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I. Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung im europäischen Rechtsraum

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Die Ausbildung von Staatlichkeit, Verwaltung und Verwaltungsrecht in Deutschland lässt sich in vielen Perspektiven mit ganz unterschiedlichen Erkenntnisinteressen beschreiben. Der vorliegende Beitrag wählt die Perspektive des europäischen Rechtsraums, weil dieser an Art. 3 Abs. 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) anknüpfende Begriff aus mehreren Gründen besonders geeignet erscheint.[1] Der Singular zeigt an, dass es um ein neues Ganzes geht, welches das Bisherige, die einzelnen Nationalstaaten, transzendiert. Zugleich vermeidet der Begriff sowohl eine föderale als auch eine rein völkerrechtliche Deutung dieses neuen Ganzen und so eine Positionierung in der ältesten und prinzipiellsten Kontroverse der europäischen Integration. Stattdessen eröffnet er, ähnlich wie der Schlüsselbegriff des Staates in den verfassungsrechtlichen Kämpfen des 19. Jahrhunderts, der weder an den Monarchen noch an das Volk anknüpfte,[2] eine für beide Verständnisse akzeptable und tragfähige Basis, um das neue Ganze zu erfassen. Zudem ist dem Begriff des europäischen Rechtsraums eine Dimension unmittelbarer Anschaulichkeit zu Eigen, nachvollziehbar für jeden Bürger, der sich innerhalb der Europäischen Union bewegt – anders als Leitbegriffe wie „Verbund“, „Mehrebenensystem“ oder „Netzwerk“.

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Bezugspunkt des europäischen Rechtsraums ist das durch die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen definierte Territorium der Europäischen Union. Dabei ist die Kombination von Staatlichem und Supranationalem wesentlich. Kern des Begriffs „europäischer Rechtsraum“ ist die Feststellung, dass die rechtliche Organisation dieses Territoriums ebenso durch mitgliedstaatliche wie unionale Normen erfolgt, um die Ziele des EU-Vertrages im Rahmen einer neuen politischen und rechtlichen Einheit zu verwirklichen. Entsprechend mutieren der einsilbige Staat zum Mitgliedstaat,[3] die Staatsverwaltung zum Glied einer Mehrebenenverwaltung, die souveräne staatliche Rechtsordnung zur Teilrechtsordnung. Anders als im globalen und völkerrechtlichen Zusammenhang sind die – auch sinnlich wahrnehmbare – Abschaffung innerer Grenzen und eine gemeinsame Definition, eine gemeinsame Abgrenzung gegenüber anderen Räumen, begriffsbestimmend. Der öffentlich-rechtliche Aspekt dieses Rechts im europäischen Rechtsraum lässt sich als das neue ius publicum europaeum bezeichnen.

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Dieser Befund und die mit ihm zusammenhängende Entwicklung verlangen nach wissenschaftlicher Orientierung und Neuvermessung zentraler Begriffe in vergleichender Perspektive. Dafür ist eine Reflexion des Entwicklungspfades der erfassten Staaten und Rechtsordnungen unverzichtbar.[4] Eine der wissenschaftlichen Herausforderungen des europäischen Rechtsraums besteht also darin, einschlägige Ereignisse und Erzählungen der mitgliedstaatlichen Entwicklungspfade in seiner Perspektive neu zu ordnen und damit auch für die dogmatische und anwendungsbezogene Rechtswissenschaft eine den veränderten Gegebenheiten angemessene Orientierung zu entfalten. Daneben sind die einzelnen (Teil-) Rechtsordnungen in ein „Gespräch“ zu bringen, das Identität und Differenz zugleich sucht, um auf dieser Erkenntnisgrundlage den gemeinsamen Rechtsraum zu verstehen und zu gestalten.

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In diesem Sinne beschreibt der vorliegende Beitrag die Grundlagen von Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht in Deutschland. Die neue Perspektive hebt sich von anderen Zugangsweisen ab, die im Folgenden zur Präzisierung des Ansatzes sowohl dieses Beitrags wie des gesamten Projekts Ius Publicum Europaeum skizziert seien.[5]

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Im Zugriff philosophischer, historischer oder soziologischer Großtheorien bilden Erkenntnisse über die Ausbildung von Staatlichkeit, Verwaltung und Verwaltungsrecht häufig bloße Beispiele der allgemeinen Entwicklung moderner Staatlichkeit. Der Fokus liegt auf den Phänomenen, die den verschiedenen Staaten gemeinsam sind; Differenzen treten zurück.[6] So gewiss solchen Großtheorien wichtige Anregungen zu entnehmen sind, so gewiss ist, dass ihnen Entscheidendes fehlt: die für den europäischen Rechtsraum konstitutive Vielfalt, deren normative Werthaltigkeit Art. 4 Abs. 2 EUV zum Ausdruck bringt. Ebenso wenig entspricht der Grundannahme des Art. 4 Abs. 2 EUV eine Vergleichung im Stile der innerdeutschen einheitsorientierten Verwaltungsrechtsvergleichung, sei es im 19. Jahrhundert zwecks Bildung und Kräftigung des deutschen Nationalstaates,[7] sei es in der Bundesrepublik zwecks Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse.[8] Noch weniger überzeugt ein Ansatz, der eine bestimmte Rechtsordnung als exemplarischen Standard und Abweichungen tendenziell als Rückständigkeit versteht;[9] er verletzt den in Art. 4 Abs. 2 EUV ebenfalls niedergelegten Grundsatz der prinzipiellen Gleichwertigkeit der Mitgliedstaaten, die der europäische Rechtsraum vereint. Dies verbietet es auch, zunächst merkwürdig erscheinende, schlecht vergleichbare nationale Gestaltungen als „Sonderfall“ auszugrenzen.[10] Solche Eigenheiten bilden vielmehr einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der einzelnen Rechtsordnung, der eigenen wie einer fremden.[11]

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Aber auch der gegenläufige Ansatz unter einem Paradigma fundamentaler Differenz kann, zumindest im europäischen Rechtsraum, nicht mehr überzeugen. Unter dem Paradigma der Differenz gilt die verwaltungsrechtliche Entwicklung als Aspekt der Entfaltung einer je spezifischen, ja einmaligen Nationalkultur; das national Besondere wird betont.[12] Vielzitiert schreibt Ulrich Scheuner: „Das Verwaltungsrecht gehört zu denjenigen Rechtsmaterien, in denen die nationale Eigenart eines Volkes und Staates sich am stärksten ausprägt.“[13] Ähnliches gilt für Studien, die differenztheoretisch ansetzen.[14] Primär Differenzen ergeben sich oft auch aus Studien, welche die Fülle und Details der historischen Ereignisse in Erinnerung rufen, wie dies etwa bei dem Standardwerk Deutsche Verwaltungsgeschichte der Fall ist.[15]

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Die Eigentümlichkeit des europäischen Rechtsraums, die Suche nach „Einheit in Vielfalt“,[16] verlangt in gleichem Maße Aufmerksamkeit für Identität wie für Differenz im Lichte der Fragestellungen des europäischen Rechtsraums. Zu diesen Fragestellungen gehört der Wunsch nach einem Leitbild zur Orientierung in den verschiedenen Verwaltungsrechtsordnungen, ist doch der europäische Rechtsraum durch Unübersichtlichkeit gekennzeichnet. Für dieses Leitbild bedarf es der Identifizierung prägender Momente, die den bisherigen Entwicklungspfad bestimmt haben: in Deutschland etwa das spezifische Verständnis des Rechtsstaates, der Systemgedanke sowie die tiefgreifende Konstitutionalisierung und Judizialisierung. Aus den unterschiedlichen Konzeptionen und Entwicklungspfaden der einzelnen Verwaltungsrechtsordnungen können sich Hindernisse und Widerstände für, aber auch mögliche Verluste durch Einwirkungen des europäischen Rechtsraums ergeben, die bedacht sein wollen.[17] Auf einer konkreteren Ebene geht es um das Freilegen begrifflicher Differenzen hinter identischen Terminologien, man denke nur an den Terminus „Verwaltungsrecht“.[18] Nicht zuletzt interessieren Traditionen von Offenheit und Abgeschlossenheit bzw. Isolation.

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Vor diesem Hintergrund geht es also, wie die Begriffe Staat und Verwaltung zeigen, um die Entwicklung des öffentlichen Rechts im Kontext. So sehr die Anlage der Bände I und II dieses Handbuchs zum Ausdruck bringt, dass die Verfassung in juristischen Argumentationen nicht als ein bloßes „Kleid“ verstanden werden darf, das sich ein präexistenter Staat umhängt,[19] dass sie kein Gesetz ist, das „sich“ dieser „gibt“, so ist doch der Entwicklungspfad des Verwaltungsrechts untrennbar mit denen des Staats- und des Verwaltungsverständnisses verbunden.[20] Dies legt es nahe, gerade im Rahmen einer vergleichenden Studie, die Begriffe „Staat“, „Verwaltung“ und „Verwaltungsrecht“ in gleicher Weise in den Blick zu nehmen. Sabino Cassese zeigt in seinen einführenden Betrachtungen zu diesem Band (§ 41), wie man dies machen kann.

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Die Teile II und III dieses Beitrags verfolgen den Entwicklungspfad von Staatlichkeit, Verwaltung und Verwaltungsrecht bis zur Schwelle des Grundgesetzes. Dies erfolgt jedoch nicht in historischer, sondern in analytischer Absicht: Das historische Material dient primär dem Verständnis der Gegenwart, insbesondere des europäischen Rechtsraums. Das mag geschichtswissenschaftlich problematisch sein;[21] es geht hier jedoch nicht darum, historischen Phänomenen in ihrer Komplexität gerecht zu werden, sondern historisches Wissen für rechtswissenschaftliche Reflexionen und Argumentationen aufzubereiten.[22] Teil IV unterbreitet dann den Entwicklungspfad unter dem Grundgesetz, während der abschließende Teil V den Versuch einer begrifflichen Bestimmung des Verwaltungsrechts unternimmt, die dessen Kontinuität und Wandel wiedergibt.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen§ 42 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland › II. Die Entfaltung von Staat und Verwaltung

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