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VIII. Kontinuität und Wandel

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Seit den Gründungsjahren haben viele Eigenschaften des Staates und der Verwaltung einen Wandel erfahren: ihre Funktionen, ihre Größe sowie ihre Beziehung zu Politik und Gesellschaft. Diese Veränderungen geschahen weder aus einem einzigen Impetus heraus, noch haben sie einheitliche Auswirkungen. Stattdessen gibt es zahlreiche Interdependenzen. Die bedeutendsten Veränderungen stehen im Zusammenhang mit dem Konzept der Unsterblichkeit der Verwaltung,[83] dem europäischen Kontext der öffentlichen Verwaltung, den Beziehungen zwischen Verwaltungs- und Verfassungsrecht, zwischen kollektiver Willensbildung und öffentlicher Verwaltung, und der Entwicklung des enabling state.

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Vom „Vater“ des deutschen Verwaltungsrechts, Otto Mayer, stammt der Ausspruch: „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“[84]. Mayer formulierte diesen Satz in seinem „Verwaltungsrecht“ und betonte, dass dies die allgemeine Auffassung seiner Zeit war. Doch hat die Beständigkeit der Verwaltung, wenn nicht sogar ihre Unsterblichkeit, mittlerweile ein Ende gefunden. Veränderungen gehören nunmehr zum Alltag. Kontexte ändern sich. Funktionen, Strukturen und Prozesse unterliegen einem Wandel. Das Personal des öffentlichen Dienstes verändert sich. Die Verwaltung wird nicht länger als ausschließlich instrumentell und in ihrer hergebrachten Gestalt als an jede Politikrichtung anpassungsfähig betrachtet. Wenn sich die politischen Richtungen ändern, muss dies der Verwaltungsapparat bisweilen auch in organisatorischer Hinsicht nachvollziehen, um die jeweilige Politik in die Praxis umzusetzen.

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An diesem Punkt scheint ein Widerspruch in dem vorherrschenden Standpunkt zu Mayers Zeit auf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Verwaltungsrecht durchaus schon als ein im Verfassungsrecht wurzelnder Zweig des öffentlichen Rechts wahrgenommen. Das Verfassungsrecht war die Grundlage, auf der das Verwaltungsrecht ruhte, und es konnte nicht geändert werden, ohne dass dies Auswirkungen auf das nachgeordnete Verwaltungsrecht gehabt hätte.[85] Dies aber wird von Mayers berühmtem Diktum in Abrede gestellt. Eine weitere Konsequenz des Untergangs des Konzepts von der „Unsterblichkeit“ der Verwaltung ist, dass dogmatische Modelle durchaus obsolet werden können. Die Verwaltung ändert sich jeden Tag und lässt damit bisweilen solche Modelle als unzulänglich erscheinen.

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Schließlich wird administrativer Wandel heutzutage regelmäßig durch Regierungsreformen eingeleitet. Das Bedürfnis nach einer grundlegenden Reform der Verwaltung kam im Verlauf des 20. Jahrhunderts auf. Es ist zu einem nicht geringen Teil auf die politische Ebene zurückzuführen. Frankreich während der Zeit der von Léon Blum (1936–1937) angeführten Front populaire bietet insoweit ein gutes Beispiel. Blum schreibt das Scheitern seiner Regierung ihrer Unfähigkeit zu, die Verwaltung zu reformieren. Verwaltungsreform war ein Mittel, um die administrativen Strukturen und Verfahren der neuen Politik einer linksgerichteten Regierung anzupassen.

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Daneben entwickelte sich das Bedürfnis nach einer Reform der Verwaltung aber auch aus den öffentlichen Verwaltungen selbst heraus. Ein Beispiel dafür ist der Fulton-Report aus dem Jahre 1968, welcher vorschlug, dass die britischen öffentlichen Verwaltungen ihr auf Generalisten ausgerichtetes Modell zugunsten einer weit größeren Rolle von Spezialisten reformieren sollten. Dies führte zur Gründung eines Civil Service College, dessen Aufgabe darin bestand, Verwaltungsbedienstete zu schulen.

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Bis an die Schwelle der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts blieben Verwaltungsreformen ein episodisches Phänomen in Europa. Die Regierungen konzentrierten ihre Bemühungen auf Reformen des besonders sichtbaren Dienstleistungsbereichs (wie Gesundheit, Renten, Bildung, Wohnungsbau und Beschäftigung). Obgleich es Pläne für eine allgemeine Verwaltungsreform durchaus gab, wurden diese letztlich nicht realisiert. Dies änderte sich im letzten Viertel des Jahrhunderts. Zuerst wurde die Verwaltungsreform zu einem eigenständigen politischen Ziel, dessen Realisierung oft Regierungsmitgliedern überantwortet wurde, die sich ausschließlich dieser Aufgabe widmeten. Zweitens wurde die Verwaltungsreform zu einer permanenten öffentlichen Aufgabe. Drittens wurde die Verwaltungsreform an die Spitze der politischen Agenda gesetzt, versehen mit dem kraftvollen und andauernden Bekenntnis sicherzustellen, dass der Staatsapparat zur Umsetzung der Regierungspolitik so effektiv wie möglich gestaltet ist. Viertens und letztens breitete sich die Verwaltungsreformpolitik als gemeineuropäisches Phänomen aus und wurde in vielen Ländern zum Gegenstand des Regierungshandelns.

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Die Hauptgründe für das Anliegen der Verwaltungsreform waren die Wiederentdeckung, Affirmation und Ausbreitung der Märkte und des Verbraucherschutzes. Mit ihnen ging ein neues Bürgerverständnis einher. Der Nutzer der öffentlichen Einrichtungen und Dienste war nicht länger administré, sondern ein Kunde, der zufrieden gestellt werden musste. Ein weiterer wichtiger Grund war das Erstarken der Idee des freien Marktes. Dank dieser Idee haben die Verwaltungsreformen ihren Charakter dahingehend geändert, dass Verwaltungshandeln nicht etwas den öffentlichen Sektor lediglich intern Betreffendes, sondern gerade auch für das Funktionieren der Wirtschaft von größter Bedeutung ist: Effizienz und Effektivität werden somit imperativ.

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Die Verwaltungsreformen, die im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in vielen europäischen Ländern in Gang gesetzt wurden, weisen zahlreiche gemeinsame Merkmale auf. Sie wurden überall mit emphatischen Bezeichnungen versehen, um ihren innovativen Gehalt herauszustellen: „Neues Steuerungsmodell“ in Deutschland seit 1978, „New Public Management“ im Vereinten Königreich seit 1979, „Renouveau du service public“ in Frankreich seit 1989, „Modernización“ in Spanien seit 1992. Die schöne Formulierung „Re-inventing government“, von David Osborne und Ted Gaebler 1992 in den Vereinigten Staaten geprägt, wurde in vielen europäischen Ländern übernommen. Verwaltungsreformen waren in Ländern mit konservativen Regierungen, etwa Großbritannien in den Jahren von 1979 bis 1997, genauso verbreitet wie in Ländern mit linksgerichteten Regierungen, etwa Frankreich von 1981 bis 1986, von 1988 bis 1993 und von 1997 bis 2002, oder in Ländern mit Koalitionsregierungen wie Deutschland und Italien. Ähnliche Verwaltungsreformen wurden in Ländern mit erheblich voneinander abweichenden Verwaltungskulturen durchgeführt. Die Reformen wurden nahezu immer von der Regierung ausgearbeitet, aber kaum jemals von der Opposition bekämpft. Zum Beispiel wurden Verwaltungsreformen in Frankreich durch Jacques Chirac im Jahre 1986 initiiert, von Michel Rocard im Jahre 1988 fortgeführt und von Edouard Balladur und Alain Juppé von 1993 bis 1997 weiterentwickelt. Man kann sie folglich als parteiübergreifend betrachten. Daraus ergibt sich, dass Verwaltungsreformen ein Instrument zur Modernisierung der öffentlichen Verwaltungen waren, unabhängig davon, wer die Regierungsmehrheit stellte. In dieser Angelegenheit besteht ein Konsens zwischen Regierung und Opposition.

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Eine weitere Veränderung hängt mit dem Kontext der Verwaltungssysteme in Europa zusammen. Nach traditioneller Auffassung ist das Verwaltungsrecht ein auf der Verfassung gegründeter Zweig des öffentlichen Rechts und daher sehr eng mit dem Nationalstaat verbunden. Der Staat bietet den exklusiven Rahmen für den Verwaltungsapparat. Diese herkömmliche Ansicht vermag in ihrer Absolutheit freilich nicht länger zu überzeugen. Jenseits des Staates gibt es supranationale und globale Akteure, die Maßstäbe für die nationalen Verwaltungen setzen und deren innerstaatliche Umsetzung überwachen. Nationale Behörden sind sowohl den übergeordneten Teilen der Exekutive und der Legislative ihres Staates als auch den supranationalen und globalen Akteuren gegenüber verantwortlich. Während der Staat die Kontrolle über Ressourcen und Legitimationsprozesse bewahrt hat, hat er seine ausschließliche Kontrolle über das Recht und die öffentliche Wohlfahrt verloren. Dies führt zu einer „Situation struktureller Ungewissheit“[86].

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Das Recht, das sich jenseits des Staates insbesondere auf europäischer Ebene herausbildet, basiert auf der Anerkennung einiger grundlegender Prinzipien der gemeinsamen Tradition der Staaten (z.B. der rule of law) und auf der Neubestimmung einiger anderer Konzepte, wie etwa der Begriff „Einrichtung des öffentlichen Rechts (body governed by public law)“ gebraucht wurde, um den öffentlichen vom privaten Sektor zu trennen. Nationale Verwaltungen sind nunmehr staatlich wie überstaatlich eingebunden und üben eine Doppelfunktion aus: Sie sind sowohl Akteure des Staates als auch externer Autoritäten. Nationale Verwaltungen dienen daher zwei bzw. mehreren Herren und sind folglich auch einer größeren Anzahl von Spannungen ausgesetzt.

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Diese Entwicklungen haben bedeutende Veränderungen herbeigeführt. Innerhalb des Staates hatten sie eine Fragmentierung zur Folge. Da nationale Behörden nun gegenüber Stellen auf supranationaler und globaler Ebene verantwortlich sind, ist ihre Einheitlichkeit gefährdet. Der europäische Rechtsraum ist dabei das bei weitem wichtigste, aber keineswegs einzige einschlägige Phänomen. Außerhalb des Staates wird die leichtere Verbreitung verwaltungsrechtlicher Institute ermöglicht: Wenn die globale Ebene einheitlicher ausgestaltet ist, erleichtert dies Übertragungen von einem nationalen Rechtssystem in ein anderes. Das Ergebnis dieses Prozesses sind wachsende Übereinstimmungen. Insgesamt sind die nationalen Verwaltungssysteme immer weniger an rein nationale Kontexte gebunden.

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Ein weiterer Aspekt des Wandels besteht darin, dass das Verwaltungsrecht vom Verfassungsrecht durchdrungen worden ist.[87] Die Ausweitung der in der Verfassung gewährleisteten Rechte durch die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte führte zu einer Entwicklung, die – zugespitzt formuliert – das Verwaltungsrecht zum „konkretisierten Verfassungsrecht“[88] werden lässt. Diese Entwicklung schmälert die Rolle der Verwaltungsgerichte als letzter Entscheidungsinstanz über Verwaltungshandeln, außer in Ländern wie Frankreich, wo der Conseil d’État eine übergeordnete Stellung bewahrt und der Conseil constitutionnel erst in jüngster Zeit die Kompetenzen eines echten Verfassungsgerichts erlangt hat.

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Ein anderer Aspekt bezieht sich auf das Verhältnis zwischen kollektiven Entscheidungen und der Verwaltung. Ursprünglich mussten kollektive Entscheidungen ihren Weg über die nationalen Parlamente nehmen: Die Legislative erließ Gesetze, die Ziele im Bereich der Verwaltung festlegten, Aufgaben zuwiesen und Verfahrenserfordernisse regelten. Der Verwaltungsapparat war anschließend aufgerufen, diese Gesetze umzusetzen. Die Legitimität der Verwaltungsbehörden resultierte aus der von ihnen vorgenommenen Umsetzung der Gesetze. Legalität bedeutete daher zugleich auch Legitimität.

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Dies entspricht heute jedoch nur noch teilweise der Wahrheit. Der gesellschaftliche Druck auf den Verwaltungsapparat hat stetig zugenommen, und der Regierungsapparat hat sich diesem Druck geöffnet. Zu beobachten ist zum Beispiel die Herausbildung von Teilhaberechten. Die Verwaltungsbehörden treffen ihre Entscheidungen nicht mehr hinter verschlossenen Türen, sondern informieren die Betroffenen über die anstehenden Entscheidungen und diskutieren ihre Überlegungen im Vorfeld mit ihnen. Die durch das Parlament vermittelte Legitimation reicht nicht aus; vielmehr gibt es eine weitere Art von Legimitation, die „Legitimation durch Verfahren“[89]. Da die nationalen Verwaltungen für die Verfahrensbeteiligten zugänglicher werden, besteht jedoch eine wachsende Gefahr, dass sie von privaten Interessen vereinnahmt werden. Das zweite Beispiel betrifft die gesetzliche Ermächtigung. Nach herkömmlicher Auffassung ist Verwaltungsrecht „hoheitlich“, was metaphorisch gesprochen bedeutet, dass es von „oben kommt“. Das Ziel der gesetzlichen Ermächtigung besteht darin, die Bürger – insbesondere die benachteiligten – in die Lage zu versetzen, ihre Rechte gegenüber dem Staat durchzusetzen. An dieser Stelle spielen der Staat und die Verwaltung eine doppelte Rolle: Sie erkennen Rechte an und stellen zugleich Mittel zu deren Durchsetzung bereit.

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Schließlich verlangen Anordnungen der Verwaltung nach dem herkömmlichen Denkmuster unbedingten Gehorsam. Dieses hoheitliche Verständnis fasst allerdings nicht mehr das Gesamte der Verwaltung: Nunmehr fördern die Verwaltungsbehörden, sie geben Anreize zwecks Lenkung; ihre Adressaten werden dazu ermuntert, sich nach administrativen Vorgaben zu richten. Der Wohlfahrtsstaat zeigt sich großzügig gegenüber den Bürgern, vor allem in den Bereichen Gesundheit, soziale Sicherheit und Arbeit. Der Regulierungsstaat (regulatory state) lässt den privaten Unternehmen größeren Freiraum, wodurch seine eigenen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Der ermöglichende Staat (enabling state) schafft eine „Republik der freien Wahl“[90], in der die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen „outgesourct“ wird und „Gutscheine“ gewährt werden, so dass die Bürger ihre Dienstleistungsanbieter frei wählen können. Diese Trends zeigen sowohl die Stärken als auch die Schwächen des Verwaltungsstaates auf. Sie sind ein Zeichen seiner Fähigkeit, sich an eine neue Umgebung anzupassen, in der die Bürger eine aktivere Rolle im öffentlichen Leben spielen. Aber sie offenbaren auch, dass der Staat überlastet ist und deshalb die Notwendigkeit besteht, neue Wege der Aufgabenerfüllung zu finden.

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Sowohl der soziale, als auch der regulierende und der ermöglichende Staat hatten gewichtige Auswirkungen auf die herkömmliche Struktur des Verwaltungsrechts. Der Wohlfahrtsstaat bietet seinen Bürgern Dienstleistungen („Etat Providence“), so dass sich die Funktion der Verwaltung nicht länger darauf beschränkt, den Bürgern Verpflichtungen aufzuerlegen. Der regulierende Staat setzt auf mehr oder weniger unabhängige Regulierungsbehörden,[91] welche die zu treffenden Entscheidungen im Bereich der Regulierung aus den Händen der Politiker nehmen und damit zur Fragmentierung des Staates beitragen. Der Verwaltungsstaat ist damit nicht länger einheitlich. Dies schafft die Notwendigkeit, die verschiedenen Behörden in eine Art von zusammengesetzter Verwaltung (joined-up government[92]) zu integrieren. Der Staat wird in wichtigen Hinsichten zu einem Partner privater Akteure und arbeitet mit diesen auf Augenhöhe zusammen. Folglich hat die Verwaltung ein weiteres ursprüngliches Charakteristikum in manchen Bereichen verloren: ihre „Hoheitlichkeit“; diese wurde ersetzt durch „normativité dialoguée“ und „gouvernance partagée“.[93]

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Die drei klassischen Paradigmen des Verwaltungsstaates sind das Paradigma von „Herrschaft und Kontrolle (command and control)“, dasjenige der Einheitlichkeit sowie dasjenige von der Verwaltung als hoheitliche Institution, als übergeordnete Instanz. Die neuen Entwicklungen, auch zugespitzt als „Demontage des öffentliches Rechts“ bezeichnet,[94] schufen die Notwendigkeit einer „neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ und eines „New Public Management“.[95] Da die meisten dieser verschiedenen Formen von Verwaltung nebeneinander bestehen, liegt eines der Hauptprobleme derzeit in deren institutioneller Schichtung und ihrem nicht selten unbefriedigendem Zusammenspiel. Joseph Weilers Beschreibung des zeitgenössischen Völkerrechts passt auch auf das Verwaltungsrecht: „Thus, geology allows us to speak not so much about transformations but of layer- ing, of change which is part of continuity, of new strata which do not replace earlier ones, but simply layer themselves alongside. Geology recognizes eruptions, but it also allows a focus on the regular and the quotidian“.[96] Einer der interessantesten Gegenstände der Analyse des Aufstiegs und der Entwicklung des Verwaltungsstaates ist diese Gemengelage aus heterogenen Elementen und deren Interaktion: Hoheitliche Geste und bürgerfreundliches Entgegenkommen, parteipolitische Indienstnahme und professionelle Neutralität, etatistische Privilegierung und prinzipielle Gleichheit bestimmen den heutigen Verwaltungsrechtsdiskurs.

Einführung§ 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa › Bibliographie

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