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Kapitel 8: Orkan

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„Das wird heute noch ein wenig stürmisch werden.“ Ellen, die Pächterin des Pilgrims Nest, half Joy die Schachtel mit den Büchern aus dem Wagen zu heben.

Ein Windstoß fegte über die Straße und die Haare der beiden Frauen wirbelten wild im Wind.

„Huh … schnell hinein, bevor uns der Sturm wegweht.“ Ellen lachte.

Ein erneuter Windstoß schlug Joys Autotür zu, dass es laut über den Marktplatz hallte. Sie hatten Mühe die Schachtel zu balancieren und sicher in das Pub zu tragen. Ein paar Regentropfen prasselten wie Hagel auf den Boden und sprangen kurz wieder auf.

„Das ist lieb von dir, Joy. Die Bücher passen gut hierher und ich kann endlich ein paar alte Exemplare ausmustern.“

„Gerne.“ Joy lächelte „Die sind ein wenig beschädigt vom Hochwasser letztes Jahr, aber viel zu schade zum Wegwerfen. Ich bin froh, dass du sie nimmst.“

Ellen nickte zustimmend. „Tee?“

„Gerne“

Im Pub waren nicht viele Gäste, nur ein paar Männer saßen um den Tisch neben dem offenen Kamin. Die Flamme loderte unruhig unter dem Luftzug. Einer von ihnen, ein wuchtiger, dunkelhaariger Mann, musterte Joy und kam zu ihr herüber. Der Kleidung nach zu urteilen war er ein Farmer.

„Cheers!“

„Hallo!“ Joy fragte sich, was er wollte, und lächelte unsicher.

„Sie waren am Neujahrstag mit Mike da?“ Er machte keine Umschweife und taxierte sie kurz. „Gehen sie mit ihm?“

Ellen kam mit der Tasse Tee hinter dem Tresen hervor. „Ach, lass sie in Ruhe, Pat. Seit wann hat Mike denn eine Freundin? Der ist doch mit der Army verheiratet.“

Pat zuckte die Schultern. „Ja, magst recht haben. Aber hätte ja sein können … “ Er nickte Joy wieder zu und ging zurück zu den anderen.

Die Männer am Tisch drehten die Köpfe nach ihr um. Joy fühlte ihre Blicke.

„Tut mir leid, Joy.“ Ellen gab ihr die Teetasse. „Vergiss die Lads. Ist ja nur, weil Mike hier eine große Nummer sein könnte.“

Joy sah sie fragend an.

„Hat er dir das nicht erzählt?“ Sie runzelte die Stirn „Nein sicher nicht, er erzählt nie etwas von sich.“

Joy musste an Mill Cove denken. ‘Doch’, dachte sie, ’das tut er manchmal.’

„Es ist so, dass er eine große Farm hinter Templebryan besitzt. Bestes Weideland. Hat seinen Eltern gehört … er will es nicht haben. So ist alles verpachtet und das Farmhaus steht seit Jahren leer.“

’Schade’, dachte Joy, ’aber ich kann es verstehen.’

„Mal sehen, was er macht. Verkaufen will er nicht, da beißen alle auf Granit.“

Von draußen war das anschwellende Brausen des Sturmes zu hören. Er rüttelte an den Türen des Pubs. Ein paar dürre Blätter wirbelten in die Gaststube.

„Danke für den Tee, Ellen, aber ich fahre lieber, bevor es zu windig wird.“

„Ja, das ist wohl besser. Im Radio haben sie vor Sturmfluten an der Küste gewarnt und vor schweren Regenfällen im Binnenland.“ Sie warf einen Blick durch das Fenster. Graue Wolkenfetzen jagten über den Himmel. „Wird schon nicht zu schlimm werden. Die neigen zu Übertreibungen.“ Sie lächelte Joy aufmunternd zu.

„Ja, das tun sie“, antwortete Joy tapfer und glaubte kein Wort von dem, was sie sagte.

„Hast du dein Handy dabei? Wenn du willst, kannst du auch hierbleiben“ Ellen schien jetzt doch besorgt.

Joy zog ihr Handy aus der Jackentasche und kontrollierte den Speicher. „Danke, Ellen, es ist ja nicht weit.“

Auch die Männer brachen auf und nickten Joy grüßend zu. „Wird 'ne stürmische Nacht, Ellen. Wir gehen besser.“

„Lads!“

Auf der Straße empfing Joy wieder der prasselnde Regen von vorhin. Wie kleine Gummibälle sprangen die Tropfen über die Straße. Sie machte, dass sie ins Auto kam. Ein heftiger Windstoß fegte einen der Hanging Baskets vor dem Centra zu Boden. Den Inhalt trieb der Wind wie eine kleine Wolke vor sich her.

Auf dem Weg aus dem Ort spürte Joy, wie ihr kleiner Wagen im Sturm leicht hin und her schwankte. Nimm den Weg hinter der Lagoon, am Hallway könnte dich der Seitenwind leicht von der Straße fegen. Die Worte Ellens klangen noch in ihrem Kopf.

Wilde Wellen türmten sich in der sonst so sanften Lagoon, auf der im Sommer die Familien mit ihren Tretbooten fuhren. Weiße Gischt sprühte an den Ufern bis herauf zur Straße.

Der Himmel begann sich dunkel zu verfärben, fast violett, und darüber erschienen seltsame fahle Wolken, die wild im Sturmwind galoppierten. Plötzlich erschien die Sonne. Blendend weiße Strahlen erhellten die Landschaft und tauchten sie in ein bedrohlich-unwirkliches Licht. Die Äste der Bäume glänzten silbern in ihrem heftigem Auf und Ab zwischen den Windstößen.

Die Landstraße war fast verlassen, nur noch wenige Wagen waren unterwegs. Jeder für sich beeilte sich, an sein Ziel zu kommen.

Ein Schild tauchte am Straßenrand auf - die Abzweigung nach Sams Cross. Joy atmete auf. Jetzt war es nicht mehr weit.

Plötzlich hörte sie über sich ein lautes Pfeifen und Heulen, das wie der Regen aus dem Himmel zu kommen schien. Vor ihrer Fensterscheibe war plötzlich nicht mehr zu sehen, als eine undurchdringliche, graue Regenwand. Hagel begann wie ein Trommelwirbel auf das Blech niederzuprasseln. Und dann spürte sie, wie ihr kleiner Wagen einen Satz nach vorne machte und mit Gewalt gegen einen Baum gedrückt wurde. Der Baum zerbrach krachend in zwei Teile und stürzte auf das Autodach.

Joy hörte die Frontscheibe splittern und spürte einen harten Schlag gegen die Schläfe. Sie verlor das Bewusstsein.

Der Regen kam jetzt in Wellen über das Land. Wie eine wilde Brandung, die ungestüm ans Ufer drängt. Über allem heulte der Sturmwind wie eine wilde Furie. Der umgestürzte Baum ächzte und stöhnte im Orkan.


„Hier herüber! Die Türen sind nicht zu öffnen.“

Joy spürte, dass sich draußen jemand zu schaffen machte. Stimmen drangen durch das Sturmgeheul an ihr Ohr. Sie wollte die Augen öffnen, aber ihre Lider waren wie Blei. Ihr Kopf schmerzte.

Ein lautes Knacken und Bersten von Glas, dann hob sie jemand aus dem Auto. Sie fühlte sich leicht, wie ein Teil des Windes. Täuschte sie sich? Das wilde Brausen mischte sich mit Motorengeräuschen. Jemand hielt sie fest, auf der holperigen Fahrt durch die dunkle Nacht …


Wieder drangen Männerstimmen an ihr Ohr. Was sagten Sie? Sie lauschte angestrengt, konnte aber kein Wort verstehen. Immer wieder schien der Wagen zu halten, fuhr weiter, hielt wieder.

Jemand hob sie in die Höhe. Sie spürte einen kalten Windhauch und dann wohlige Wärme.

Das Erste, was sie klar erkennen konnte, war das Gesicht von Doc O’Brian.

„Da sind sie ja wieder, Joy!“ Er lächelte sie an.

Sie lag auf dem Sofa vor dem Kamin, der in der Sturmnacht nur vor sich hin gloste.

„Sie haben uns einen schönen Schrecken eingejagt.“ Jetzt erschien auch das Gesicht von Mrs. O’Brian über ihr. „Kindchen, das hätte böse enden können. Ein Glück, dass sie ihre zwei Schutzengel dabeihatten.“

Joy konnte ihren Worten kaum folgen und schloss wieder die Augen. ‘Ich bin müde ‘, dachte sie.

„Lassen wir sie schlafen.“ Die Stimme Doc O’Brians schien wie aus weiter Ferne zu kommen.


Es mussten Stunden vergangen sein. Als Joy erwachte, war es draußen bereits hell. Der Sturm hatte nachgelassen und im Kamin loderte wieder ein prasselndes Feuer.

Sie öffnete die Augen. Gegenüber in einem Lehnstuhl saß Trish und blätterte in einem Buch. Hier zu liegen war wunderbar. Nur ihr Kopf schmerzte, wenn sie sich bewegte. Sie überließ sich der angenehmen Ruhe und schlief wieder ein.

Draußen begann es schon dunkel zu werden, als sie die Augen erneut öffnete. Statt Trish saß jetzt Mrs. O’Brian mit ihrem Strickzeug im Lehnstuhl. Das Feuer brannte wie vorher.

„Joy?“ Mrs. O’Brian beugte sich über sie. „Was machen sie denn für Sachen?“ Sie setzte sich neben sie und hielt ihre Hand. „Mädchen … “

Joy lächelte kläglich und versuchte sich aufzurichten. Mrs. O’Brian drückte sie wieder sanft herab ins Kissen. „Noch ein wenig Ruhe wird Ihnen gut tun. Mein Mann sagt, sie haben eine Gehirnerschütterung. Die nächsten Tage bleiben sie hier.“

Eine Welle der Dankbarkeit stieg in ihr auf. Nur hier liegen können, in der Wärme. „Danke!“, flüsterte sie.

„Oh Mädchen, das ist kein Umstand.“ Mrs. O’Brian mustere ihr Gesicht. „Ganz blass sind sie. Aber das wird schon wieder. Ich hole ihnen etwas Tee, Sie sind ja sicher ganz verdurstet.“

Joy musste sich konzentrieren, um ihren Worten zu folgen. Aber etwas wollte sie wissen, was war es, das sie wissen wollte? Ihre Gedanken schienen sich wie im Kreis zu drehen — ohne Anfang, ohne Ende. Alles in ihrem Kopf war irgendwie in Unordnung. Die Worte, die sie suchte … wo waren die Worte. Da endlich: „Wer?“ Sie verstummte.

Mrs. O’Brian strich ihr liebevoll über das Haar. „Wer sie gefunden hat, Kindchen? … Ja?“

Joy konnte nur mit den Augen antworten.

„Zwei Schutzengel in Uniform“ Sie lächelte. „Und sie sahen heute Nacht auch fast so aus mit ihren schweren, weiten Mänteln. Mike und Sean. Sie waren auf dem Rückweg von Skibbereen nach Cork. Die N71 war wegen umgestürzter Bäume gesperrt und die beiden sind über Sams Cross ausgewichen. Das war ein Glück. Ein Glück!“

‘Mike’, dachte Joy. ‘Ja, was für ein Glück.`

Der gläserne Horizont

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