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b) Das Verwaltungsrecht als Umsetzung des konstitutionellen Rechtsstaates

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Von Vertretern einer steuerungsorientierten Konzeption des Verwaltungsrechts wird das Steuerungsrecht des 18. Jahrhunderts heute allenfalls als frühe Vorstufe gewertet. Das Policeyrecht weist in der Tat mindestens zwei wesentliche Defizite auf: die ideologische Ausrichtung auf die Erziehung und Beglückung des Untertans sowie das regelmäßige Fehlen gerichtlichen Schutzes. Vor diesem Hintergrund taucht der Begriff Verwaltungsrecht auf. Er steht für Bemühungen, die überkommene Konstellation zu überwinden; er hat eine transformatorische, ja zumindest partiell[109] emanzipatorische Absicht. Den gemeinsamen Nenner der diversen Konstruktionen bildet die Anerkennung des betroffenen Privaten als Rechtssubjekt durch Stellen, die über Hoheitsmacht verfügen.[110] Durch diese Anerkennung mutiert der Untertan zum Bürger. Von hieraus eröffnet sich eine bedeutende Perspektive auf den europäischen Rechtsraum, denn eine vergleichbare Entwicklung soll sich in neuer Form im europäischen Rechtsraum wiederholen und ist noch nicht abgeschlossen.[111] Mit Blick auf die internationalen Bürokratien, die in den europäischen Rechtsraum hineinwirken, hat sie kaum begonnen.[112]

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Der Kampf um Anerkennung im 19. Jahrhundert als Teil der konstitutionalistischen Bewegung lässt sich nur vor dem Hintergrund der Französischen Revolution und der französischen Besatzung Deutschlands verstehen. Zwar verändert diese Zäsur das Policeyrecht als ein Instrument des Landesherrn[113] nicht sofort, zumal es ein wesentliches Instrument der tiefgreifenden Reformen des beginnenden 19. Jahrhunderts war. Die legitimatorische Unhaltbarkeit der dem Policeyrecht zugrunde liegenden Konzeption des Verhältnisses von Staatsmacht und Individuum wird jedoch alsbald klar. Selbst konservative Denker akzeptieren dies mit dem Begriff des Rechtsstaates.[114] Allerdings bleiben Grad und Institutionen dieser Emanzipation lange umstritten, und es wäre ein Irrtum, die Entwicklung im 19. Jahrhundert als linearen Fortschrittsprozess zu deuten. Insoweit sei nur an die Epochen der Restauration in der ersten und des Neoabsolutismus in der zweiten Jahrhunderthälfte erinnert. Dies sollte man auch bedenken, wenn Rechtsstaat und Verwaltungsrecht des 19. Jahrhunderts als liberal bezeichnet werden:[115] Angesichts zahlreicher autoritärer und undemokratischer Momente kann eine solche Bezeichnung, zumindest in der Perspektive des Freiheitsverständnisses des Grundgesetzes,[116] nicht überzeugen.[117] Der Kampf um Anerkennung begann im 19. Jahrhundert, kam aber dort nicht zu einem siegreichen Abschluss.

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Daher etablieren sich auch erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Eckpunkte, aus denen das Verwaltungsrecht schrittweise zu einem rechtsstaatlichen Verwaltungsrecht geformt wird. Der Begriff Policeyrecht wandert in das historische Kapitel der Verwaltungsrechtslehrbücher, zumeist mit der Aufgabe, den neuen Schlüsselbegriff, das rechtsstaatliche Verwaltungsrecht, besonders hell strahlen zu lassen. Das allumfassende Policeyrecht schrumpft zum Polizeirecht der Gefahrenbekämpfung, und dies produziert die wichtigsten Fälle des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts – etwa das berühmte Kreuzberg-Urteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichts.[118] Gewiss wäre es falsch, nun ein „Weniger“ an Verwaltung anzunehmen; mit dem gewaltigen Aufbau bürokratischer Institutionen verstärkt sich der staatliche Zugriff auf die Bürger. Aber immerhin beginnt in einem Bereich eine rechtsstaatliche Rationalisierung, auf denen das heutige Verwaltungsrecht aufbaut.

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Dreh- und Angelpunkt dieses Verwaltungsrechts ist das bereits skizzierte, demokratisch kupierte Rechtsstaatsprinzip.[119] Entgegen materiellen, sogar demokratisch inspirierten Ansätzen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt sich in der zweiten Hälfte ein formales Verständnis des Rechtsstaates durch.[120] „Der Rechtsstaat ist der Staat des wohlgeordneten Verwaltungsrechts“.[121] Es ist für das deutsche verwaltungsrechtliche Denken der Zeit bezeichnend, wenn Otto Mayer schreibt: „Es handelt sich wesentlich nur um zwei Gewalten: die gesetzgebende und die vollziehende. Die sogenannte richterliche, die man gern noch unterscheidet, hat keine selbständige Bedeutung.“[122] Hierin scheint zunächst die bis heute bestehende Schwierigkeit auf, den durchaus erkannten rechtsschöpferischen Gehalt richterlicher Entscheidungen[123] staatstheoretisch und dogmatisch zu fassen. Weiter zeigt sich die strenge Scheidung von Gesetzgebung und Vollziehung, gekoppelt an die Programmatik, dass die Vollziehung im Gesetz ihre legitimatorische und rechtliche Grundlage finden soll. Der den meisten deutschen Verfassungen jener Zeit zugrundeliegende politische Kompromiss zwischen den liberalen und den monarchischen Kräften läuft darauf hinaus, dass die für die Bürger wesentlichen Entscheidungen in Gesetzesform getroffen werden und das Verwaltungsrecht die Wahrung dieses Kompromisses beim Vollzug durch die monarchisch bestimmte Verwaltung sicherstellt. Entsprechend wird der Rechtsstaat im deutschen Konstitutionalismus im Gesetz und die Verwaltung als Institution des Gesetzesvollzugs zentriert. Dem entspricht eine führende Rolle der Juristen in der deutschen Verwaltung,[124] die inzwischen allerdings, wie in vielen gesellschaftlichen Bereichen, bröckelt.

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Dieses Konzept der Verwaltung als einer (ausschließlich) gesetzesvollziehenden Gewalt hat die Wirklichkeit der Verwaltung natürlich nie völlig eingefangen, schon gar nicht im Kaiserreich. Es war immer klar, dass sich die Verwaltung nicht in der juridischen Gesetzesanwendung erschöpft, und selbst der Grad der Bindung durch das Gesetz war stets umstritten, wie sich etwa am Verwaltungsermessen nachzeichnen lässt, zu dessen Verrechtlichung es erst unter dem Grundgesetz kommen sollte. Gleichwohl ist dieses Konzept überaus wirkungsmächtig, vielleicht weil es mit Max Webers Konzept der rationalen Legitimation verbunden wird und die Legitimationsgrundlage der modernen Bürokratie stärkt.[125] Bis zum heutigen Tage gibt es den Idealtypus, dass es sich beim Verwaltungsrecht um Gesetzesnormen handelt, die eine Verwaltung mittels juristischer Methoden zu Verwaltungsakten verdichtet und anwendet, insbesondere wenn diese in die Rechtssphäre des Bürgers eingreifen. Diese Konzeption steht einem angemessenen Verständnis zeitgenössischer Herrschaft im europäischen Rechtsraum im Wege, da sie die gegenwärtige Situation, in der Regierungen und Bürokratien gestaltend tätig werden, nur als „verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Verfallsprozess“ diagnostizieren kann.[126] Vor allem aber lässt sich aus dieser Konzeption kein Verständnis supranationaler und internationaler Verwaltungen entwickeln, die im Wesentlichen nicht vollziehen, sondern konzipieren und, wenngleich oft nur mit weichen Instrumenten, regieren.[127]

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So defizitär dieses Verständnis auch ist, für das Kaiserreich sind Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes große Errungenschaften. Denn sie führen zu einer Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Staat und Untertan, worin ein erstes Moment der Anerkennung liegt. Insbesondere gegen Interessen des Bürgertums, also gegen individuelle Freiheit und Eigentum gerichtete staatliche Handlungen sollen nicht länger als bloße Tatsache akzeptiert werden müssen, sondern in ihren Voraussetzungen, Folgen und vor allem hinsichtlich der gegen sie zur Verfügung stehenden Rechtsmittel rechtlich geregelt sein. Aus diesem Programm heraus entwickelt sich, was über lange Zeit als rechtswissenschaftliche Systembildung das identitätsprägende Moment des deutschen Verwaltungsrechts sein soll: die Bestimmung, welche Regeln auf welche hoheitlichen Handlungen anwendbar sind, wie deren Einhaltung kontrolliert werden kann und welche Folgen eine Rechtswidrigkeit zeitigt.

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So unterbreitet Paul Laband die Rechtsform der Verfügung als Handlungsform, anwendbar auf alle individualbezogenen Handlungen aller Verwaltungszweige, und beschreibt ihre rechtlichen Voraussetzungen sowie die Folgen eines illegalen Verfügungserlasses.[128] In seiner Nachfolge entwickelt Otto Mayer in seinem wegweisenden Lehrbuch von 1895[129] die klassische Handlungsform für einseitige rechtliche Maßnahmen des Staates gegenüber einzelnen Bürgern, die er in Analogie zum französischen acte administratif „Verwaltungsakt“ nennt. Dogmatisch ist dieser am Vorbild des gerichtlichen Urteils und seiner Titelfunktion orientiert,[130] was den Unterschied zum bürgerlichen Recht betont. Mayer zielt auf eine rechtliche Handlungsform, die ähnlich einem Gerichtsurteil die Verwaltung in die Lage versetzen soll, die Rechte und Pflichten von Individuen in vollstreckbarer Weise festzulegen. Insoweit bestätigt er den hoheitlichen Charakter administrativen Tuns: Eingriffe sind ohne gerichtliche Entscheidung möglich. Wie ein Urteil muss auch der Verwaltungsakt, solange er nicht durch einen actus contrarius einer befugten Behörde oder eines Gerichts aufgehoben ist, befolgt werden (sog. Tatbestandswirkung). Der Verwaltungsakt bildet eine dem allgemeinen Kompromisscharakter des Konstitutionalismus entsprechende Handlungsform, die sowohl auf die Effektivität administrativer Maßnahmen als auch, da konstitutiv gerichtlich kontrollierbar, auf den Schutz individueller Rechte abzielt. In ihm findet das Verwaltungsrecht des Konstitutionalismus seine konzeptionelle Mitte. In Max Webers Abstraktion wird dieser formale Ansatz zum Inbegriff moderner Staatlichkeit.[131]

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Der Verwaltungsakt ist als ein begriffliches Instrument konzipiert, das der „flutenden Masse der Verwaltungstätigkeit“ (Otto Mayer) Struktur gibt, aufgrund ihrer normativen Natur aber zugleich Grenzen aufzeigt.[132] Methodisch ist diese verwaltungsrechtliche Konstruktion ebenso typisch wie problematisch. Sie ist weder rein deduktiv aus der Idee des Rechtsstaates gewonnen, noch rein induktiv durch Abstraktion positiven Rechts generiert. Es handelt sich vielmehr um eine gleichsam intuitive Dialektik, inspiriert durch Praxis und Prinzipien: In einem wechselseitigen Prozess definiert Mayer Rechtsnatur und Folgen des Verwaltungsakts auf abstrakt-normativer Ebene und „entdeckt“ diese Handlungsform quasi empirisch in einer Vielzahl von Fällen in der Verwaltungspraxis.[133] Das Hauptverdienst seiner Konstruktion besteht darin, der Verwaltung die Erfüllung ihrer Aufgaben zu erleichtern und sie gleichzeitig transparenter sowie auf Initiative des Betroffenen gerichtlich kontrollierbar zu machen. Das stärkt die Legitimität staatlicher Maßnahmen. Vielleicht erklärt sich so der Erfolg von Mayers Konzept des Verwaltungsakts, das nach seiner ersten Veröffentlichung von Lehre und Praxis schnell aufgenommen wurde und schließlich im Verwaltungsverfahrensgesetz von 1976, wenngleich in modifizierter Form, kodifiziert werden sollte.

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Rückblickend erscheint die Mitte des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts als Schöpfung der Wissenschaft.[134] So bedeutsam der französische Einfluss dabei war, so verdienen doch zwei Unterschiede Beachtung: Die dogmatischen Grundkategorien des deutschen Verwaltungsrechts beruhen auf einer entwickelten Dogmatik des Staatsrechts,[135] während in Frankreich die Dogmatik des Verwaltungsrechts jener des Verfassungsrechts vorangeht; es gab in Frankreich keine dem deutschen ius publicum vergleichbare Tradition.[136] Zudem ist die Rolle der Gerichte und Richter recht verschieden. Während die Dogmatik des französischen Verwaltungsrechts auf den Entscheidungen des Conseil d’État und den Veröffentlichungen seiner Mitglieder beruht,[137] beherrschen Professoren die verwaltungsrechtliche Dogmatik in Deutschland. Gerichtsurteile erlangen nicht die Zentralität, wie sie für das französische verwaltungsrechtliche Denken typisch ist. Ein sprechendes Detail: In Deutschland werden Gerichtsentscheidungen in der Regel nicht im Text als Gegenstand des Systembaus abgehandelt, sondern in den Fußnoten zur Bestätigung wissenschaftlicher Überlegungen angeführt. Dies entspricht dem Systemanspruch im deutschen Denken, dem es wesentlich zu verdanken ist, dass das deutsche Verwaltungsrecht an Bedeutung mit dem französischen gleich ziehen und sich zu einem eigenen Typus verdichten konnte.[138]

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