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Die Polizei als formales Organisationssystem

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Der erste Schritt zur Annäherung an eine möglichst umfassende Darstellung des Landjägerkorps tangiert in erster Linie organisationstechnische Merkmale. Diese werden zuerst bei der Auswertung und dem Vergleich von Instruktionen erkennbar. Daraus lässt sich eine Art Berufsleitbild rekonstruieren, welches eine kurze und prägnante Idee von den grundlegenden Verpflichtungen und Aufgaben der ersten Bündner Berufspolizisten gibt. Es ist denn auch diese erste Untersuchungsebene, über welche die mehrfach erschienenen Jubiläumsschriften kaum hinausgingen.89 Für eine Annäherung an den Untersuchungsgegenstand ist indes eine Auseinandersetzung mit dieser ersten Ebene von Vorteil, weil damit der Kernauftrag des Landjägerdienstes deutlich herausgestrichen werden kann. Obwohl nämlich das erste Dekret für das Bündner Landjägerkorps (30. 5. 1804) im Lauf des ersten halben Jahrhunderts mehrere Ergänzungen und Ersetzungen erfuhr, blieb es in seiner Funktion (gleichzeitig auch als erste Publikation zur Aufstellung eines Korps dienend) in seiner äusserst knappen Form für den zu untersuchenden Zeitraum durchgehend richtungsweisend. Die Hauptbotschaft des Dekrets lässt sich dabei auf den ersten Satz reduzieren:

«[Der Kleine Rat hat] in Folge des ihm ertheilten Auftrags ein Piquet von 8 Landjägern aufgestellt […], welche dazu bestimmt sind, den Kanton von allen fremden Landstreichern rein zu halten, und dadurch auch dem so lästigen Betteln zu steuren.»90

Der Wortlaut verdeutlicht, wie eine Herrschaftsgewalt (Kleiner Rat als Staatsregierung) eine neue Berufsgruppe (Piquet von acht Landjägern) aus der Taufe hebt und ihr eine Zielgruppe (Landstreicher und Bettler) und einen Hauptauftrag zur Ausführung (Reinhaltung des Herrschaftsgebiets von dieser Zielgruppe) erteilt. Diese reduzierte Formulierung der Beziehungsstruktur lässt erkennen, was Weber bei der Wiedergabe seiner Typologie legitimer staatlicher Herrschaft, die den Prinzipien der Bürokratisierung verpflichtet war, aufzuzeigen beabsichtigte. Für den ersten Schritt der vorliegenden Untersuchung erweist sich diese Kurzform trotz den erwähnten Vorbehalten als hilfreich. Obwohl sich nämlich die tatsächliche Durchsetzungsfähigkeit der Regierung beziehungsweise des Grossen Rates als oberste Verwaltungsund Polizeibehörde91 nach Entstehung des Kantons Graubünden (1803) in etlichen Aspekten noch als problematisch erweisen sollte, war ein Macht- und Staatsapparat entstanden, welcher sich den Prinzipien bürokratischer Herrschaftsgewalt verpflichtet sah. Das Landjägerkorps bildete in diesem Weber’schen Konstrukt legaler Herrschaft einen von mehreren im Lauf der Jahre aufgebauten Verwaltungsstäben – und zwar, wie Salathé dies treffend festhält, in Form einer «vorgeschobene[n] ‹Front›» und durch den «unmittelbarsten» Kontakt «zu Verwaltenden bzw. zu Beherrschenden»92. Da sich legale Herrschaft explizit auf Gesetze und Reglemente stützt, leuchtet es ein, dass der Vergleich der verschiedenen Instruktionen auch den ersten Schritt zur genaueren Darstellung des Polizeisystems bildet. Dabei kann erstens aufgezeigt werden, dass im Fall Graubündens eine Transformation des Pflichtenheftes einsetzte, als die Polizeibeamten zusehends auch für eine erweiterte Zielgruppe und nicht mehr ausschliesslich für die oben erwähnten Landstreicher und Bettler zuständig waren. Zweitens wird ersichtlich, dass die in den Instruktionen festgelegten organisatorischen Bestimmungen zu einer fortschreitenden Ausdifferenzierung des Polizeisystems führten. Der Blick auf die Instruktionsgeschichte der untersuchten Zeit nämlich bringt im Fall Graubündens vier komplette Hauptreglemente, die jeweils ihre Vorgängermodelle ablösten, sowie mehrere Einzelabänderungen und -ergänzungen zum Vorschein: Die erste unpublizierte Instruktion von 180493 wurde kurz vor Ende der Mediationsphase einer ersten kleinen Revision unterzogen. Diese neu entstandene Instruktion von 181394 nun war etwas umfassender und genauer formuliert und in vier Hauptabteilungen unterteilt: I. Organisation und Bestimmung der Landjäger, II. Instruktion (allgemeine Pflichten der Landjäger), III. Disziplin und IV. Besoldung, Montierung und Dienstzeit der Landjäger. Im Vergleich zur Instruktion von 1804 ging die auf sie folgende Ausgabe konkreter auf die zu leistenden Verrichtungen der Landjäger ein und versuchte, diese möglichst klar zu umschreiben, um Missverständnissen vorzubeugen.95

Nach einem Nachtrag zur Instruktion von 181396 wurde das neue Reglement für die Landjäger im Jahr 1828 erstmals in umfassender Form in der Amtlichen Gesetzessammlung des Kantons Graubünden97 abgedruckt. Diese neue Instruktion von 1828 umfasste nunmehr 35 Artikel, darunter neue Vorschriften im Bereich der Strassen-, Gewerbe- und Gesundheitspolizei.98 Nach einer Nachtragsverordnung schliesslich, die insbesondere Disziplinar- und Hierarchiefragen an den Zollstätten beinhaltete, 99 erhielt das Bündner Landjägerkorps innerhalb des in der vorliegenden Untersuchung behandelten Zeitraums im Jahr 1840 seine letzte neue Instruktion.100 Diese war von einem Spezialreglement begleitet, welches im Zusammenhang mit den grossrätlichen Massnahmen zum Armenwesen stand101 und den Landjägern zusätzlich ausgehändigt wurde. Das Hauptreglement von 1840 sollte für die Bündner Polizeibeamten bis zur neu erlassenen Instruktion von 1868102 Gültigkeit haben.

Ergänzt wurden diese Instruktionen jeweils durch Einzelverordnungen der Regierung oder durch spezifische Gesetze des Grossen Rates, 103 die ihrerseits zumeist ein partikuläres Problem behandelten und in denen die Landjäger als Hauptbeauftragte zur Ausführung der Problemlösung erwähnt wurden.

Handelte es sich, so stellt sich daraus folgend die Frage, bei der neuen Berufsgattung ‹Bündner Landjägerkorps› tatsächlich um einen Polizeiapparat nach modernem Begriffsverständnis? Der Vergleich mit Knemeyers Erörterung des alten und neuen Polizeibegriffs scheint diese Frage, wenn nicht definitiv, so doch relativ gut zu beantworten: Waren die sogenannten Verwaltungsstäbe bei Weber noch nicht spezifisch auf das Polizeiwesen zugeschnitten, so müssen, anlehnend an den alten Polizeibegriff, mit welchem die begriffliche Gleichsetzung von Polizei und innerer Verwaltung gemeint war104, das Element der «gute[n] Ordnung des Gemeinswesens»105 und der Faktor Sicherheit miteinbezogen werden. Letzterer erfolgte durch den sich allmählich herauskristallisierenden materiellen Polizeibegriff, welcher die Gleichsetzung von Polizei mit «Aufgaben der Gefahrenabwehr» festlegte.106 Infolgedessen stellt sich für die vorliegende Untersuchung zur neuen Berufsgruppe Landjäger der Terminus Sicherheitspolizei als am treffendsten heraus, wobei auch er, wie noch aufzuzeigen sein wird, die Handlungsfelder der Landjäger nicht umfassend und realitätstreu zu umschreiben vermag. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Begriff Sicherheitspolizei explizit auch in den untersuchten Quellen anzutreffen ist. So umschreibt die Instruktion von 1828 die Hauptverrichtung der Landjäger wie folgt: «[I]hre vorzüglichen Pflichten bestehen in allem, was der Dienst der Sicherheitsund Kriminal-Polizei mit sich bringt.»107 Diese Gesamtheit der instruktions-, gesetzes- und verordnungsbezogenen Paragrafen jedenfalls, welche für den Alltag der neuen Berufsgattung konstitutiven Charakter haben sollte, kann vergleichsweise gut und bei aller Schwäche des Kulturbegriffs der Ahlf’schen Umschreibung der Polizeikultur gegenübergestellt werden. Diese wird von Ahlf in harte (Organisationsstruktur) und weiche Faktoren (Werthaltungen, Normen, Orientierungsmuster, Leitbilder usw.) unterteilt.108 Folglich scheint er eine offensichtliche von einer nicht sofort erkennbaren Auftragsdimension zu unterscheiden: Erstere manifestiert sich insbesondere durch äusserlich sichtbare Handlungen, wobei zentrale Tätigkeitsfelder anhand sich verändernder Instruktionen relativ leicht eruiert werden können. Zweitere ist auf den ersten Blick und insbesondere für Aussenstehende nicht sofort erkennbar. Daraus folgt, dass das formale Polizeisystem nicht nur aus offen propagierten Richtlinien und erlassenen Instruktionen bestand, sondern dass es ebenso sehr durch die Auswertung vieler Entscheidungen skizziert werden kann (sofern diese in ihrer Form von den Leitungsgremien entweder direkt unterstützt, nicht klar angefochten oder kommentarlos angenommen wurden). Die Einteilung des formalen Polizeisystems in die beiden Hauptkriterien, welche nach harten (Institutionsstrukturen) und weichen Faktoren (das formal-normative Landjägerprofil) unterschieden werden, wird deshalb als Leitschema verwendet.



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