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Kultur

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Im deutschsprachigen Raum wurde für die Untersuchung des Polizeiwesens in jüngster Zeit insbesondere die dichotomisierende Betrachtungsweise, welche die beiden Hauptkategorien Polizei- und Polizistenkultur unterscheidet, herangezogen. «Diese Perspektive», so Behr, der als einer der Verfechter dieses Ansatzes gilt, «beinhalt[et] auch die Annahme, dass die Organisationen selbst Kulturproduzenten sind und nicht nur Kultur haben.»15 Trotz Behrs unzureichender Erörterung des Kulturbegriffs16 ist dieser Ansatz bedeutsam. Er richtet den Blick nicht nur implizit, sondern in Form variierender Etikettierung auch explizit auf die Unterschiede zwischen hauptsächlich von oben geprägter formaler Organisation und den im Praxisalltag unten handelnden Polizeibeamten. Allerdings gilt es zu betonen, dass Behrs Ansatz nicht völlig neu ist. Dem Alltag der Polizeibeamten (sogenannte street cops) haben sich vor ihm zahlreiche Polizeiwissenschaftler gewidmet. Insbesondere angloamerikanische Forschungsprojekte waren dabei federführend. Diese Forschungsarbeiten haben die unterschiedlichsten Fragestellungen bezüglich alltäglicher Praktiken der in der Polizeihierarchie zuunterst operierenden Polizeibeamten zu beantworten versucht. Dabei bildete die Frage des Umgangs sowohl mit erfahrener als auch mit selbst ausgeübter Gewalt eines der zentralen Interessengebiete der Pionierarbeiten. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Arbeit Whytes, welcher in seiner 1943 veröffentlichten Studie zur Sozialstruktur in einem Italienerviertel von Boston durch partizipative Beobachtung unter anderem die Rolle der Polizeibeamten als Akteure herausarbeitete.17 Eine weitere Pionierarbeit war beispielsweise auch die Untersuchung Goldmans, welcher der Frage des selektiven Vorgehens von Polizeibeamten gegenüber Jugendlichen nachging.18 In seiner viel beachteten Arbeit zur Gewaltbereitschaft von Polizeibeamten im Durchschnittsamerika schliesslich versuchte Westley 1970 ein möglichst umfassendes Bild von der Lage, in welcher sich Polizeibeamte in einer anonymisierten (aber ebenso repräsentativen nordamerikanischen) Stadt in ihrem Alltag wiederfanden, zu vermitteln. Westley stellte die These auf, dass die Handlungsweisen und Umgangsformen der Polizei als Berufsgruppe zu einer Verzerrung des Gesetzesrechtes führen würden, wodurch das schliesslich geltende Recht (so wie es die Gesellschaft beeinträchtigen würde) in Teilen auch durch ebendieselben polizeibezogenen Umgangsformen konstituiert würde.19 Damit unterstrich er die determinierende Rolle der Alltagspraktiken rangniedriger Polizeibeamter20 für die Rezeption des Polizeiwesens als Organisation. Ein Verweis auf eine polizeieigene Kultur fehlte bei ihm jedoch gänzlich. Ganz anders war dies beispielsweise in der drei Jahrzehnte später erschienenen, thematisch ähnlich ausgerichteten Aufsatzsammlung «Violence and Police Culture»21. Allein dieser Titel zeigt den Wandel im Verständnis des Polizeiwesens; der Begriff Police Culture hatte sich innerhalb der Polizeisoziologie gegen Ende des 20. Jahrhunderts gewissermassen verselbständigt. Zwar war der Vergleich des Polizeiwesens mit einer partikulären Kultur schon in den 1960er-Jahren durch Skolnick postuliert worden22, erfuhr jedoch erst in den 1990er-Jahren und Anfang des 21. Jahrhunderts eine Diffusion. Die Verwendung des Begriffs Kultur für gewaltbezogene Zusammenhänge war dabei nicht zufällig. Shanahan etwa verwies 2000 in seinem Vortrag zu «Police Culture and the Learning Organisation» auf die Tatsache, dass der polizeibezogene Kulturbegriff meist negativ konnotiert sei und zudem sehr unterschiedlich ausgelegt werde.23 Publikationen wie diejenige Cranks («Understanding Police Culture») sind Belege dafür, dass sich hierin bereits eine gewisse Verschiebung abzeichnete.24 Eine eigentliche Diskussion über die Angebrachtheit des Kulturbegriffs an sich ist jedoch kaum festzustellen. Während Behr sich in Anlehnung an Reuss-Iannis 1983 erschienene Studie25 im Wesentlichen auf eine Dichotomisierung von zwei institutionsinternen Kulturen festlegte, hielt die angloamerikanische Forschung weitgehend an der monodimensionalen Etikettierung einer Police Culture fest. Unter diesem Sammelbegriff subsumierte sie jedoch sowohl Aspekte der Behr’schen Polizei- als auch der Polizistenkultur. Der meist sozialstrukturelle Schwerpunkt der Forschungsarbeiten war ausschlaggebend dafür, dass zunehmend die Alltagspraktiken der Polizisten statt die ihnen auferlegten Regelwerke und Instruktionen im Zentrum standen. Zu erwähnen sind hier neben dem Werk Cranks beispielsweise die Arbeiten von Reiner26 und Caldero27.

Der sehr vielschichtig verwendete Kulturbegriff indes erleichtert die Erfassung einer eigentlichen Police Culture nicht. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Praktikabilität soziologischer Studien zu Polizeiinstitutionen. Chans 1997 erschienenes Buch «Changing Police Culture. Policing in a Multicultural Society»28 liefert dafür einen ersten Hinweis. Chan unterstrich bereits vor Shanahan die Forderung, dass die Theorie einer Police Culture von der Existenz mehrerer Kulturen innerhalb eines Polizeiapparats sowie von der Verschiedenartigkeit derselben ausgehen sollte.29 Ihr Plädoyer für eine differenzierte Betrachtungsweise des Polizeiwesens machte jedoch wiederum explizit nicht den Kulturbegriff per se, sondern nur dessen Anwendungszugang in der polizeisoziologischen Forschung zum Thema. Mit einer eigentlichen definitorischen Abgrenzung des Polizeikulturbegriffs befasste sich (im Gegensatz zu mehreren der erwähnten Polizeisoziologinnen und -Soziologen und auf einer vergleichsweise konkreteren Ebene) erstmals der eingangs erwähnte Crank.30 Sich auf die Arbeiten Sackmanns (1992) und Halls/Neitz’ (1993) stützend, verwies er dabei auf fünf Elemente, welche die kollektive Sinnstiftung der Kultur konstituierten. Dazu zählte er (1) Konzepte beziehungsweise das Verständnis über Recht und Unrecht, (2) Verhaltensweisen, Werte und Rituale, (3) Programme und Hilfsmittel, (4) soziale und organisatorische Strukturen und (5) die aus diesen ersten vier Elementen entstehenden Produkte interaktionsbezogener Vorgehensweisen, welche ihrerseits als Stützen und Orientierungsmuster für nachfolgende Handlungen und Interaktionen wiederverwendet werden könnten.31 Es wirkt nun einleuchtend, dass die genannten Elemente für den hier gewählten Untersuchungsgegenstand von entscheidender Bedeutung sind. Gleichzeitig gilt es jedoch zu betonen, dass sie zwar sinnstiftend sind, jedoch nicht zwangsläufig eine Kollektivität hervorrufen müssen. Damit ist auch eine offensichtliche Problematik des Kulturbegriffs angesprochen. Sie wird vergleichsweise schnell fassbar, wenn an einen traditionellen Kulturbegriff erinnert wird, gemäss welchem Kultur als «Gesamtheit der von einer bestimmten Gemeinschaft auf einem bestimmten Gebiet während einer bestimmten Epoche geschaffenen, charakteristischen geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen»32 definiert wird. Zwar wird im Verlauf der vorliegenden Untersuchung noch aufgezeigt, dass das Bündner Landjägerkorps in Teilen durchaus als Gemeinschaft zu bezeichnen ist. Jedoch verweist gerade der Aspekt des Gesamtheitlichen (die vermeintlich Kollektivität schaffende Sinnstiftungsdimension) auf das markante Defizit des Kulturbegriffs. Dieser klärt nicht, welchen Deckungsgrad die angesprochene Kultur innerhalb der betrachteten Gemeinschaft hat, und birgt eine ständig vorhandene Verallgemeinerungstendenz in sich. Sofern diese vermeintliche Polizistenkultur organisatorische Aspekte anspricht (etwa: «Betreffend Patrouillierung zeichnete sich die Polizistenkultur dadurch aus, dass die Landjäger es oftmals bevorzugten, gegen Abend zur Station zurückzukehren, um unnötige Kosten zu vermeiden»), ist dies unproblematisch. Wenn jedoch Interaktionen und damit verbundene Vorgehensweisen ins Spiel kommen, ist deren Zusammenfassung zu mutmasslichen polizistenkulturellen Praktiken unbefriedigend.33 Für eine bedeutende Anzahl Polizeisoziologinnen und -soziologen waren diese Schwächen des Kulturbegriffs hinsichtlich soziologischer und sozialwissenschaftlicher Betrachtung des Polizeiwesens ganz offensichtlich kein Kritikpunkt. Dabei ist nicht in Abrede zu stellen, dass der Kulturbegriff erstens allgemein Grenzen schafft (diese Kultur gegenüber anderen Kulturen). Zweitens, und hier umso bedeutender, konstruieren diese geschaffenen Grenzen in der dichotomisierenden und in noch weiter diversifizierenden Perspektiven auf das Polizeiwesen Trennungslinien und unbeabsichtigte Einschlussmechanismen, die der weit komplexeren Realität kaum entsprechen. Die infolge der Begriffsbildung resultierende definitorische Abgrenzung einer Gruppe gegen aussen mit der (ungewollten) Homogenisierung innerhalb der Institution ist wohl das zentrale Problem des kulturtheoretischen Ansatzes. Gerade die sogenannte Polizistenkultur ist ein überaus schwammiger Begriff, der als Vermengung beziehungsweise Anzeiger für den Durchschnittspolizisten für die vorliegende Untersuchung kaum von Nutzen ist. Dies gilt umso mehr, wenn an den hohen Stellenwert der Unvorhersehbarkeit im Polizeialltag erinnert wird.34 In Zusammenhang mit dieser Kritik an der Begrifflichkeit soll jedoch explizit darauf hingewiesen werden, dass sie sich nicht a priori gegen die Resultate erwähnter Studien im Allgemeinen richtet. Viele der darin gewonnenen Erkenntnisse werden für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand noch von Nutzen sein, und es muss anerkannt werden, dass die Idee hinter der angewandten Begrifflichkeit nachvollziehbare Aspekte in sich trägt. Gerade die dichotomisierende Betrachtung in ein von oben gerichtetes, eher theoretisches Verständnis des Polizeiwesens und ein unmittelbares, eher auf die alltägliche Praktik ausgerichtetes Bild des Polizeiwesens muss als wichtiges Leitmerkmal zur Skizzierung des Polizeikorps berücksichtigt werden. Dennoch taugt der Kulturbegriff als theoretischer Rahmen im vorliegenden Zusammenhang nicht. Zu diesem Verdikt ist auch Reckwitz in seiner Gegenüberstellung der Kulturtheorien mit der Systemtheorie Luhmanns gelangt. Der Soziologe verwies auf die Tatsache, dass es sich bei Kultur um einen Begriff handle, der «chronisch vieldeutig […] geblieben» sei.35 Reckwitz gelangte zum Fazit, dass die Kulturtheorien «nicht als ‹individualistisch›, sondern umgekehrt als Vertreter eines sozialen Regelholismus» erscheinen würden.36 Bezeichnenderweise verwies er darauf, dass der angebliche «Holismus» traditionellerweise eher eine Eigenschaft sei, die der Systemtheorie Luhmanns angelastet worden sei. Reckwitz’ Ausführungen, in welchen diese Auffassung infrage gestellt wird, deuten darauf hin, dass die Systemtheorie für die Auseinandersetzung mit dem Polizeialltag interessante Impulse bieten kann.



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