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Kapitel 9: Die zerbrochene Mauer

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„Wir brauchen eine Aushilfe.“ Mrs. O’Brian zog die Vorhänge zurück und sah Joy erwartungsvoll an.

Inzwischen war die Kranke vom Sofa im Wohnzimmer in das Gästezimmer im ersten Stock umgezogen. Auf Trish und Doc O’Brian gestützt hatte sie die wenigen Schritte mühsam über den Gang gemacht. Das Gästezimmer war ein gemütlicher Raum mit grüner Tapete, weiß lackierten Möbeln und Bildern von Rosen an der Wand. Das breite Bett hatte man ein wenig zum Fenster geschoben, damit Joy in den Garten hinausblicken konnte.

„Ist doch eine richtig schöne Gehirnerschütterung Joy. Sie müssen ganz ruhig liegen bleiben, bis ihr Kopf nicht mehr schmerzt. Vorher lasse ich sie nicht gehen.“ Er nickte ihr aufmunternd zu. „Ein Weilchen wird’s aber dauern. Nur Geduld, das wird alles wieder werden.“

Joy versuchte erst gar nicht aufzustehen. Ihr Kopf dröhnte bei der geringsten Bewegung und die Wunde an der Schläfe pochte. Sie fühlte sich wie zerschlagen.

„Ich habe da jemanden für uns.“ Mrs. O’Brian stellte eine Tasse Tee auf das Nachtkästchen. „Julia Dehane. Vielleicht kennen Sie sie? Arbeitet stundenweise in der Bücherei … “

Joy konnte sich nicht erinnern. ‘Dehane?’

„Ich habe sie schon mal angerufen.“ Es war nicht Mrs. O’Brians Art etwas auf die lange Bank zu schieben. „Julia?!“

Eine mittelgroße, mollige Frau mit langen, dunkelbraunen Haaren und freundlichem Gesicht kam vorsichtig ins Zimmer. Sie musste ungefähr 18 Jahre alt sein.

‘Seltsam’, dachte Joy. ‘Ich habe mir eine Julia immer anders vorgestellt. Groß, blond und mit einer guten Figur.’

„Hallo, Mrs. Tanner.“ Julia bemühte sich leise zu sprechen „Riesenglück hatten sie da.“

„Kann man wohl sagen“, pflichtete ihr Mrs. O’Brian bei.

Beide Frauen sahen Joy einen Moment an.

`Ich muss aussehen wie ein weißes Bettlaken’, dachte Joy und versuchte zu lächeln.

„Julia könnte sofort anfangen.“ — Julia nickte eifrig. — „Sie ist in der Bücherei nur stundenweise beschäftigt … Sparmaßnahmen wegen der Wirtschaftskrise.“ Mrs. O’Brian verdrehte die Augen, „und da wäre die Stelle im Bookshop ideal.“ Wieder nickte Julia zustimmend.

Joy hatte nicht den Eindruck, dass man ihr eine Wahl ließ.

„Ja, das wäre schön, Miss Tanner, wenn ich für sie arbeiten dürfte.“

Joy versuchte wieder zu lächeln.

„Dann ist es abgemacht?“ Mrs. O’Brian begann Julia eilig aus dem Zimmer zu bugsieren. „Und jetzt müssen sie schlafen, Joy. Sie brauchen Ruhe zum Gesundwerden.“

„Wiedersehen und gute Besserung!“, ließ sich Julia noch vernehmen, bevor sie hinter der Tür verschwand.

„Soll ich die Vorhänge zuziehen?“

Joy schüttelte sacht den Kopf.

„Dann ist es gut, Kindchen.“ Sie zog die Decke glatt. „Übrigens, ehe ich es vergesse: Mike kommt heute Abend heim. Wird ja auch Zeit nach der Schufterei mit den Sturmschäden. Die in der Army müssen wirklich für alles herhalten.“ Ihre Stimme klang empört. „Brauchen Sie noch etwas? Nein? Ich sehe später wieder nach unserer Patientin.“ Sie zog leise die Tür hinter sich zu und machte sich mit Julia auf den Weg nach unten. Joy hörte, wie sich die beiden unterhielten.

‘Mike kommt heute Abend‘, dachte sie. Die Schäden durch den Orkan waren enorm, hatte ihr Mrs. O’Brian erzählt. Nach der Sturmnacht waren alle Rettungseinheiten bis zur Räumung der Straßen im Dauereinsatz.

Draußen rauschte der Regen in monotoner Regelmäßigkeit. Joy hörte dem leisen Plitsch-Platsch der Tropfen vor ihrem Fenster zu, das sich immer mehr in den Geräuschen des Hauses verlor. Ein paar Kinderstimmen irgendwo aus dem unteren Stock, ein Frauenlachen, Türen, die sorgsam ins Schloss gezogen wurden, das Getrappel von Schritten auf der Treppe. ’Wie seltsam, hier zu liegen’, dachte Joy, ’im Haus zu sein, aber doch nicht teilzuhaben an dem Leben hier überall.’ Kleine, schnelle Schritte, langsame, bedächtige, die den ersten zu folgen schienen, dann wieder eine wilde Jagd nach unten und dann — Joy lauschte angestrengt — feste, entschlossene Schritte, die sich ihrem Zimmer näherten. Die Schritte erstarben. Jemand öffnete vorsichtig die Tür und trat ins Zimmer. Mit geschlossenen Augen hätte sie gewusst, wer gekommen war.

„Mike?“ Sie versuchte sich aufzurichten.

„Wie geht es dir, Joy?“ Noch immer hatte er seinen schweren Regenmantel um. Offensichtlich trug er die Uniform seit Tagen. Das dunkle Haar hing ihm in unordentlichen Strähnen über die Stirn. Sein Gesicht war bleich und trug die Spuren von fehlendem Schlaf und den überstandenen Strapazen der letzten Tage.

„Mir geht es besser als dir, denke ich“, Joy versuchte ein Lächeln.

Er setzte sich an den Bettrand und fuhr mit einer müden Geste durch sein Haar. „Ja, sieht wohl so aus?“ Er grinste.

„War es sehr schlimm?“

„Es war viel zu tun fürchte ich … mehr, als wir zuerst dachten.“ Er schwieg.

‘Wie sage ich ihm Danke?’ Joy fühlte, wie sich alles zu drehen schien. Ihre Gedanken flogen leicht wie Federbälle in ihrem Kopf hin und her. „Mike, ich will dir danken für … die Rettung … “

Er hob den Kopf und sah sie unverwandt an. Seine Augen waren für einen Moment hellwach. „Danken? Wofür? Dass ich im richtigen Moment am richtigen Ort war?“ Er zögerte einen Augenblick und fuhr mit veränderter Stimme fort. „Joy, wenn jemand dankbar sein muss, dann ich!“

Von draußen hörte man das sanfte Plätschern des Regens. Im Haus war alles still. Nichts regte sich.

„Ich konnte Sandy damals nicht helfen, aber dir, Joy. Und dafür bin ich dankbarer, als du es dir je vorstellen kannst … “ Er sah auf.

‘Er ist zu Tode erschöpft.’

„Ich denke, ich bin schon fast zu müde aufzustehen.“ Er grinste in komischer Hilflosigkeit.

„Leg dich einen Moment auf die Decke neben mich. Platz genug ist ja.“

„Ja, aber nur einen Augenblick … “ Er kapitulierte.

Tiefe regelmäßige Atemzüge verrieten Joy, dass er fest eingeschlafen war, kaum dass er zu Ende gesprochen hatte.

Joy betrachtete sein Gesicht. Völlig gelöst im tiefen Schlaf, war sein Kopf ein wenig zu Seite geneigt. Die Haare in wilder Unordnung bildeten einen scharfen Kontrast zu den klaren Linien seiner Züge. Unter den fest geschlossenen Lidern verloren sich die Strapazen der letzten Tage. Die steile Falte auf seiner Stirn war verschwunden. Ein goldenes Gefühl wuchs in ihrer Brust, das sich ausdehnte und den ganzen Raum erfüllte. Gerne hätte sie ihn berührt. Der schwere Regenmantel hatte sich im Schlaf unter seinem Kinn leicht geöffnet. Darunter konnte Joy den Halteriemen eines Funkgerätes erkennen. ‘Hoffentlich lassen sie ihn in Ruhe’, dachte Joy und lehnte sich wieder zurück in ihr Kissen. ´Was für ein seltsames Paar geben wir ab … aber es ist wunderbar, dass er hier bei mir ist.’ Zaghaft berührte sie seine Schulter und folgte mit den Fingerspitzen langsam den schweren Nähten des Revers.

Mrs. O’Brian warf nur einen mitleidigen Blick auf ihn, als sie mit dem Abendessen zu Joy ins Zimmer kam: „Er ist ein feiner Kerl, lassen wir ihn schlafen. Das wird ihm gut tun. Ich komme später wieder … Sie haben es doch bequem?“, flüsterte sie und schlich sich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.

‘Endlich’, dachte sie lächelnd, als sie die Tür hinter sich zuzog, ‘die jungen Leute sind manchmal wirklich schwer von Begriff.’ Sie ging nach unten in ihre Küche.


Allmählich wurde es draußen dunkel. Die Schatten im Zimmer wurden länger und verschwanden schließlich ganz. Das Haus begann nach der nachmittäglichen Ruhe wieder lebendig zu werden. Türen wurden geöffnet und geschlossen, die Stimme Mrs. O’Brians rief nach den Kindern. Das Klirren von Geschirr drang an Joys Ohren. Irgendjemand stellte den Fernseher an. Eine Gameshow mit ihren Fanfaren und ständigen Plings war gedämpft aus dem Wohnzimmer zu hören.

Sie beobachte Mike im verlöschenden Tageslicht. Er regte sich nicht, nur sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Das Getrappel der Schritte auf den Gängen und Treppen war wieder zu hören. Wasserhähne begannen zu rauschen, helle Stimmen erklangen in Protest und wurden schnell zum Schweigen gebracht: „Psst!“ Mrs. O’Brian brachte die Kinder zu Bett. Dann wieder Stille.

Joy hörte, wie sich ihre Tür leise öffnete. „Sie schlafen noch nicht, Kindchen?“, flüsterte eine Stimme. „Dann wird es aber Zeit. Gute Nacht, Joy.“ Sie erwähnte Mike mit keinem Wort. Die Tür schloss sich so leise, wie sie sich geöffnet hatte.

Joy lauschte Mikes Atem und verfiel in der behaglichen Wärme des dämmrigen Raumes in einen Zustand zwischen Wachen und Schlaf. Von Zeit zu Zeit drehte sie sich zu ihm um, nur um zu sehen, ob er noch neben ihr lag. Das Mondlicht schien sich im Dunkel der Nacht auszudehnen, wieder zusammenzuziehen und mit silbernem Stift seltsame Schatten und Formen an die Wände zu zeichnen. Alles war in wilder Bewegung, dann stand alles plötzlich still. Joy fand sich unter den Ästen des umgestürzten Baumes wieder, spürte das splitternde Glas um sich her. Jemand hob sie aus dem Wagen. Wer hob sie aus dem Wagen? Wer? Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen. Wer? Sie spürte, wie sie sich an ihn klammerte. Das grobe Gewebe des Revers. Sie erinnerte sich …


Die Regenfront der Nacht begann langsam ins Landesinnere abzuziehen und der Himmel klarte auf. Die Morgensonne schien hell durch das Fenster und vertrieb die Schatten der Nacht.

Sie spürte, wie sich Mike bewegte, und war sofort hellwach. Er hatte sich aufgesetzt und stützte den Kopf in beide Hände. Dann sah er sich fragend im Zimmer um. Sein Blick fiel auf Joy. Er stand auf.

„Ich muss kurz eingenickt sein, entschuldige bitte.“

„Kurz?“ Sie lächelte ihn an „Du hast die ganze Nacht hier geschlafen … “ Joy sah, wie er sich mit der Hand über das Kinn fuhr und an sich herabblickte.

„Dem Bart nach zu urteilen … mit der ganzen Uniform?“ Er grinste verlegen.

‘Was, wenn er jetzt geht?’ Joy verspürte eine lähmende, kalte Angst im Herzen. ‘Was, wenn er jetzt einfach geht und mich allein zurücklässt?’

„Ich hoffe, ich habe mich nicht herumgewälzt und dich gestört?“

„Da hätte ich dich aus dem Bett geworfen.“ Sie lachte und schlüpfte unter ihrer Decke hervor. Sie spürte, wie der Boden unter ihr wankte und griff nach dem Stuhl, den man extra für ihre Besucher hingestellt hatte. „Huh … “

„Alles in Ordnung?“ Mike sah sie unschlüssig an. Er schloss einen Moment die Augen und wie ein Schwimmer vor dem Sprung holte er tief Luft. „Joy, ich weiß, ich bin ein Soldat und kaum das, was sich eine Frau für ein glückliches Leben wünscht. Aber … willst du es mit mir versuchen?“

Das goldene Gefühl in ihrem Herzen kehrte zurück und breitete sich aus, wurde zu einem glühenden Ball aus Licht, der ihn mit einschloss. ‘Wenn es Glück gibt, wenn es Glück wirklich gibt, ist es bei dir … ‘ Sie hob den Kopf und sah ihn an. Sanft ließ sie ihre Finger durch seine zerzausten Haare gleiten.

Seine Augen waren dunkel, voller Unsicherheit und Zweifel. Irgendetwas in ihm versuchte mit aller Macht, die Mauer, die ihn umgab, zu durchbrechen.

„Für mich gibt es nur dich Mike“, flüsterte sie.

Er zog sie an sich und hielt sie fest in seinen Armen.

Der gläserne Horizont

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