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Zwischenfazit

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Abschliessend kann zum theoretischen Teil festgestellt werden, dass die Systemtheorie mit ihrem Systembegriff im Vergleich zum Kulturbegriff erwähnter Kulturtheorien einen besseren Zugang zum Untersuchungsobjekt liefert. Hinter den Nutzen für die konkrete Quellenarbeit sind jedoch einige Fragezeichen zu setzen. So muss sich noch erweisen, ob die systemtheoretische Annäherung tatsächlich das theoretische Instrument liefern kann, um die Strukturen hinter den erhaltenen Kommunikationsprozessen herauszuschälen. Luhmanns Verweis auf die Beobachtung, die über die erste Ordnung hinausgeht, 72 ist dabei ein wichtiger Beitrag zu einer kritischen Beurteilung des Quellenmaterials, denn letzten Endes setzt ein polizeilicher Rapport frühestens bei einer Beobachtung zweiter Ordnung an, wodurch die Auseinandersetzung mit den Quellen bereits einer Beobachtung noch späterer Ordnung entspricht. Hier sind stets blinde Flecken im Spiel, und es müsste Luhmann, wenn seiner Theorie gefolgt würde, wohl Recht gegeben werden: Der Historiker und das Auswertungsmaterial kommunizieren auf einer neuen Ebene und bilden zusammen insofern ein eigenes System. Die Nützlichkeit dieser Perspektive kann tatsächlich hinterfragt werden, jedoch ist der davon abzuleitende Gedanke hilfreich: Demnach ist das Bild, welches in dieser Untersuchung vom Alltag der Bündner Polizeibeamten zwischen 1818 und 1848 konstruiert wird, erstens eine Folge der Kommunikation mit dem Quellenmaterial. Zweitens sind beziehungsweise waren in der Beobachtung immer nicht erkennbare oder unerkannte Aspekte im Spiel – sei dies eine tatsächliche Nichtbeachtung während der Beobachtung erster Ordnung, ein intendiertes Verschweigen nach der Beobachtung zweiter Ordnung oder etwa persönliche Interpretationen des Sachverhalts durch den jeweiligen Forscher bei der Beobachtung späterer Ordnung.

Für die vorliegende Untersuchung ist die Systemtheorie (gerade in Bezug auf die Erforschung eines Organisationssystems wie dem Polizeiwesen) insofern interessant, als sie die Perspektive nicht unilateral auf die Organisation im Sinne des Organisierens richtet, sondern die Organisation als System versteht, bei welchem sowohl normbedingte Entscheidungen (die Soll-Dimension) als auch die Entscheidungen der tatsächlichen Alltagspraktiken (die Ist-Dimension) konstitutiv wirken. Aus dieser Betrachtungsweise wird auch die Differenzierung, die Luhmann anspricht, erkennbar: Wenn sich die Grenzen des Systems durch die Differenz zwischen dem System und seiner Umwelt herausbilden, sind die Normen letzten Endes nichts anderes als die von den Leitungsinstanzen intendierten und somit kommunizierten Grenzen des Systems. Sofern sie strikt befolgt werden, bilden sie auch die reellen Grenzen desselben, andernfalls werden sie im Kontext der Alltagspraktiken gebildet, wobei die Palette möglicher Szenarien von der Duldung durch die Polizeileitung bis hin zu vollkommener Unkenntnis reichen kann. Infolge partieller Unterschiedlichkeit der Beobachtungen zwischen den Polizeibeamten muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass nicht von dem einen Polizeisystem gesprochen werden kann. Vielmehr bedarf es einer Auseinandersetzung mit der These, dass die Vielfalt an Beobachtungen je nach Beurteilung des jeweiligen Polizeibeamten auch unterschiedliche Definitionen der Systemgrenzen hervorruft. Ein besonderes Augenmerk muss deshalb den Definitionsräumen ausserhalb der von der Polizeileitung und den politischen Behörden bestimmten Grenzen eines sogenannten formalen Polizeisystems gewidmet werden. Hier nun könnte kritisiert werden, dass diese Betrachtungsweise wieder auf das alte Problem dessen zurückführt, was in Zusammenhang mit dem verallgemeinernden Begriff der Polizistenkultur ins Feld geführt wurde. Bezeichnenderweise aber akzentuiert die Systemtheorie mit ihrer Fokussierung auf die Unterschiedlichkeit der Beobachtungen und Kommunikationen gerade das, was dem Begriff der Polizistenkultur als immanente Allgemeingültigkeit und Starrheit anhaftet: So ist die Pluralität von Beobachtungen, Bewertungen und Kommunikationen schliesslich das, worauf sich die Systemtheorie konzentriert und der Grund, weshalb der Begriff der Evolution (als Gegensatz zu dem, was das Bild eines starren Konstrukts hervorruft) einleuchtet.


3 Polizei als System.

Vorgreifend kann die hier dargelegte Betrachtungsweise an einem konkreten Fall exemplifiziert werden. Dabei handelt es sich um den Umgang des Landjägers Michael Mutzner mit einem im Frühjahr 1830 von Samedan nach Savognin transportierten einheimischen Delinquenten namens Jakob Anton Peterelli.73 Auf die Frage des Verhörrichters, was der Landjäger in seinem Rapport unter dem Begriff des «gescheid [machens]» verstehe, 74 antwortete dieser:

«Betreff der Gescheidmachung des mich gefragt[en:] dieser [den Delinquenten, M. C.] hab ich zu Boden geschlagen und mit dem Stock gebrügelt biß er gesagt er wolle mir nichts wideriges mehr Machen; das heist gescheid gemacht und diß hat im gevelt.»75

Landjäger Mutzner sollte sich in der Auslegung seiner Definitionsmacht irren, denn der Verhörrichter liess ihn in seinem Antwortschreiben wissen, dass «er sich nie ohne höchste Noth an Leuten vergreifen sonst es gleich anzeigen soll[e]».76 Damit hatte Landjäger Mutzner die Grenzen des formal-normativen Polizeisystems klar überschritten. Systemtheoretisch betrachtet hatte Landjäger Mutzner sein Vorgehen als systemkonform betrachtet und sich offenbar innerhalb des formalen Polizeisystems gewähnt, sodass die Systemgrenze infolge Bestätigung der Auffassung vorerst wiederum ins System hineinkopiert wurde (und als Basis für weitere Beobachtungen/Unterscheidungen verwendet wurde). Die korrigierende Antwort des Verhörrichters jedoch sollte dafür sorgen, dass dem Landjäger Mutzner nochmals die richtigen, das heisst die geltenden formalen Systemgrenzen kommuniziert würden und sich der Fall aus der Sicht des Verhörrichters als Bestätigung ebendieser Grenzen erweisen sollte – diese Grenze also hineinkopiert wurde. In diesem Prozess sollte Sinn (hier die formale Norm, nur in höchster Not Gewalt anzuwenden) resultieren beziehungsweise unterstrichen und verdichtet werden.

Wenngleich sich die vorliegende Untersuchung nicht zum Ziel setzt, vorfindbare Kommunikationsprozesse derart technisch zu untersuchen, ist das Beispiel Mutzners gewinnbringend. Es legt dar, aus welcher Perspektive der Untersuchungsgegenstand betrachtet wird, und es steht insofern stellvertretend für zahlreiche Beispiele aus dem praktischen Polizeialltag. Der Fall verdeutlicht den ständigen Prozess (Evolution), in dem die Grenzen des Systems ausgelotet werden mussten und als dessen Folge sich auch Handlungsfelder sichtbar machen liessen, in denen von den Entscheidungsgremien nicht wirklich konkret-greifbare Grenzen vorgegeben werden konnten. Gerade der Blick auf letztgenannte Definitionsräume deutet darauf hin, dass Felder, bei denen auf den ersten Blick keine genuin polizeilichen Handlungen und Entscheidungen im Zentrum des Interesses standen (zu denken ist beispielsweise an Entscheidungen, bei denen landjägerbezogene Gesundheitsfragen zum Tragen kamen), tatsächlich zum sogenannten Polizeisystem gehörten. Denn letztlich handelte es sich hier um individuelle, das heisst aus der Alltagserfahrung für sich selbst definierte Normen, welche im Fall verbreiteter Aneignung innerhalb des Polizeikorps auch als informelle Normen bezeichnet werden können und die für die Bewältigung des Polizistenalltags in irgendeiner Form eine Rolle spielten. Normen folglich, ohne welche die Polizeibeamten sich das Überleben in der Polizistenfunktion im Hinblick auf die formal-normativen Richtlinien nicht vorstellen konnten. Im Zentrum der Frage nach den alltagsbezogenen Praktiken muss insofern immer die individuelle Auslegung der Definitionsmacht77 der einzelnen Polizeibeamten stehen, wobei diese keineswegs nur im Interaktionskontext zum Tragen kam.



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