Читать книгу Ius Publicum Europaeum - Tomasz Rechberger, Michał Ziółkowski, Andrzej Wróbel - Страница 9
I. Gemeinsame Grundlagen
ОглавлениеDer Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt von Cornelia Glinz und Dr. Diana Zacharias.
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Die Entstehung des Verwaltungsrechts, das einen Bereich reguliert, in dem weder die Politik vollständig herrscht noch vollständige bürgerschaftliche Gleichordnung besteht, ist eine vergleichsweise junge Erscheinung. Auch wenn sich die Verwaltungssysteme und das Verwaltungsrecht bereits seit der Renaissance herausgebildet haben, so wird die Schwelle zu den modernen administrativen Phänomenen erst im 19. Jahrhundert überschritten. Maßgeblich dafür ist zum einen die Trennung der gerichtlichen Funktionen von der vollziehenden Gewalt. Zum anderen entwickeln sich sowohl die Verwaltungssysteme als auch das Verwaltungsrecht erst in dem spezifischen Kontext des Nationalstaates, und zwar in „staatenlosen Ländern“ wie England[1] ebenso wie in „etatistischen Ländern“ wie Frankreich oder aber in Ländern mit einer geringen Ausprägung von Staatlichkeit, etwa Italien[2] und Polen.[3] Wesentliche Kraft hinter der Entwicklung von Verwaltungssystemen und Verwaltungsrecht ist stets die Regierung, die eine nationale politische Einheit herstellen wollte, die wir „Staat“ nennen. Somit bilden sich öffentliche Verwaltungen als Teil einer nationalen Gemeinschaft und zugleich in struktureller Abhängigkeit von deren Regierungen aus. Im Lichte des Grundsatzes der Gesetzesbindung wurden diese Verwaltungen zunehmend einer rechtlichen Regelung unterworfen. Dieses Verwaltungsrecht war im Wesentlichen staatliches Recht. Für lange Zeit galten öffentliche Verwaltungen ausschließlich als staatliche Phänomene, da es eine Verwaltung mit einem exekutiven Gewaltmonopol nur innerhalb eines Staates geben und sich nur hier die Dialektik von Autorität und Freiheit, die das Verwaltungsrecht kennzeichnet, entfalten konnte.
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Diese exklusive Verbindung zwischen Staat und Verwaltung fand international eine überaus erfolgreiche Deutung durch den amerikanischen Politikwissenschaftler Dwight Waldo in seinem 1948 publizierten Buch „The Administrative State“.[4] Wo es einen Staat gibt, gibt es eine Verwaltung, und umgekehrt. Da aber die Verwaltungssysteme und das jeweilige Verwaltungsrecht nach den Bedürfnissen der Staaten ausgestaltet wurden und diese Staaten sich entlang divergierender Linien entwickelten, unterscheiden sich auch deren Verwaltungen. Die öffentlichen Verwaltungen wurden so zum Ausdruck des jeweiligen nationalen, bisweilen nationalistischen Entwicklungspfads. Jede Verwaltung wird, da Teil der Geschichte einer partikularen Gesellschaft, bisweilen als einzigartig angesehen. Vergleiche erscheinen danach nutzlos, denn sie würden zur Gegenüberstellung disparater Institutionen und Rechtssysteme führen, die nicht zu einer „Familie“ gehören und denen es deshalb an Gemeinsamkeiten und Verbindungen mangelt. Aus dieser Perspektive betrachtet steht das Verwaltungsrecht in einem schroffen Gegensatz zum Privatrecht, das zumeist als Ausdruck eines gemeinsamen kulturellen Erbes begriffen wird. Auch wenn die nationalen Ausprägungen des Privatrechts gewisse Besonderheiten und Variationen aufweisen, so gibt es doch bedeutsame Gemeinsamkeiten und universelle Institute (wie Familie, Eigentum und Vertrag), in deren Licht Unterschiede erkannt und eingeordnet werden können.[5] Gegen dieses Verständnis ist allerdings anzuführen, dass trotz des Fehlens einer dem Privatrecht vergleichbaren gemeinsamen administrativen Tradition die Verwaltungssysteme und die verschiedenen nationalen Verwaltungsrechte in Europa ein gemeinsames Substrat aufweisen. Dieses Substrat kann durch eine Betrachtung der Geschichte der Institutionen, des Rechts, das sie regelt, und der Rechtskulturen, in die sie eingebettet sind, aufgedeckt werden.
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Wie von einem prominenten Historiker in einer Abhandlung über den Staat der Renaissance aufgezeigt, „befinden wir uns“ im 16. Jahrhundert „nicht in Gegenwart eines staatlichen Nationalismus, sondern einer […] Art ‚kosmopolitischer‘ Öffnung […]. Wenn im Leben des Staates im 16. Jahrhunderts Gefühle eine Rolle spielen, dann sind es religiöse und weniger nationale oder patriotische“.[6] Der Staat stützt seine Fundamente „auf das Gefühl der Treue gegenüber dem König“.[7] Erst in späteren Zeiten sollte ein nationaler Patriotismus in den Vordergrund treten, der eine engere Verbindung zwischen Nation und Staat etablierte sowie die Unterschiede zwischen den partikularen territorialen Erfahrungen hervorhob.
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Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert gingen Rechtswissenschaftler und Praktiker von „mores Europae“, von einer „praxis totius Europae“, einer „communis interpretatio“ und einer „communis opinio totius orbis“ aus. Die universalistische Jurisprudenz bewirkte Verbindungen zwischen den verschiedenen Rechtssystemen: Juristen konnten die Begrenzungen der souveränen Staaten überwinden, und Gerichte konnten Gesetze, Urteile und die opinio doctores fremder Länder berücksichtigen (lex alius loci).[8] Man sah, dass „[d]ie ganze Rechtsgeschichte und Rechtsentwicklung der europäischen Völker seit tausend Jahren eine Geschichte von gegenseitigen Rezeptionen ist, wobei wir unter ‚Rezeption‘ […] einen wechselseitigen, oft mit starken Widerständen verbundenen Vorgang der Inkorporation, der Anpassung und Fortbildung verstehen [….]“.[9]
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Die meisten Staaten entwickelten sich im Kontext größerer Reiche.[10] Reiche (wie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das Osmanische Reich, das spanische Reich, das Habsburgerreich und später das britische, französische und niederländische Reich) waren aus zahlreichen Staaten zusammengesetzte Organisationen, die einen geringen Grad an Hierarchisierung, starke wechselseitige Verknüpfungen und leicht zu überwindende Binnengrenzen aufwiesen. Das Heilige Römische Reich wurde definiert als „respublica composita ex pluribus rebuspublicis specialibus“[11], welche die „Regia potestas“ und die „Imperialis auctoritas“[12] zusammenhielt. Das Habsburgerreich war eine „monarchische Union von Ständestaaten“[13]. Der imperiale Rahmen bildete die gemeinsame Basis für den Austausch und die Transplantation von Institutionen, Normen, Organisationstechniken und Verwaltungsstilen, was sogar manchmal, wie das Beispiel Österreichs zeigt, den Prozess der Staatsbildung aufhielt.[14]
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Ein weiterer wichtiger Beitrag zur Entwicklung einer administrativen „koiné“, einer Gemeinsprache oder gemeinsamen Kultur der Verwaltung, war das kanonische Recht. In einer Zeit, in der das moderne Konzept der Trennung von Staat und Kirche unbekannt war, wurden viele Grundprinzipien und Institute des kanonischen Rechts in das Verwaltungsrecht übernommen: Verwaltung (administratio), Gemeinwohl (utilitas publica), öffentlicher Bedarf (necessitas publica) oder öffentlicher Verband (universitas) sind allesamt Begriffe, die aus dem kanonischen Recht in das Verwaltungsrecht eingedrungen sind.[15] Dieser gemeinsame Ursprung führte zu Ähnlichkeiten zwischen den nationalen Verwaltungen. Weiter haben politische Theorie und Verwaltungsrechtswissenschaft einen bedeutenden Beitrag zu der gemeinsamen Grundlage der nationalen Verwaltungen und Verwaltungsrechtsordnungen geleistet. Das ab dem 16. Jahrhundert weit rezipierte Werk von Jean Bodin[16] etwa bot eine theoretische Begründung für die Herausbildung starker Monarchien, in denen sich die Staatssouveränität gegenüber dem Privatrecht durchsetzte und öffentliche Einrichtungen eine dominante Rolle zu spielen begannen.
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Die Verwaltungsrechtswissenschaft bildete sich gleichwohl erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heraus. Dieser Erfolg ist den Bemühungen von Juristen zu verdanken, die im römischen Recht, und damit einem gemeineuropäischen Rechtskorpus, ausgebildet worden waren: So hatte etwa Firmin Laferrière, der Vater von Edouard Laferrière, substanziell rechtshistorisch gearbeitet.[17] Paul Laband forschte und lehrte zunächst im Bereich des römischen Rechts und der Rechtsgeschichte,[18] Otto Mayer studierte römisches Recht[19] und sodann französisches Zivil- und Handelsrecht, Rudolf von Gneist war ein Schüler von Friedrich Carl von Savigny; Oreste Ranelletti war Student bei Vittorio Scialoja. Obwohl das römische Recht keinen spezifisch verwaltungsrechtlichen Teil aufweist, lieferte es doch die „rechtliche Grammatik“[20] für die Errichtung des geistigen Gebäudes des Verwaltungsrechts. Darüber hinaus befreite der universalistische Ansatz des römischen Rechts die Verwaltungsrechtswissenschaftler von einer ausschließlich nationalen Perspektive. Otto Mayer erklärt in seiner Einleitung zu der französischen Ausgabe seines opus magnum: „Das Verwaltungsrecht hat in den verschiedenen Nationen, welche die alte europäische Zivilisation repräsentieren, bestimmte allgemeine Prinzipien zur Grundlage, die überall die gleichen sind“.[21] Diese universalistische Sichtweise geriet allerdings mit der Verfestigung der diversen Nationalismen im 20. Jahrhundert aus dem Blick.[22]
Einführung › § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa › II. Zwei Modelle von Staatlichkeit in Europa