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2. Die Ausbildung der Verwaltungsgerichtsbarkeit

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Das rechtsstaatliche Verwaltungsrecht verlangt Normativität, und Normativität ist ohne gerichtliche Institutionen kaum zu denken:[139] Der Rechtsstaat verlangt gerichtlichen Rechtsschutz.[140] Man kann die Entwicklung des Verwaltungsrechts im 19. Jahrhundert als Ausdifferenzierung desjenigen Teils des Staatsrechts sehen, dessen Einhaltung unabhängige Institutionen auf eine Klage hin rechtlich zu prüfen haben. Keine andere verwaltungsrechtliche Institution symbolisiert so gut wie der gerichtliche Rechtsschutz die Idee der Anerkennung. Dementsprechend findet das verwaltungsrechtliche Denken, ähnlich wie in vielen Staaten, über lange Jahre seinen Fokus in dieser Perspektive.

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Das lenkt den Blick auf die Entwicklung der einschlägigen Gerichtsbarkeit. Die Trennung der Verwaltungsrechtsprechung von der Verwaltung ist ein Phänomen des 19. Jahrhunderts. Zuvor sind Rechtspflege und Administration funktional wie institutionell oft eng verwoben,[141] eine Konstellation, wie man sie heute auf internationaler Ebene findet, etwa bei der Streitbeilegung in der Welthandelsorganisation oder in der Weltbank.[142] Die „Administrativjustiz“ des Landesherrn überwacht die Ausübung von Hoheitsgewalt durch nachgeordnete Stellen mit Blick auf die „wohlerworbenen Rechte der Bürger“; institutionell und organisatorisch aber bleibt sie Teil der Verwaltung. Den zum Teil noch ständisch verhafteten (ordentlichen) Gerichten sind derartige Streitigkeiten weitgehend entzogen.[143] Damit hilft die Administrativjustiz, wenngleich rechtsstaatlich gewiss mangelhaft, letztlich auch bei der Überwindung ständestaatlicher Verhältnisse.

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Im Zuge der konstitutionalistischen Bewegung gerät die exekutive Einbindung der Kontrollinstanzen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bald unter Druck. Die Forderung nach einer unabhängigen Justiz führt zu § 182 der Reichsverfassung von 1849, der bestimmt: „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte.“[144] Das zielt auf eine Unterstellung der Verwaltung unter die ordentliche Gerichtsbarkeit, potenziell gar unter Geschworenengerichte. Jedoch setzt sich diese „Vergesellschaftung“ der Kontrolle der monarchischen Verwaltung nach dem Scheitern der Revolution von 1848/1849 nicht durch, wohl aber die Idee einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit.[145] Diese konkretisiert sich in gerichtlichen Institutionen mit der Bezeichnung Verwaltungsgerichtshof oder Oberverwaltungsgericht, insbesondere in Baden (1863), Preußen (1872), Hessen-Darmstadt (1875), Württemberg (1876) und Bayern (1879). Diese Institutionen werden regelmäßig mit zu Richtern ernannten hohen und damit in den Augen der Regierung bewährten Beamten besetzt,[146] von denen eine besonders kritische Rechtsprechung nicht zu erwarten war.[147] Den Gerichten vorgelagert bleibt die Eigenkontrolle der Verwaltung im Rahmen von Widerspruchsverfahren. Auf der seit 1867/1871 existierenden Reichsebene erfolgt die Kontrolle dagegen allein in den Reichsämtern;[148] zu einer Verwaltungsgerichtsbarkeit auf der Ebene des Reichs kommt es nicht. Damit zeichnet sich in Deutschland ein drittes Modell neben England und Frankreich ab. Zwar folgt Deutschland dem französischen Beispiel durch die Absonderung einer eigenen Materie des Verwaltungsrechts, die auch über eigene Kontrollinstitutionen verfügt. Anders als viele andere Länder folgen diese Kontrollinstitutionen aber nicht dem französischen Modell eines Staatsrats, der in die Exekutive eingebunden bleibt.[149] Die Kontrollinstitutionen sind vielmehr, wie in England,[150] nach Bezeichnung und Selbstverständnis Gerichte.

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Die alte Trennung von öffentlichem Recht und Privatrecht behält ihre Bedeutung bei, zumal der Kontrollbereich der Verwaltungsgerichte durchaus beschränkt ist. So hängt die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs in der Regel an einer Maßnahme, die Mayer als belastenden Verwaltungsakt dogmatisch fasst. Viele Bereiche unterliegen als „besondere Gewaltverhältnisse“ oder kraft gesetzlicher Anordnung, etwa im Ausweisungsrecht, keiner gerichtlichen Kontrolle. Die gilt zumal für staatspolitisch bedeutende Akte, für die sich der Begriff des justizfreien Hoheitsakts einbürgert. Insoweit bildet sich das deutsche Verwaltungsrecht als der „unpolitische“ Teil des öffentlichen Rechts aus, beherrscht durch juristisches und „sachliches“ Denken.[151] Bei nicht wenigen Autoren gerät die Politikferne des Verwaltungsrechts zu einem Ideal.

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Umstritten ist über lange Zeit die eigentliche Stoßrichtung der gerichtlichen Kontrolle. Frühe Konzeptionen, so bei Paul Laband und Rudolf von Gneist, konzipieren sie analog zum französischen Modell als eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle. Subjektiv-öffentliche Rechte im heutigen Verständnis sind dogmatisch vor dem Hintergrund des alle Hoheitsgewalt monopolisierenden Staates zunächst kaum konzipierbar.[152] Erst Georg Jellineks Begründung von subjektiv-öffentlichen Rechten in der freien Selbstverpflichtung des Staates[153] bietet eine Plattform, auf der sich die verwaltungsgerichtliche Kontrolle als eine Institution des Rechtsschutzes, des Schutzes individueller Rechte, in Deutschland durchsetzt. Diese Konzeption soll überaus erfolgreich sein: Gerichtliche Kontrolle und (subjektiver) Rechtsschutz entwickeln sich fast zu Synonymen, was das Verständnis anderer Zugänge wie derjenigen in Frankreich, dem Vereinigten Königreich oder der Europäischen Union erschwert.

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Die rechtsstaatlichen Institutionen des 19. Jahrhunderts legen Grundlagen für ein rechtliches Anerkennungsverhältnis und damit für die Emanzipation des Untertans zum Bürger. Die sich im weiteren Verlauf durchsetzende Konzeption der gerichtlichen Kontrolle als Institution des subjektiven Rechtsschutzes führt zu einer spezifischen Sicht:[154] Das aus der Perspektive des Rechtsschutzes konzipierte Verwaltungsrechtsverhältnis begreift den Bürger als Verfechter seiner rechtlich geschützten Interessen. Darüber hinausgehende öffentliche Interessen stehen außerhalb dieser Konzeption. Aus diesem Vermächtnis resultieren wichtige Spannungen zwischen dem deutschen Verwaltungsrecht und dem Recht der europäischen Integration.[155]

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