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IV. Gemeinsame Entwicklungen: Eine Sache der Interpretation

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Der vorangegangene Überblick zeigt, dass Interpretation eine Rolle spielt. Aber war die Interpretation der rechtlichen Situation in dem jeweiligen Nachbarland zutreffend? Um die Dinge im richtigen Zusammenhang zu sehen, ist zunächst die Tatsache zu berücksichtigen, dass die Modelle überwiegend in der postnapoleonischen Ära entwickelt wurden, als – wie erwähnt – Frankreich und England die beiden führenden Weltmächte waren, die oft miteinander Krieg führten, und ihre Denker deshalb aufmerksam auf die jeweils anderen schauten (man denke nur an Burke auf der englischen und Tocqueville auf der französischen Seite) und oft die Differenzen betonten. Die nationalistischen Bewegungen[47] spielten ebenfalls eine wichtige Rolle. Dieser Kontext beeinflusste die Sicht auf das fremde Rechtssystem in Frankreich und England im Allgemeinen und die Konzeptionalisierung des jeweiligen Verwaltungsrechtssystems im Besonderen.

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Zweitens waren beide Länder über Steuern finanzierte „Militärstaaten“: Sie hatten große Armeen zu führen, zu unterhalten und zu bezahlen und beanspruchten daher eine große Geldsumme von ihren Steuerzahlern. Interessanterweise ist festzustellen, dass Verteidigung und Finanzwesen gewöhnlich nicht zu den Bestandteilen des üblichen Bildes gehören, welches Verwaltungshistoriker zeichnen. Könnte sich das vorherrschende Verständnis ändern, wenn diese Aspekte miteinbezogen würden?

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Drittens hatten beide Regierungen große Kolonialreiche zu verwalten. Das schuf in beiden Ländern einen Verwaltungsapparat mit spezifischer Verwaltungskultur, welche die Professoren aus Oxford und Paris, die zumeist allein die Verwaltung des Mutterlandes betrachteten, weitgehend ausblendeten. Viertens kann man in beiden Ländern während des 19. Jahrhunderts eine zunehmende „rechtsstaatliche Domestizierung der Verwaltung“[48] beobachten. Die parlamentarischen Kräfte entfalteten sich, die gesetzgeberische Tätigkeit nahm zu und die Verwaltung wurde in wachsendem Maße durch die Gesetze gebunden. Das Legalitätsprinzip führte zu einer Unterordnung des Verwaltungsapparats unter das Parlament. Mit der Zunahme der Gesetzgebung im Bereich der Verwaltung gingen eine quantitative wie qualitative Ausweitung der Verwaltungsaufgaben und eine Vergrößerung der Bürokratien einher. Fünftens ist anzumerken, dass dann, wenn es sich bei dem französischen Verwaltungsrecht seinerzeit um ein spezielles und privilegiertes Rechtsgebiet handelte, dies auch auf das englische Recht zutrifft, wo „die britische Krone eine Menge von Sünden zudeckt“[49], ausgehend von dem Prinzip „the King can do no wrong“.

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Nach allem ist das vorherrschende historische Narrativ insofern nicht korrekt, als es der Zentralisierung die Selbstverwaltung und dem Verwaltungsrecht die rule of law gegenüberstellt. Das Narrativ ist das Ergebnis einer gemeinsamen Vorstellung von Unterschieden oder Gegensätzen, die durch die parallel verlaufenden Geschichten Frankreichs und Englands im 19. Jahrhundert und die Entwicklung nationalistischer Bewegungen im 20. Jahrhundert produziert wurde.

Einführung§ 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa › V. Die Nachzügler

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