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2.5 Der polizeiliche Raumdiskurs
ОглавлениеDie Auseinandersetzung mit der polizeilich definierten physischen Lebenswelt der Landjäger enthüllt eine eigene Lexik, die in ihrer Bedeutung und Eigentümlichkeit eine spezielle Betrachtung erfordert. Der Begriff Raumdiskurs wird im Sinne Foucaults als ein «sprachlich produzierter Sinnzusammenhang» verstanden, «der bestimmte Vorstellungen forciert, die bestimmte Machtstrukturen und Interessen gleichzeitig zur Grundlage haben und erzeugen».261 Die Diskursanalyse setzt mit anderen Worten bei der organisationsintern verwendeten Lexik an. Im Zentrum des Interesses steht die Suche nach dem Sinnzusammenhang, der sich hinter den mehrschichtigen Dimensionen der gewählten Begriffsgruppen versteckt.
Im Grunde genommen wäre das Zirkulationsund geografische Haupttätigkeitsfeld der Bündner Landjäger des frühen 19. Jahrhunderts schnell umschrieben: Es umfasste das ganze Kantonsgebiet. Insofern gab es, so wie es im polizeilichen Diskurs ganz allgemein und bis in die Gegenwart die Regel ist, keine wirklichen Verbotszonen, sondern nur das ganze Hoheitsgebiet. Damit ist jedoch bereits die erste Problematik angesprochen: die Privatsphäre. Sie konnte von der Polizei nur dann betreten werden, wenn sie durch hoheitliche beziehungsweise rechtliche Befugnis dazu aufgefordert wurde. Dies verdeutlicht, dass der polizeiliche Handlungsspielraum tatsächlich voll umfassend war, dass die Polizeibeamten jedoch Zonen eingeschränkten Rechts berücksichtigen mussten. Das Überschreiten einer festgelegten Grenze, welche in einem modernen Rechtsstaat durch eine gerichtliche Befugnis erfolgen kann, blieb im jungen und sehr föderalistisch geprägten Kanton Graubünden, in Abwesenheit zentralisierter Gerichte für die einheimische Bevölkerung und angesichts der erhaltenen starken Autonomie der Gerichtsgemeinden, de facto nur den lokalen Obrigkeiten vorbehalten. Primär steht hier deshalb die Umschreibung desjenigen Handlungsraums im Fokus, den die Landjäger ohne spezielle Verfügung zu durchstreifen und zu überwachen hatten.
Der Diskurs innerhalb der Polizeiinstitution konzentrierte sich erwartungsgemäss weniger stark auf die Beschreibung schöner Pässe und idyllischer Szenerien, wie sie in der damaligen Reiseliteratur anzutreffen war, 262 sondern interessierte sich vielmehr für die Schattenseiten der Landschaftstopografie. Die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Geowissenschaften manifestierende Unterteilung in sogenannte Aktiv- und Passivräume263 kann im polizeilichen Raumdiskurs als ein entgegengesetzten Vorzeichen unterworfenes Dichotomisierungsschema betrachtet werden. Passivräume waren hierbei nicht Zonen abwesender anthropogener Aktivität, sondern als Rückzugsort und Versteck diejenigen Territorien, in welchen die gesuchten oder ausgeschriebenen Personen am ehesten zu vermuten waren. Als Beispiele für die Rückzugsräume verdächtiger Personen können die zahlreichen Weisungen betrachtet werden, die der Verhörrichter den jeweiligen Landjägern bei einem bevorstehenden Postenwechsel zur Erinnerung weitergab. Dem in Mesocco stationierten Landjäger Joseph Sandriser etwa, welcher von Johann Baptista Bergamin abgelöst werden sollte, schrieb der Verhörrichter:
«[E]r [Sandriser, M. C.] hat denselben in seinem ganzen Bezirk herum zu führen, allen H[erren] Vorstehern vor zu stellen, den selben auf alle verdächtige Leüte aufmerksam zu machen, alle verdächtige Häuser, Schlupfwinkel, Ausörter zu zeigen, dann anher zu kommen.»264
Die hier anzutreffende Raumkonstellation ist schnell nachgezeichnet: Der Aktivraum oder eben der hauptsächliche Aufenthaltsraum der Gejagten ist der Passivraum des sich sittlich korrekt Verhaltenden beziehungsweise des im Kantonsgebiet Tolerierten.265 Diese räumliche Abgrenzung wird in den Begriffen «Ausörter» und «Schlupfwinkel» besonders klar erkennbar. Dabei suggeriert insbesondere letztgenannter Begriff eine Art Randzone, in die sich die Zielgruppe zurückzog oder eben (zurück) schlüpfte. Das Verb (sich zurück)schlüpfen verweist ganz allgemein auf die Vorstellung des Verborgenen und Versteckten, wodurch es sehr gut mit dem im Zitat zweimal auftauchenden Adjektiv verdächtig zusammenpasst und dieses verstärkt. Die Bezeichnung der Schlupfwinkel war im polizeilichen Raumdiskurs fest verankert und erfuhr auch in den Instruktionen eine Schlüsselrolle:
«Jeder Landjäger soll alle in seinem Bezirke befindliche verdächtige fremde, […] alle verdächtige Häuser, auch alle Ausörter, Schlupfwinkel, Feldküchen und Züge, wo Vaganten und Fremde gewöhnlich zu übernachten oder sonst zu lagern und zu gehn pflegen, möglichst auskundschaften, jede diesfällige Auskundschaftung sogleich dem Verhörrichter-Amt anzeigen, auch für sich, zur bessern Bezeichnung an die etwaigen Nachfolger, aufzeichnen. […Er soll] alle erwähnten Orte, auch Waldungen und Nebenstrassen, besuchen […].»266
Das Zitat zeigt, dass erwartungsgemäss nicht alle topografischen Bezeichnungen metaphorischen Charakters waren, dass aber selbst konkret interpretierbarere Begriffe wie «Waldungen» und «Nebenstrassen» das ständig anzutreffende Bild des Dunklen und Furchterregenden suggerieren. Dadurch verkam die vom polizeilichen Diskurs geprägte Topografie des Landjägerraums zum Credo der Polizeibeamten: Der gebrauchte Wortschatz führte zu einer Kodifizierung der Umwelt, die nach Unterscheidungskriterien wie Licht- und Schattenzonen gegliedert war und die Probabilität hinsichtlich des Ertappens von Zielgruppenpersonen ermöglichen beziehungsweise erhöhen sollte. Hierin zeigt sich die Machtkomponente des Diskurses, indem er definiert, was «als wahr oder falsch, normal oder anormal, dazugehörig oder ausgrenzbar zu gelten hat»267.
Deutlich wird, wie solch abgrenzende Betrachtungsweisen relativ einfach zu ideologischen Automatismen, das heisst zur Einteilung des physischen Lebensraums in abgestufte Gefahrenzonen führten: Den ablösenden Landjägern wurden die Rollen und die Raumgliederung mit den jeweiligen Konnotationen268 bei einem Postenwechsel in Form einer bereits vorgezeichneten mentalen Karte (der Instruktionsparagraf sprach ja bekanntlich von einem Aufzeichnen) präzise übertragen. Oberstes Ziel war die Reinhaltung des Bezirks vor unerwünschten Personen. Diese Richtlinie wird auch in den Landjägerrapporten manifest: Nachdem etwa der provisorische Landjäger Christian Grass d.Ä. im April 1834 Johann Webers Posten in Ponte übernommen hatte, berichtete er am letzten Arbeitstag desselben Jahres, dass er seinen «Bezirck vom Frömden Bätelgesindel zimlich Rein hab[e] jezt».269 Das Kantonsgebiet war in diesem diskursiven Kontext ein Raum, der unbeschmutzt sein sollte. In seiner kurzen Zusammenfassung zu den Verrichtungen des Landjägerkorps wurde dieser Aspekt vom Thusner Pfarrer Leonhard Truog (1760–1848) ganz besonders hervorgestrichen: «Die Landjäger sind […] in allen Gegenden des Cantons vertheilt [… und] säubern es […] von gefährlichem Gesindel.»270 Im bestmöglichen Fall sollten die dunklen Zonen ausgeleuchtet, von Schmutz befreit und auf die Dauer rein gehalten werden, so wie es Grass im Verlauf eines Dreivierteljahres durchgeführt zu haben versicherte. Die akzentuierten Dichotomisierungen von gut und schlecht, rein und unrein, sittlich und unsittlich, eingegliedert und randständig haben eine lange Tradition, die im sich konstituierenden bürgerlichen Rechtsstaat und dem damit verbundenen Instrument der Verwaltungssystematisierung und Datenerhebung zementiert wurden. Diese Gouvernementalität271 war jedoch nur aussagekräftig und auch für weitere Verwaltungsschritte anwendbar, wenn sie lückenlos war und keine Schattenzonen gewährte.
Auffallend ist in diesem Raumbefreiungsdiskurs die wiederholt auftauchende Symbolik von Jäger und Gejagtem. Dass es sich bei diesen Begriffen (die Landjäger trugen ihre Hauptverrichtung bereits im Namen) nicht um eine reine Metapher handelte, zeigt sich daran, dass unter Jagd die Verfolgung einer realexistierenden und in den Augen der Bürgergesellschaft durchaus als wild gesehenen Menschengruppe subsumiert wurde. Dieser Jagddiskurs ist seit Beginn des Landjägerkorps (1804) anzutreffen: «Die Landjäger fangen ihre Function mit einer allgemeinen Jagd auf das im Land befindliche Gesindel an, um selbiges, so viel möglich auf einmahl aus dem Land zu schaffen.»272 Die Spuren ebendieses Diskurses lassen sich bis in die Entstehungs- und Anfangsphasen moderner Polizeiinstitutionen zurückverfolgen. Auf dem Gebiet der Drei Bünde waren dies die berüchtigten Treibjagden, wobei der Vergleich der Menschengruppe mit Wild durch das Verb treiben noch verstärkt wurde. Bemerkenswert ist, dass bereits die Bezeichnung der ersten Bündner Protopolizisten (Harschiere) vom französischen Wort archer (Bogenschütze) stammt.273 Der Polizeibezirk ist in dieser Begriffswelt ein Jagdrevier beziehungsweise -land, wobei mit letztgenanntem Begriff wiederum auf die tendenzielle Ruralität des polizeilichen Zielraums verwiesen wird: Im Gegensatz zum Polizeijäger (Stadt Chur) oder zu den Weibeln in den Gerichtsgemeinden hatte der Landjäger seinen Blick in erster Linie auf die spärlich besiedelten Zonen, das heisst auf all die erwähnten Ausörter und Schlupfwinkel zu richten. Dass Kantone wie Zürich oder Bern nach Aufstellung des Landjägerkorps einen Teil desselben auch für die polizeiliche Tätigkeit im Stadtgebiet bestellten, war eine Folge des im Vergleich zu Graubünden wesentlich zentralistischeren Aufbaus dieser ehemaligen Alten Orte der Eidgenossenschaft, wodurch die Verwendung der Landjäger(bezeichnung) innerhalb der Stadtmauern kein vergleichbares Konfliktpotenzial barg. Es ist wohl unbestreitbar, dass der Name beziehungsweise die Idee des Landjägerkorps auf dessen ausserurbane Aktivitäten zurückgeführt werden kann. Dabei ist es für zentralistisch gesinntere Kantone wie Bern oder Zürich (und mit diesem Ansinnen sind die Anfang des 19. Jahrhunderts bestimmenden Eliten gemeint) nicht infrage gekommen, für das Stadt- und Landgebiet zwei verschiedene Namensbezeichnungen zu wählen. Die überproportional häufigere Verwendung der neuen Polizeibeamten auf dem Land dürfte in dieser Hinsicht wohl für die Namensgebung ausschlaggebend gewesen sein.
Zur Vervollständigung sei erwähnt, dass der Begriff Landjäger eine typische Bezeichnung für die Polizeibeamten der süddeutschen Länder und der deutschschweizerischen Kantone war. Wirsing hat am Beispiel des württembergischen Polizeiwesens exemplifiziert, dass dessen Umbenennung von Gendarmeriekorps auf Landjägerkorps im Jahr 1823 auf die damaligen Wünsche der liberalen, antifranzösischen Mehrheit zurückgeführt werden könne. Die Bezeichnung «Gendarmerie» sei mit der französischen, repressiven Geheimpolizei der Rheinbundära, welche «jedwede Politisierung und Formierung der Öffentlichkeit unterbunden hatte», assoziiert worden.274 Diese antifranzösische Haltung dürfte auch im Fall der eidgenössischen Kantone der Grund gewesen sein, bei der Gründung der Landjägerkorps nicht wieder auf die vorrevolutionäre, frankofone Bezeichnung Harschier zurückzugreifen.
Bei den erwähnten Aufenthaltsorten der verfolgten Personen konnte es sich, um zu den Bündner Verhältnissen zurückzukehren, sowohl um solche in der freien Natur (etwa Höhlen, Waldabschnitte oder Schluchten) als auch um verlassene Höfe oder Verstecke unter Brücken handeln. Der eingangs erwähnte Privatraum konnte, wenn er von Einheimischen als Schlupfwinkel offeriert wurde, ebenfalls zu dieser Verdachtszone gezählt werden. In diesem Zusammenhang genügt das kurze Beispiel des in Alvaneu Bad stationierten Landjägers Leonhard Fausch, welcher dem Verhörrichter im Herbst 1832 mitteilte, dass ein Deserteur von einem Einheimischen namens Paul Anton Heinz Unterschlupf erhalten habe und von diesem versteckt worden sei.275 Für die Überschreitung dieser spezifischen Raumgrenze bedurfte es jedoch der Einwilligung der jeweiligen lokalen Obrigkeit. Aus diesen Überlegungen wird ersichtlich, dass die polizeilich definierte Lebenswelt der Landjäger und ihr Arbeitsraum keineswegs nur mit Begriffen aus der konkret-physischen Umwelt umschrieben werden können. Durch ihre metaphorische Dimension verwiesen viele Begriffe des Raumdiskurses auf anthropogene Beziehungs- und Machtstrukturen des Gesellschaftssystems. Damit soll keinesfalls auf eine Einzelerscheinung in der Polizeigeschichte, jedoch auf die Eigentümlichkeit des polizeilichen Raumdiskurses im Allgemeinen verwiesen werden. Das sich durch Licht- und Schattenzonen hindurchziehende Spiel des Jägers und des Gejagten, das eigentlich gar keines war, lässt sich schliesslich, wenn auch oftmals in veränderten Kontexten, bis in die Gegenwart weiterverfolgen.276
Die zeitgenössisch-diskursive Praxis birgt noch weitere bemerkenswerte Aspekte. In vergleichsweise ruhigeren Zeitabschnitten taucht der Landjäger als eine Art Aufseher auf. Gemäss polizeilichem Raumdiskurs, der an einigen Stellen an das Vokabular eines Wildhüters erinnert, soll der Polizeibeamte neuralgische Zonen unter permanenter Aufsicht halten. Als der Landjäger Johann Weber den Posten im Oberengadin übernommen und kurz darauf dem Verhörrichter den Wunsch des Landammanns Curdin von Planta weitergeleitet hatte, Samedan als Unterkunftsort auszuwählen, liess ihn der Verhörrichter wissen, dass die beste Stationierung in Ponte sei, nämlich so, dass er von seinem Hause aus immerwährend freie Sicht zum Albulaberg habe.277 Hier fungiert der Polizeibeamte als Späher, der sein Territorium vor unerwünschten Eindringlingen freihalten sollte.
24 Das Oberengadin, um 1835. Aquatinta von J. J. Meyer, J. J. Sperli d.Ä. In der Reihenfolge ihrer Entfernung die Ortschaften Cresta, Celerina, Samedan, Bever und das am Fuss der Albula-Alpen mit dem Piz Kesch gelegene Ponte.
Dem Landjäger Georg Niggli, der sich 1830 für einige Zeit in Rongellen oberhalb der Viamala-Schlucht postiert hatte, wurde aufgetragen, «irgend in einem Haus an der Landstraße, Quartier zu nehmen, um auch wenn er zu Hause ist alles zu sehen, was paßiert».278 Das Quartier Nigglis erinnert in diesem Kontext an das Bild eines Jagdhochstands. Falls der Landjäger seine Hütte selbst bauen musste, wie der Verhörrichter dies dem kurzzeitig in Roveredo postierten provisorischen Landjäger Jan Gees vorgeschlagen hatte, 279 liest sich das wie eine in die Alltagspraxis umzusetzende Bestätigung dieser diskursiven Konzeption.
Die Abwesenheit des Aufsehers hingegen würde für die verachteten Menschengruppen allzu schnell einladend wirken und den eigenen Überwachungsraum zu deren Asyl verkommen lassen. Dies schien der Verhörrichter bei dem in Alvaneu Bad stationierten Landjäger Michael Mutzner festgestellt zu haben, weshalb er ihn auch dezidiert rügte: In seiner Abwesenheit sei er seinen Arbeitskollegen undienlich gewesen, als sie seine Hilfe benötigt hätten. Dies insbesondere,
«als Landjäger [Christian] Desax die entronenen Weibsbilder zu verfolgen hatte, wovon zweÿ gerade 3 Tage in seinem Muzners Bezirk verweilten, und leicht hätten aufgefangen werden können, wenn er in selben gewesen wäre».280
Durch solche ‹Versäumnisse› konnte die eigentliche Randzone (das heisst der Aktivraum beziehungsweise Aufenthaltsraum der verfolgten Personen) ins Zentrum, also in den Raum zu stehen kommen, in dem die verfolgten Individuen definitionsgemäss am wenigsten vermutet wurden. Daraus kann die Erkenntnis gewonnen werden, dass als Folge dieser Strukturen und insbesondere im Hinblick auf den reduzierten Korpsbestand eine permanente Wachsamkeit der Polizeibeamten gefordert wurde, wobei mit der Permanenz mitunter auch die direkte Beziehung zum Thema Zeit ersichtlich wird.