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2.1 Hierarchieverhältnisse

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Sobald über die Organisation einer Institution gesprochen wird, taucht die Frage der Hierarchie auf: Wer entscheidet über wen? Wer hat welche Kompetenzen? Wer muss ausführen? In einem militärisch geführten System wie dem Polizeikorps spielten solche Hierarchiefaktoren eine nicht zu vernachlässigende Rolle, denn sie hatten mitunter entscheidenden Einfluss auf die darin vorkommenden Beziehungsstrukturen und Prozesse.

Transferiert auf das Bündner Landjägerkorps 1818–1848 sind betreffend Hierarchieverhältnisse insbesondere drei Differenzierungsebenen zentral: Erstens interessieren die sogenannten Dimensionen der Einflussnahme (politisch-exekutiv-instruierend sowie militärisch-disziplinarisch). Zweitens ist die Unterscheidung zwischen der Adresse der Auftraggeber (Kantons- und Lokalbehörden) bedeutsam. Drittens gilt es, die drei Landjägertypen (Zuchthaus, Grenzzoll und Laufposten) als gesonderte Gruppen zu betrachten, wobei an dieser Stelle zu erwähnen ist, dass das Augenmerk dieser Untersuchung in erster Linie auf die letztgenannten beiden Gruppen gerichtet ist. Dies liegt mitunter daran, dass diese Landjäger den Faktor der Gerichtsautonomie am stärksten zu spüren bekamen und diesbezüglich im wahrsten Sinne des Wortes zwischen den Fronten standen. Dabei muss ergänzt werden, dass der Begriff Laufposten als zeitgenössische Bezeichnung aus dem Quellenmaterial übernommen wurde und spätestens gegen die Jahrhundertmitte verbreitet gewesen zu sein scheint.124

Im Zusammenhang mit dem oben erwähnten Hauptauftrag zeigt sich, dass der Kleine Rat (die Regierung) als leitendes Gremium des Landjägerkorps fungierte. Diese Funktion, die der Kleine Rat seit Entstehung des Korps (1804) innehatte, wurde gemäss Kantonsverfassung von 1814 auch nach Einberufung des Verhörrichters im Herbst 1817 weiterhin beibehalten. Die Regierung fungierte nach dessen definitivem Antritt im Juli 1818125 jedoch nur noch als oberstes Entscheidungsgremium und war folglich nicht mehr für die täglichen Verrichtungen und die disziplinarische Aufsicht der Polizeibeamten zuständig. Entscheidend war in erster Linie der Wunsch nach Professionalisierung des Polizeiwesens, da der Kleine Rat mit den sonstigen Regierungsgeschäften vollkommen überlastet war.

Mit dem erwähnten Verhörrichter konnte das Korps einem eigens dafür verantwortlichen Kantonsbeamten übertragen werden.126 Die damit verbundene Professionalisierungsabsicht der obersten Kantonsbehörden wird nicht zuletzt auch am Werdegang des neugewählten Verhörrichters ablesbar: Der zur Zeit der Wahl 30-jährige Heinrich de Mont war am 13. Februar 1788 auf Löwenberg bei Schluein in der Surselva geboren worden und dann im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie nach Fürstenburg bei Burgeis ins Tirol gezogen, wo sein Vater, Baron Peter Anton Moriz de Mont (1766–1830), auf der Residenz des Churer Bischofs als Schlosshauptmann amtete.127 Es folgten Gymnasialstudien in Meran und das Studium der Rechtswissenschaften in Innsbruck und Landshut. Nach eineinhalbjährigem Praktikum beim Landgericht Ingoldstadt bestand de Mont 1811 die Staatsprüfung als Jurist in München. Daselbst war er bis 1814 zuerst als Assistent des Stadtgerichts und danach beim Bayrischen Oberappellationsgericht angestellt. Unmittelbar vor seinem Dienstantritt im Juli 1818 fungierte Heinrich de Mont als Adjunkt am Landgericht Klausen bei Bozen im damaligen Tirol.

In seiner neuen Funktion als Verhörrichter blieb de Mont bis zur Reorganisation der Polizeileitung 1845/46 in den allermeisten Fällen Leiter des operativen Geschäfts und zentrale Weisungsinstanz.128 Danach ging diese Funktion auf den neu geschaffenen Posten des Polizeidirektors über, den der bisherige Verhörrichter Heinrich de Mont als erster Vertreter bekleidete. Mit dem neuen Posten, welchen de Mont persönlich vorgeschlagen hatte, 129 wurde die Ausgliederung des Polizeiwesens aus der Verfügungsgewalt des Verhörrichteramtes beabsichtigt, da sich der neu zu wählende Verhörrichter (gewählt wurde als Nachfolger de Monts der Untervazer Georg Orion Bernhard) nach enormem Zuwachs in allen Verwaltungsdomänen und nach dem Willen des Grossen Rates künftig nur noch auf die Funktion eines Untersuchungsrichters konzentrieren sollte. Durch die Aufspaltung übernahm der erste Polizeidirektor des Kantons Graubünden insbesondere auch die grosse Abteilung betreffend Einvernahme der Heimatlosen mit all den damals definierten Lösungsansätzen zur Verminderung des Heimatlosenwesens. Grund dafür war einerseits die Tatsache, dass die Landjäger durch ihren Hauptauftrag sehr stark in diese Abteilung involviert waren, und andererseits der Umstand, dass der neue Polizeidirektor Heinrich de Mont dieses Fach während seiner Zeit als Verhörrichter massgebend ausgebaut und geprägt hatte.


7 Landjägerposten im Kanton Graubünden, um 1841.



De Mont wurde während seiner ganzen Amtszeit (1818–1848) von den Landjägern entweder mit Verhörrichter/ Polizeidirektor oder wegen seines auf den Besitz der Löwenberg in Schluein verweisenden Adelstitels mit Herr Baron angesprochen. Er war mit Ausnahme der Wahl neuer Landjäger, für die er der Regierung einen Vorschlag unterbreiten konnte, 130 für sämtliche Organisationsfragen des Landjägerkorps zuständig. Eine Ausnahme bildete der teilweise ausgegliederte Bestand der Landjäger an den Grenzposten. Diese Polizeibeamten waren durch ihre Aushilfsfunktion für die Zolleinnehmer auch denselben unterstellt. Da die Zolleinnehmer durch die generierten Einnahmen zugunsten der Staatskasse ihrerseits dem Standeskassier unterstellt waren, galt dieser Untergebenenstatus, was ihre Tätigkeit am Zoll betraf, entsprechend für die Landjäger an den Grenzposten. Anderweitig, das heisst betreffend übrige polizeiliche Verrichtungen, waren die Landjäger am Grenzzoll weiterhin dem Verhörrichter (ab 1846 dem Polizeidirektor) unterstellt, womit gleichzeitig auf ein starkes Konfliktpotenzial, welches über die ganze Untersuchungszeit für Streitigkeiten sorgte, verwiesen sei; die davon betroffenen Parteien waren insbesondere der Standeskassier und der spätere Oberpolizeibeamte (Verhörrichter bzw. Polizeidirektor) in der Leitungsetage sowie die Zolleinnehmer und die verschiedenen Landjäger auf einer tieferen Hierarchiestufe.


8 Baron Heinrich de Mont (1788–1856), Verhörrichter (1818–1845) und Polizeidirektor (1845–1848) des Kantons Graubünden.


9 Hierarchieverhältnisse im Bündner Polizeisystem 1804 bis 1848.

Die für die Tätigkeit am Grenzzoll bestimmten Landjäger durfte der Standeskassier aus dem bestehenden Landjägerkorps auswählen, wodurch er sich die Freiheit nehmen konnte, die tauglichsten und besten Polizeibeamten zu selektieren:

«Die Wahl der Zollpostlandjäger steht […] einem jeweiligen Standescassier laut Groß Raths-beschluß, aus dem Landjägercorps, frei, und zwar aus guten Gründen, weil da nicht auf Ancienität, Gunst oder Ungunst, sondern auf Tüchtigkeit, und Rechtschaffenheit gesehen werden muß.»131

Zwischen den Landjägern am Grenzzoll und denjenigen auf den sogenannten Laufposten bestand kein gesetzliches Hierarchieverhältnis.

Ab 1811 war mit den Grenz- und Passkommissären, welche für die Visierung fremder Reisepässe, deren Vergabe an einheimische Bürger sowie für Patente zuständig waren, eine zusätzliche Beamtengattung aufgestellt worden.132 Bezüglich Zusammenarbeit sowie Hierarchieverhältnis zwischen den neuen Kantonsbeamten und den Landjägern war in der kleinrätlichen Verfügung nichts erwähnt worden. Ihr Aufgabengebiet überschnitt sich jedenfalls markant, weil die Landjäger fremde Aufenthalter, denen die Visierung oder Erteilung eines Reisepasses durch die Passkommissäre verwehrt worden war, über die Grenze zu führen hatten:

«Alle verdächtige Fremde[,] welche keine oder ausgeloffene Päße haben, alle unpatentirte Hausierer, alle Vaganten, Landstreicher und Bettler haben [die Landjäger] anzuhalten, dem Grenzbeamten zur Untersuchung ihrer Papiere vorzustellen, benöthigten Falls beÿ demselben mit einem Laufpaß versehen zu laßen, und dann an die nächsten Polizeÿ-Diener zur Weiterschaffung zu überliefern.»133

Bei den Kommissären handelte es sich oftmals um Mitglieder der lokalen Obrigkeit, welche diesen Auftrag nebenamtlich versahen. Diese Eingebundenheit in lokale Machtverhältnisse war denn auch der Grund dafür, dass die Amtsausführung der Kommissäre nur marginal verfolgt und höchstens von Chur aus gerügt wurde.134 Trotz Instruktionsreformen konnte dieser Missstand bis in die 1840er-Jahre nicht behoben werden. Einen allmählichen Umschwung bedeutete dann die im Zusammenhang mit der Fremdenpolizeiordnung verfügte Aufstellung zusätzlicher Kommissäre im Innern des Kantons, das heisst nicht an dessen Grenzen, wodurch alle Mitglieder dieser Gattung nunmehr als Polizeikommissäre tituliert wurden.135

Zwar nahmen einige wenige Kommissäre die Stelle später nicht an, jedoch verdeutlicht der Vergleich der Titulierungen (u. a. Arzt, Leutnant, Oberstleutnant, Hauptmann, Major, Landammann, Geschworener, Statthalter, Bundsstatthalter), welche Personen die Regierung für dieses Nebenamt auserkoren hatte. Im Zusammenhang mit der Reorganisation des Polizeiwesens wurde den Polizeikommissären ab 1845/46 schliesslich auch die disziplinarische Aufsicht über die Landjäger erteilt. Zuerst geschah dies nur in provisorischer Form.136 Später fand diese Bestimmung dann aber auch Eingang in die Instruktion von 1868: Paragraf 27 besagte, dass sich die Grenzlandjäger gemäss Instruktion der Grenzpolizeikommissäre zu verhalten hätten, wobei Letztere widrigenfalls sofort Bericht an die Polizeidirektion in Chur zu erstatten hätten. Paragraf 19 der Instruktion für die Bezirkspolizeikommissäre besagte, dass dieselben die in ihrem Bezirk stationierten Landjäger in Bezug auf «Erfüllung der ihnen obliegenden Dienstpflichten, ihre Aufführung und den Stand ihrer Ausrüstung» zu überwachen und diesbezügliche «Contraventionen» gemäss Paragraf 20 ebenfalls auf direktem Wege der Polizeidirektion zu berichten hätten.137


10 Ausschreibung des Kleinen Rates des Kantons Graubünden betreffend Ernennung von Polizeikommissären, Chur 03. 12. 1840.


In Bezug auf Einkassierung und Austausch von auszustellenden Reisepässen waren die Kommissäre ihrerseits dem Standeskassier verpflichtet. Mit der Reorganisation der Kommissärämter vom 11. Juli 1840 wurden sie mit der regelmässigen Berichterstattung an den Verhörrichter beauftragt.138 Damit setzte erst im Verlauf der 1840er-Jahre ein wirkliches Hierarchieverhältnis zwischen Polizeikommissären und Landjägern ein, wobei zu betonen gilt, dass ein solches, je nach Polizeikommissär und Ort des jeweiligen Landjägers, teilweise bereits zuvor bestanden hatte.139

Die korpsinterne, militärisch-disziplinarische Inspektion der zahlreichen, in ihren Bezirken stationierten Landjäger war mit einigen Ausnahmen de facto während der ganzen Untersuchungszeit nicht vorhanden. Ein sichtbares militärisches Hierarchieverhältnis bestand in erster Linie nur innerhalb des Zuchthauses Sennhof in Chur, wo ein Feldweibel beziehungsweise Wachtmeister und ein Korporal den dortigen einfachen Landjägern hierarchisch übergeordnet waren: Der Feldweibel (in der Regel auch als Wachtmeister tituliert) war «für das Oeconomische des Hauses», der Korporal für die vier Landjäger zuständig.140 Diese Aufteilung galt spätestens seit dem Jahr 1826, als der verstorbene Feldweibel Christian Kessler durch Nikolaus Hartmann ersetzt wurde: Er war nicht mehr wie sein Vorgänger auch für das Kantonsarsenal und das Magazin zuständig, sondern sollte sich ausschliesslich auf den Landjägerdienst konzentrieren können.141 Zudem muss an dieser Stelle betont werden, dass die Unteroffiziersgrade im Gegensatz zur Anfangsphase des Polizeiwesens und nach dem Ausbau des Beamtenapparats erst allmählich genauer unterschieden wurden – der militärische Rang des Korporals war in der ersten Instruktion für den Unteroffizier abwechselnd mit Wachtmeister, Unteroffizier oder Korporal angegeben worden.142

Ein zentraler Punkt in der erwähnten Instruktion für den Unteroffizier war insbesondere die Beaufsichtigung der Landjäger auf den Lauf- und Grenzposten:

Der Korporal (dem die Aufsicht über die restlichen sieben Landjäger zustand, M. C.) solle die Gefreiten in ihrer pünktlich zu erfüllenden «Schuldigkeit» betreffend Disziplin, Montierung und Bewaffnung inspizieren (§ 1) und sie zu diesem Zweck alle zwei Monate visitieren (§5). Bei der ersten Inspektionsreise solle er mit den jeweils in ihren Bezirken stationierten Landjägern einen «Streifzug» durchführen143 (§7; in der diskursiv-semiotischen Komponente des Begriffs als einen regelrechten Säuberungszug und in diesem Sinne als machtrepräsentativer Akt zu verstehen, 144 M. C.). Dieser solle in der Surselva beginnen, über das Domleschg, Oberhalbstein, Churwalden, Maienfeld, Prättigau und das Engadin gehen und im Bergell enden. Der Korporal solle immer von den Landjägern des jeweiligen Bezirks begleitet werden und denselben (gewissermassen als militärische Eintrichterung der Pflichten, M. C.) «von Zeit zu Zeit» die Instruktionsverpflichtungen vorlesen (§ 8). Bei seiner Rückkehr solle er dann davon dem Kleinen Rat «umständlichen Bericht» abstatten (§ 9).

Trotz dieser vergleichsweise klaren Bestimmungen wurde im Lauf der Jahre schnell ersichtlich, dass der Korporal, da er laut Instruktion die übrige Zeit in Chur verweilte, wo er der Regierung jederzeit für administrative Verrichtungen zur Verfügung stehen musste145, angesichts beschränkter staatlicher Finanzmittel und der für den weitläufigen Kanton stark beschränkten Anzahl Landjäger seiner Visitationspflicht nicht nachzukommen vermochte. Mehrere Verbesserungsversuche in dieser Angelegenheit wurden nicht umgesetzt, 146 womit die intendierte Inspektionsbestimmung Makulatur blieb. Die Verhörrichteramtskommission etwa berichtete Ende 1844, dass den 1840 via Instruktion festgelegten Inspektionsreisen des Landjägerunteroffiziers kaum Folge geleistet worden sei, weil der Wachtmeister als «Hausmeister des Zuchthauses» allzu sehr an dieses gebunden gewesen sei.147 Damit war eine militärisch-instruierende Aufsicht des Landjägerkorps für die gesamte Untersuchungszeit so gut wie nicht vorhanden. Inspektionen des Verhörrichters seinerseits blieben angesichts seines umfangreichen Arbeitspensums und seiner untersuchungsrichterlich bedingten Gebundenheit an die Kantonshauptstadt Chur ohnehin die absolute Ausnahme. Die Tragweite des Problems wird fassbar, wenn in einem Bericht des Verhörrichters zu lesen ist, dass er einzelne Landjäger «jahreweis» nicht sehe beziehungsweise gesehen habe.148

Damit die Hierarchiefrage vollständig geklärt werden kann, muss schliesslich auf die Rolle der Ortsobrigkeiten verwiesen werden. Da sich die obersten Kantonsbehörden bewusst waren, dass die Landjäger wegen der Weitläufigkeit Graubündens in ihren alltäglichen Verrichtungen mehr oder weniger auf sich allein gestellt waren, appellierte der Kleine Rat im Zusammenhang mit dem oben erwähnten «Streifzug» bereits 1804 an die lokalen Obrigkeiten, den Landjägern im Fall wiederholt dingfest gemachter arbeitsfähiger Bettler149 bei deren summarisch durchzuführender Verwahrung behilflich zu sein:

«Die Italjenischen Bettler und Landstreicher werden nach den italjenischen Gränzen, die deutschen gegen die Steig, und die Schweitzer über die Untere Zollbruk wegweisen, mit der Warnung falls sie wiederkehren beÿ Waßer und Brod eingespert zu werden. [/] Diese Strafe soll auch wirklich an den Wiederkehrenden vollzogen werden, wenn es Leute sind, welche im Stand wären durch Arbeit ihren Unterhalt zu verdienen. [/] Die Obrigkeiten werden zu Veranstaltung der Vollziehung dieser Züchtigung aufgefordert werden.»150

Diese Unterstützung sei gemäss Paragraf 12 immer dann «unverzüglich» zu leisten, wenn die Landjäger bei ihrer Pflichtausübung unmittelbar darauf angewiesen seien, wobei aber keine konkreten Orientierungsbeispiele aufgeführt wurden. Des Weiteren, und hier kam die Hierarchiefrage ins Spiel, sei der Landammann oder erste Gerichtsvorsteher zur Aufsicht der Landjäger verpflichtet (§ 14). Es sollten die Obrigkeitsmitglieder dem Kleinen Rat auch die halbmonatlichen Rapporte der Landjäger einsenden (§13).

Die föderalistisch gesinnten Obrigkeiten waren jedoch, so zeigte sich schnell, an einer Unterstützung eines zentralistischen kantonalen Korps kaum interessiert und kamen ihrer Pflicht nur halbherzig nach: Rückblickend schilderte der Kleine Rat in seinem Amtsbericht vom Jahr 1814, dass «von den meisten Gerichts- und Ortsvorstehern dem ersten Artikel der bey Aufstellung der Landjäger unterm 30. Mai 1804 erlaßenen Publication entweder gar nicht oder höchst unvollkommen entsprochen» worden sei.151 Im Gegenteil hatten zahlreiche Gerichte stattdessen die Landjäger sogar für Dienstleistungen in Anspruch genommen, gerade wenn es sich um die Verwahrung ortseigener Gefangener handelte. Dabei hatten sie sich oftmals nicht dazu verpflichtet gesehen, die Landjäger für die Gefangenenüberwachung zu entschädigen, da dieselben bereits einen fixen Sold durch den Kanton bezogen. Dies betraf im Besonderen Gerichte, welche mit finanziellen Problemen kämpften. Der Kanton seinerseits beklagte sich zuweilen sogar, dass die Gerichte den Landjägern zu hohe «Zehrungskosten» auferlegen würden, da auch diese vom Kanton beglichen werden mussten.152 Es wurde nun dieser ganze Missstand insofern bekämpft, als die Landjäger mit der Instruktionsreform von 1813 gesetzlich verpflichtet wurden, Aufforderungen der Gerichtsobrigkeiten in sämtlichen Belangen des Kriminal- und Polizeiwesens «unhinterstellige Folge zu leisten».153 Diese Reform ist als unmissverständliches Signal an die Ortsobrigkeiten zu deuten, denn einerseits wurde diesen eine gesetzlich legitimierte Dienstleistung angeboten, und andererseits versprach sich der Kanton dadurch eine breitere Akzeptanz der Polizeiinstitution sowie eine stärkere Einbindung und mehr lokalobrigkeitliches Verantwortungsbewusstsein.154 Dieses explizit auf Verrichtungen bezogene Hierarchieverhältnis aber wurde, da der Artikel sehr weit formuliert war, in der Folgezeit von den Ortsvorstehern immer wieder ausgenutzt: Der Verhörrichter sprach 1822 von sogenannten Weibeldiensten, für welche die Landjäger verwendet und infolgedessen dem allgemeinen Dienst entzogen würden.155 Mehrere Versuche, solche inadäquaten Inanspruchnahmen der Landjäger zu sanktionieren, scheiterten indes.156 Die Landjäger ihrerseits, die für die Mitteilung solcher Missbräuche zuständig gewesen wären, befanden sich in dieser Hinsicht in einer ungemütlichen Lage, denn sie waren den Obrigkeiten betreffend Beaufsichtigung der Dienstverrichtungen und der Disziplin immer noch unterstellt. Paragraf 29 der Instruktion von 1840 etwa besagte:


11 Verbindungswege im Nordwesten des Kantons Graubünden, um 1818. Karte von H. Pestalozzi, J. Wild (Ausschnitt). Östlich des Fläscherbergs die Zollstation St. Luzisteig Richtung Liechtenstein, westlich von Maienfeld die Fläscherfahrt und westlich von Malans die Untere Zollbrücke/Tardisbrücke Richtung St. Gallen. Auf Bündner Gebiet schliesslich die südwestlich von Malans gelegene Obere Zollbrücke Richtung Chur.

«Jeder Landjäger hat ein Büchlein zu halten, in welchem er, der Zeitfolge nach, seine Patrouillen und periodischen Touren in die Gemeinden seines Bezirks, oder andere Dienstverrichtungen, jedesmal durch den ersten Ortsvorsteher oder, in dessen Abwesenheit, durch eine obrigkeitliche Person, unter genauer Angabe der Monatstage, bescheinigen läßt.»157

Zusätzlich zu Paragraf 29 durften ausserdienstliche Vergehen der Landjäger gemäss Paragraf 30 durch die Obrigkeiten geahndet werden. Diese Bestimmung wurde zwar nach einer ungerechtfertigten Verhaftung zweier Landjäger durch das Hochgericht von Poschiavo im Jahr 1827 in der Grossratssitzung vom 20. Juni 1829 diskutiert, nach Antrag der Standeskommission jedoch nicht abgeändert.158 Dementsprechend war der Umstand, dass die Landjäger einerseits die gegen die formalen Systemstrukturen zuwiderhandelnden Obrigkeiten anzeigen sollten und andererseits von deren Arbeitszeugnis abhängig waren, mehr als ein nebensächliches Problem rein struktureller Art. Die obrigkeitliche Autorität gegenüber den Landjägern jedenfalls blieb im polizeilichen Hierarchiesystem während der ganzen Untersuchungszeit fest verankert. Das Beispiel des in Splügen stationierten provisorischen Landjägers Jakob Clavadetscher verdeutlicht dieses klare Hierarchieverhältnis besonders gut. Im Zusammenhang mit dem an ihn gerichteten Wunsch einiger Einwohner von Splügen, einen sich daselbst aufhaltenden Lugnezer, welcher als Störefried auffiel, aus dem Wirtshaus zu schaffen, berichtete Clavadetscher dem Verhörrichter:

«Sie im aber sagten sie konten in nich über Nach haben, und er nich grad gehen wolte. so komt das Weib in das nemliche Wirhauß und sagt ich soll glich kommen um den Man fort zu füren, so weil er nichts gemacht hat so hab ich in auch nicht fort füren könen. und ich sage zu den Weib sie solle es dem LandAmman Anzeigen dan wan es der befelli so werde ich es tun was der Landamman sage.»159

Aus alledem wird klar ersichtlich, dass die Ortsobrigkeiten, gerade im Fall der von Chur weit entfernt postierten Landjäger, die zentrale Bezugsinstanz bildeten. Das Verhältnis zu ihnen hatte, obwohl die Weisungen des Verhörrichters als Korpsleiter gewichtiger waren, bedeutend intensiveren Charakter als alle übrigen Hierarchieverhältnisse innerhalb des Polizeisystems. Es gilt noch zu klären, inwiefern und in welchem Mass diese Voraussetzungen die Vorgehensweisen, Argumentations-, aber auch die Interaktionsmuster der Landjäger determinierten und ob diese die Normen auch befolgten. Jedenfalls wird erkennbar, dass sich die Landjäger, allen voran diejenigen auf den Laufposten, betreffend Hierarchiefragen zwischen mehreren Akteuren bewegten. Dies umso mehr, als aufsichtsberechtigte Instanzen (sowohl kantonale als auch gerichtlich-gemeindliche Vertreter) sehr oft ihre Partikularinteressen verfolgten.



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