab ihm eine neue, stärker theoretische Grundlage.

Einführung§ 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa › III. Zur Herkunft der beiden Modelle

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