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System

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Interessant für die Untersuchung des Polizeiwesens ist weniger die Luhmann’sche Theorie der Funktions- als vielmehr diejenige der Organisationssysteme. Ihre Vorteile sind die wesentlich konkretere «Flughöhe» wie auch der weniger holistische Ansatz.

Als Ausgangspunkt für die Bildung jeglicher Art von sozialen Systemen verweist Luhmann auf die Komplexität der Welt.37 Diese steigere sich parallel zur Vermehrung von Beziehungen und Ereignissen, wobei dieselben nicht zwangsläufig geschehen müssten. Die Möglichkeit ihres Eintreffens allein genügt gemäss Luhmann schon, um den vom Menschen rezipierten Grad der Komplexität der Welt zu erhöhen. Vor diesem Hintergrund muss die Ausdifferenzierung von Systemen betrachtet werden. Dabei geht Luhmann vom «Prinzip der Ordnung aus Chaos» aus, wobei «Ordnung zufällig aus den vielen möglichen Handlungen und Beziehungen zwischen Handlungen in einer höchst komplexen und kontingenten Welt entsteh[e]». Infolge ständiger «Gefahr von Zusammenbrüchen und Unterbrechungen» steigere sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich die «Akteure an allem festhalten» würden, was «eine Verbindung und Fortsetzung von Handlungen ermöglich[e]». Entscheidend nun für die Bildung sozialer Systeme ist bezeichnenderweise, dass sie sich nicht durch Menschen, sondern allein durch Kommunikationen konstituieren. Menschen sind im Luhmann’schen Verständnis insofern nicht als (physische oder etwa materielle) Teile sozialer Systeme zu betrachten, durch ihr kommunikatives Handeln für deren Aufrechterhaltung jedoch unabdingbar. Dementsprechend ist die Kommunikation gemäss Luhmann das Grundelement sozialer Systeme. Sie wirkt sich sowohl bei der Bildung als auch bei der Fortentwicklung eines sozialen Systems konstitutiv aus, wodurch sich das System autopoietisch erhält. Damit ist gemeint, dass ein soziales System die «Elemente, aus denen es besteht, selbst produziert».38 Indem nun Personen durch ihr kommunikatives Handeln ein System im wahrsten Sinne des Wortes am Leben (mit-)erhalten, eröffnet sich für die Untersuchung einer Organisation wie dem Polizeiwesen ein überaus vielversprechender Ansatz. Damit kann nämlich die Gefahr umgangen werden, durch dem Kulturbegriff eine Grenze zwischen Personen zu ziehen und damit für einen Einschluss beziehungsweise Ausschluss von Kulturträgern zu sorgen, der selektiert und verallgemeinert. Wenn also vom Polizeisystem gesprochen und nach spezifischen Eigentümlichkeiten dieses Systems gefragt wird, beziehen sich die Antworten selbsterklärend auf das System und nicht direkt auf die Personen als Träger des Systems kraft ihrer Kommunikation. Umgekehrt ist von den Personen zu sprechen, wenn nach den Urhebern der Kommunikation, welche das System aufrechterhalten, gefragt wird. Das System jedenfalls entwickelt sich dem Luhmann’schen Theorieansatz folgend autopoietisch weiter und ist in seinem evolutiven Prozess durch verschiedene Arten sowie Aneinanderreihungen von Kommunikationen gekennzeichnet, welche die Personen zur Aufrechterhaltung oder Veränderung des Systems einbringen. Es erhält sich dementsprechend durch den «Sinn» der jeweiligen Kommunikationen (Sinn ist dabei nicht als in «sinnvoll» und «sinnlos» zu unterscheidender, das heisst als wertender Begriff zu verstehen39). Indem nun die Welt gemäss Luhmann ein «unermessliches Potential für Überraschungen» hat, 40 wird vergleichsweise schnell ersichtlich, weshalb die sogenannte Kontingenz in der Systemtheorie einen derart hohen Stellenwert erhält. Dieser Begriff nämlich deutet darauf hin, dass infolge Selektion (des Betrachters, des Rapportierenden, des Adressierten u. a.) alles so ist, wie es ist, aber «auch anders möglich» wäre. «Die Unwahrscheinlichkeit einer kommunikativen Operation» nämlich, so Luhmann ausführend, könne an den «Anforderungen» aufgezeigt werden, die «erfüllt» sein müssten, damit sie zustande kommt.41 Kommunikation sei eine «Synthese» aus den drei Selektionen «Information, Mitteilung und Verstehen». Dabei seien sämtliche drei «Komponenten […] in sich selbst ein kontingentes Vorkommnis». Umgemünzt auf den hier behandelten Untersuchungsgegenstand ist also beispielsweise danach zu fragen, was der damals rapportierende Polizeibeamte unterstrich (oder etwa verschwieg?), wie es der adressierte Verhörrichter verstand (oder allenfalls missverstand?), wie es der Historiker später verstehen kann (oder eher nicht sollte?) und so weiter. Die Kontingenz also entscheidet letztlich darüber, welche «ausgewählten Irritationen» welchen «Sinn von Information»42 erhalten. Hier nun wird die Brücke zum Luhmann’schen Evolutionsbegriff, welcher die Gesellschaft als «Resultat von Evolution» versteht, schnell erkennbar.43 Dieser Definition zufolge kann, wie Buskotte resumierend festhält, ein System «seine Umwelt nur in sehr begrenzter und reduzierter Weise erfassen».44 Mit anderen Worten können «Systeme nie auf ihre gesamte Umwelt ‹reagieren›», weil ihre «Autopoiesis immer nur auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Systemelemente ablaufen kann». Letztlich also entscheiden die jeweiligen «Systemstrukturen selbst», ob und welche «Störungen der Umwelt […] von einem System aufgenommen werden und zu einer Strukturänderung führen können», denn wie erwähnt kann ein System auch «indifferent oder empfindlich für Irritationen sein». Dadurch wird erkennbar, dass die Luhmann’sche Evolutionstheorie keineswegs in Verbindung zu bringen ist mit der «sozialdarwinistische[n] Interpretation im Sinn des survivals von Individuen»45. Vielmehr «folgt» die Evolution der Organisationssysteme «dem Entscheidungsbedarf und der Notwendigkeit, Entscheidungen zu kommunizieren, um die Ausgangspunkte für weitere Entscheidungen festzulegen».46 Mit anderen Worten entscheiden also die Systemstrukturen, ob und inwiefern eine (kommunizierte) Entscheidung zum System gehört und dieses fortentwickelt und verstärkt wird oder eben nicht. Mit fortschreitendem «Entwicklungsniveau» jedenfalls «produzieren» Organisationssysteme «Entscheidungen aus Entscheidungen», wobei der «jeweils verfügbare Bewegungsspielraum […] durch das Schema Problem/Problemlösung abgegrenzt» wird.47 Die für die Entstehung und Fortentwicklung eines Organisationssystems prägenden Entscheidungen sind letztlich an deren Normen (oder eben Erwartungen) gebunden, denn sie werden «durch eine Unterscheidung, nämlich durch Unterscheidung von Verhaltensmöglichkeiten im Enttäuschungsfall» bestimmt.48 Dieser Logik folgend spricht Luhmann unter dem Strich von einem organisierten System, in dem sich die involvierten Personen (Mitglieder) bei ihren Entscheidungen «nach den (innerhalb der Organisation änderbaren) Programmen des Systems, also nach den Rechtsnormen richten».49 Bezeichnenderweise nun kann es sich dabei innerhalb eines Polizeisystems sowohl um formelle als auch um informelle Normen handeln. Dies wird insbesondere unter Berücksichtigung der Alltagspraktiken erkennbar: Ökonomische Fragen, Gesundheits- oder auch Bildungsfragen spielten allesamt eine mehr oder weniger wichtige Rolle im Leben der Landjäger und determinierten unweigerlich ihr Handeln und ihre Kommunikationen. Diesbezügliche Entscheidungen hatten dementsprechend auch einen Einfluss auf die Fortentwicklung des Organisations- beziehungsweise Polizeisystems. Im Hinblick auf die Bedeutung der im Kapitel Kultur unterstrichenen, innerinstitutionellen Dichotomisierung (Leitungsinstanzen/Gesetzgeber und rangniedrige Polizeibeamten) spielt diese Komponente für die vorliegende Untersuchung eine erhebliche Rolle.

Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die umfassende Frage nach der Verdichtung und Wirkungsentfaltung von formellen und informellen Normen. Damit verbunden spielt die Frage nach der Systemstruktur eine überaus zentrale Rolle. Strukturen ergeben sich im Gegensatz zu den temporär-singulären Kommunikationen als Resultat längerfristiger (eingespielter) Operations- beziehungsweise Kommunikationsprozesse. Sie haben für Luhmann also nur insofern «Realitätswert», als sie «zur Verknüpfung kommunikativer Ereignisse verwendet» werden.50 Analog dazu verweist er auch bei den Normen darauf, dass diese «explizit oder implizit […] zitiert werden» müssen, um Gültigkeit zu haben. Auch der «Realitätswert» von «Erwartungen» schliesslich manifestiert sich für Luhmann nur insofern, als «sie in Kommunikationen zum Ausdruck kommen». Er spricht daraus folgend von einer «enorme[n] und primäre[n] Anpassungsfähigkeit des Systems im schlichten Vergessen, in der Nichtwiederverwendung von strukturgebenden Erwartungen». Wenn man also Strukturveränderungen «evolutionistisch» begreifen wolle, so Luhmann, müsse man sich davon abwenden, dass Strukturen etwas «Festes» seien:51 Strukturen würden «nicht abstrakt, nicht unabhängig von der Zeit» existieren, sondern sie würden «verwendet» oder «nicht verwendet». Entweder würden sie «durch Wiederholung in verschiedenen Situationen einen Sinnreichtum [konfirmieren]», oder aber sie würden «kondensieren» – wenn nicht gar vergessen werden. Übertragen auf das Polizeiwesen kann dies jegliche Art von formellen und informellen Normen betreffen. Bezeichnenderweise unterscheidet Luhmann gerade in der frühen Organisationstheorie explizit zwischen formaler und informaler Organisation. Diesen Sachverhalt aufgreifend fasst Drepper zusammen, dass die «Strukturqualität» sozialer Systeme «gradualisierbar» sei.52 Es gebe «schwach, mittel und stark formalisierte Sozialsysteme». Er unterstreicht, die «frühen Luhmannschen Überlegungen zu formaler Organisation» aufgreifend, im Weiteren die Tatsache, dass sich in einer Organisation insbesondere auch «das eher personen- und kleingruppenbezogene Agieren in informalen Ordnungen» strukturkonstitutiv und -erhaltend auswirke. Mitunter habe diese «informale oder auch spontane Kommunikation» für die Entstehung von Organisationsstrukturen einen normativ gesehen viel verdichtenderen und weitreichenderen Charakter «als die formale Ordnung». Für die Untersuchung der Kommunikationsflüsse innerhalb des Bündner Landjägerkorps und die damit verbundene Formation, Veränderung und Vergänglichkeit von Systemstrukturen jedenfalls scheinen gerade die letztgenannten Komponenten von besonderer Bedeutung zu sein. Eine wichtige Rolle spielt dabei die erwähnte Kontingenz und damit verbunden die Bedeutung der Beobachtung weiterer Ordnung. Entscheidend dabei ist nämlich, dass Kommunikationen (gerade wenn sie aufgrund von schriftlichen Rapporten und Weisungen rekonstruiert werden müssen) ständig von Färbungen, Weglassungen und Interpretationen beeinflusst werden beziehungsweise wurden.53



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