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Kapitel 6: Elfenzauber
ОглавлениеDer Karton war fest zugeklebt. Joy holte ihren Brieföffner aus dem Laden. Ja, da waren die ersehnten Fairy Tales für die Kinder — große, bunte Bildbände mit Zeichnungen von tanzenden Elfen und Trollen. Der Verlag hatte noch zwei kleine Puppen dazugelegt, einen Troll und eine Elfe. ’Nette Idee’, dachte Joy. ’Das wird Mia gefallen.’
Jemand klopfte an die Schaufensterscheibe ihres Ladens. Sie erschrak. ‘Ich muss mir unbedingt eine Klingel anschaffen.’ Sie legte die Puppen zurück. Heute, am Bankfeiertag, war ihr Geschäft eigentlich geschlossen.
Vor der Tür stand Mike. Er lächelte ihr entgegen. „Guten Morgen, Joy. Ich hoffe, ich störe dich nicht?“
„Mike?“ Ihr Herz machte einen Satz. „Nein, komm herein!“ Sie öffnete die Ladentür.
„Ich dachte, du hast vielleicht Lust auf einen kleinen Ausflug. Keine Angst … keine Wanderung.“ Er lachte. Die Wallfahrt auf den Carrigfadda war beiden noch in Erinnerung. „Du brauchst nicht einmal besonders feste Schuhe. Ich möchte deinen Rat.“ Er sah sie erwartungsvoll an.
„Warum nicht? Nur einen Moment. Ich ziehe mir was über.“ Sie eilte nach oben in ihre kleine Wohnung und holte den Regenmantel hervor — man konnte nie wissen. Er wollte ihren Rat? Sie warf einen kurzen Blick in den Spiegel, bevor sie wieder nach unten ging. Ihr aschblondes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. ‘Ich sehe aus wie eine Nonne ‘ Sie löste das Band und ihre Haare fielen lockig über die Schultern. ‘Schon besser’. Sie seufzte.
„Da bist du ja!“ Er hielt ihr die Wagentür auf.
‘Ich muss mich zusammennehmen.’ Bisher hatte sie die Liebe nur durch und in ihren Bücher erlebt. Aber dieser Mann neben ihr war Realität — und das machte sie hilflos. ‘Nur keinen Fehler machen. Aber wie geht das: keine Fehler machen?’
Seit Neujahr war er immer wieder bei ihr vorbeigekommen. Er genoss die Gespräche mit ihr, fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart. Manchmal saßen sie nach Ladenschluss lange in The Winery am Astnasquare zusammen. Die Unterhaltungen drehten sich um Gott und die Welt. Seltsamerweise schienen sie aber nie über Persönliches zu sprechen, kamen sich trotz der vielen Stunden, die sie zusammen verbrachten, nicht wirklich näher. Sie dachte an den Weihnachtsabend und den Kuss. Heute war sie sich sicher, dass ihr die Fantasie einen Streich gespielt hatte. Sie hatte ein seltsam ziehendes Gefühl in der Herzgegend, wenn sie daran dachte.
Mike steuerte den Land Rover durch die schmale Hauptstraße. Lkws entluden ihre Waren, einer der Bus Eireann hielt an der Haltestelle vor dem O’Donnovan Hotel, Fußgänger kreuzten die Straße wie Boote, die vom sicheren Ufer der Gehwege ins tückische Meer der Straße ablegten, und Autos parkten mehr schlecht als recht an den Straßenrändern. Es war immer wieder ein Wunder, dass der Verkehr nicht völlig zum Erliegen kam.
Schließlich ließen sie die kleine, quirlige Stadt hinter sich und folgten der Landstraße Richtung Rosscarbery. Auf den Wiesen und den Straßenrändern blühten Heerscharen von Märzenbechern. In kleinen Gruppen hatten sie sich versammelt und leuchteten goldgelb in der Frühlingssonne.
„Wo fahren wir eigentlich hin?“ Joy musterte Mike von der Seite. Er war nicht sehr gesprächig gewesen seit ihrer Abfahrt und wirkte angespannt. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen.
„Was? Ja … “ Hatte er sie ganz vergessen? „Ich will dir Ventry zeigen. Eine verfallene Templerkirche oben hinter Foxhall. Man hat eine herrliche Aussicht von da oben.“
‘Foxhall’, dachte Joy. Da standen mehr Windfarmen, als es dem Land guttat. Sie mochte diese Ungetüme aus Stahl nicht. In ihren Augen waren sie Schandflecken und verunstalteten die Landschaft. „Ventry? Habe ich noch nie gehört.“
Der Wagen rumpelte über eine enge Schotterstraße voller Schlaglöcher. Die Ausleger der Brombeerhecken kratzten manchmal entlang der Türen.
„Wir sind da.“ Mike lenkte den Wagen an den Straßenrand und sprang hinaus.
`Zum Glück ist keine Windfarm zu sehen’, dachte Joy.
Das eingefallene Tor war unter den Brombeersträuchern kaum erkennbar. Irgendjemand hatte es mit einem blauen Plastikseil lose an der Verankerung festgebunden. Mike löste die Knoten und das Tor schwang auf.
Sie folgte ihm über die wenigen Stufen hinauf zu den Ruinen der Templerkirche. Um diese Jahreszeit begann das Moos auf dem Weg wieder in sattem Grün zu leuchten. Alles um sie herum schien in Aufbruch zu sein. In den Beerenhecken, den wilden Rosenbüschen und niedrigen Weißdornsträuchern zwitscherten aufgeregt die Vögel. Der Winter war vorbei und sie begannen ihre Nester zu bauen. Joy lächelte.
Die Zeit hatte nur wenige Mauern des Gotteshauses überdauern lassen. Ringsum hatten die Einheimischen, wie es von jeher der Brauch war, ihre Toten begraben. Kleine, unscheinbare Grabsteine, halb verborgen unter dem Gras, deren Namen der Regen längst abgewaschen hatte, wechselten sich ab mit Gräbern neueren Datums. Hohe Kreuze aus weiß getünchtem Limestone, die Schrift in schwarzen Lettern.
„Komm hier herauf, Joy! Da hat man den besten Blick.“
Und er hatte recht. Zu Ihren Füßen lag das breite Tal des Fidle. Sonnendurchflutet, still. Hecken und Sträucher im ersten zarten Grün des Frühlings umschlossen die Weiden und Wiesen, wie ein unregelmäßiges Schachbrettmuster. Grün überall, dieses wunderbare Grün, in allen Schattierungen und Facetten, durchbrochen nur vom Grau der Steinmauern, die sich unter den Hecken hervorduckten. Die Häuser schienen willkürlich über das Land verteilt und glänzten weiß im Licht. In der Ferne glitzerte das Meer. Eine sanfte Brise erhob sich. Die Luft war noch kühl und trug den Geruch nach sonnenwarmer, feuchter Erde mit sich und die Ahnung nach dem Duft der Blumen, die hier bald ihre Knospen öffnen würden.
„Hier bin ich geboren. Das ist mein Land.“
Sie sah zu Mike hinüber. Er wirkte abwesend und in sich gekehrt. Wie er da stand, war er ein Teil der Landschaft, ein Teil des Landes, das über Jahrhunderte die Heimat seiner Familie war. Generation auf Generation war hier geboren worden, heiratete, arbeitete und sank nach bemessener Lebenszeit zurück in die Erde, betrauert von den Kindern und Kindeskindern. Ein ewiger Kreislauf von Leben und Tod.
Er erwachte wie aus Trance. „Ich bin heute keine sehr unterhaltsame Gesellschaft, fürchte ich.“
Joy berührte seinen Arm, nur um zu spüren, ob er Wirklichkeit und real war. „Hier ist es … himmlisch!“ Kein anderes Wort hätte all dies gefasst …
„Es gefällt dir?“ Er lächelte sie an. Dann wies er mit der Hand hinunter ins Tal. „Da unten steht das Haus meiner Großeltern. Sie haben es mir vor Jahren hinterlassen und ich habe mich darum gekümmert, so gut es ging, aber die meiste Zeit bin ich in Cork. An den freien Tagen reicht mir das Zimmer bei Mrs. O’Brian. Ich werde das Haus wohl jetzt verkaufen müssen.“ Wehmut schwang in seiner Stimme.
Joy war neugierig geworden. „Willst du es mir zeigen?“
„Ja, das hatte ich vor.“
Sie warfen einen letzten Blick auf das Tal. Weiße Wolkenschiffe glitten langsam durch die milde Frühlingssonne und warfen unregelmäßige Schatten auf die Erde. Sie spürte wieder den seltsamen Zauber, der von dem Land ausging.
„Ich wollte, ich wäre eine Taube und könnte schwerelos über das Tal gleiten“, flüsterte sie träumerisch.
Sie machten sich auf den Weg.
„Wir müssen zurück nach Reenascreena. Das ist am kürzesten.“
Wieder rumpelte der Wagen über die Landstraße. Wie versprochen, war es nicht weit. Das Ortsschild Reenascreena tauchte unvermittelt auf und verschwand wieder hinter den Sträuchern. Ein Pub in hellem Rot gestrichen, ein paar Häuser und ein Sägewerk. Der ganze Ort schien irgendwie aus Straßen zu bestehen. Eine aus jeder Himmelsrichtung und dazu ein paar schmale Wege, die zu den Häusern führten.
`Seltsamer Ort’, dachte Joy, ‘Jeder scheint hier auf der Durchreise zu sein.’
Mike war noch immer schweigsam. Er folgte der Straße nach Süden und bog dann nach Rosscarbery ab. Die Schollen der noch leeren Felder glänzten silbern in der Sonne und die blühenden Wiesen bildeten ihren bunten Rahmen.
Allmählich wurde die Straße schmaler und führte vom freien Feld hinab durch sanfte, grasbewachsene Hügel.
„Da ist es.“ Mike blickte Joy einen Moment an.
Sie sah die Anspannung von vorhin wieder in seinem Gesicht. ‘Er leidet’ sie fühlte es deutlich.
Ein kleines, weiß getünchtes Haus mit hohen Schornsteinen tauchte auf. Während der Zeit des Celtic Tiger hatte man über die Eingangstür einen Wintergarten als Vorraum angebaut und das Dach erneuert. Eine niedrige Mauer umschloss die Vorderfront gegen die Straße hin, die sich direkt am Haus teilte. Wie ein Wellenbrecher stand das kleine Haus da.
Mike stellte seinen Wagen auf dem schmalen Vorplatz ab. „Da hinten ist der Garten. Der wird dir gefallen.“ Er wies mit der Hand auf eine Reihe niedriger Bäume, die wie Soldaten hinter dem Haus standen. „Bin gleich wieder da.“
Während er ins Haus ging, folgte sie dem verwachsenen Weg in den Garten. Was für eine Idee, ein Haus so zu bauen, eigentlich mitten auf der Straße. Sie schüttelte den Kopf und trat durch den Rundbogen in der dichten Baumreihe, die den ganzen Garten umgab.
Überrascht blieb sie stehen. ’Das ist Der geheime Garten Colins und seiner Spielgefährten’, dachte sie fasziniert. Kleine gekieste Wege führten an Blumenrabatten entlang, in denen der ganze Zauber des Frühlings blühte: blaue Veilchen und Tulpen — Tulpen in überschwänglicher Fülle, in allen Farben und Sorten. Die ersten Knospen der Bluebells zeigten sich im Moos zwischen den Bäumen. Eine niedrige, weiß lackierte Bank aus Holz hatte man unter dem Apfelbaum am Ufer des Teiches aufgestellt. Das Schilf war noch braun vom Winter, nur an manchen Stellen ahnte man das frische Grün der neuen Triebe. Der Apfelbaum aber stand in voller Blüte und spiegelte sich auf der glatten Wasseroberfläche. Und Rosen — Rosen überall. Nicht, dass sie um diese Jahreszeit geblüht hätten, aber wie musste das im Juni sein. Joy liebte Rosen. In Ihrer kleinen Wohnung über dem Buchladen war nur wenig Platz für Blumen.
Sie pflückte eine Daisy und nahm ihre Wanderung wieder auf. Die Farne begannen ihre Blätter zu entrollen. Kleine, zarte Geschöpfe, die sich zögerlich aus der schützenden Erde erhoben. Lange würde es nicht mehr dauern, und alles stand in voller Blüte. Die dicht gepflanzten Bäume hatten eine Art Walled Garden geschaffen — ein geschütztes Areal, das den ständig wehenden Wind abhielt.
Joy setzte sich auf die Bank unter dem Baum. Ein paar Blütenblätter fielen in den Teich und erzeugten kleine Wellen, die seine Oberfläche kräuselten. Sie schloss die Augen und genoss die warmen Strahlen der Frühlingssonne.
„Wie lange bist du schon hier? Ich habe dich nicht gehört.“
Mike stand vor ihr und sah sie an. „Die frische Luft tut dir gut.“ Er setzte sich neben sie. „Den Teich hat mein Grandpa für seine damalige Braut angelegt. Muss vor 70 Jahren gewesen sein, denke ich. Die beiden waren nicht reich, und weil er wusste, dass sie sich immer einen Teich für ihren Garten gewünscht hatte, begann er mit ein paar Freunden das Loch auszuheben. Folien wie heute gab es nicht, und so mauerte er das ganze Becken. Grandma hat ihm das nie vergessen, und auch als die Zeiten hart waren, hielt sie zu ihm.“ Er schwieg einen Moment. „Der Teich hat den beiden viel bedeutet. Ich bin nicht sehr romantisch, fürchte ich, aber für die beiden war er immer das Symbol ihrer Liebe. Grandma hat den Garten um ihn herum angelegt und versorgt, bis es nicht mehr ging … “ Seine Stimme klang leise, als ob er nur zu sich selbst sprechen würde.
Joy blieb ganz still. In sich fühlte sie eine innige Vertrautheit mit ihm. Sie hätte ihn gerne umarmt und getröstet.
Ein kühler Windstoß vertrieb die Wärme der Frühlingssonne, ließ einen Blütenregen auf die Erde niedergehen.
Mike richtete sich auf. Der Augenblick war vorüber. „Ich hab uns Tee gemacht, Joy. Hier wird es langsam zu kalt. Gehen wir hinein.“
Das Cottage war winzig. Eigentlich bestand es nur aus zwei Zimmern im Untergeschoss, von denen eines die Küche war, und zwei Schlafräumen mit Badezimmer im ersten Stock. Vor dem offenen Kamin standen zwei hölzerne Lehnstühle, die so aussahen, als sei gerade erst jemand davon aufgestanden. Die Einrichtung war einfach und zweckmäßig. An den Wänden hingen die Bilder der Familie: Eine bunte Mischung aus Babys, die zu Teenagern wurden, und schließlich als Erwachsene mit eigenen Kindern abgebildet waren.
Mike machte sich in der Küche zu schaffen und erschien kurz darauf wieder mit zwei Bechern Tee. Joy betrachtete die Bilder an den Wänden. Ein junger Mann in Uniform lächelte aus einem der Rahmen.
„Das bin ich“, er grinste verlegen „An meinem ersten Tag bei der Army.“
„Gut hast du ausgesehen. Wie alt warst du da?“
„17.“
Joy nahm ihre Tasse und setzte sich damit in einen der Lehnstühle. Sie sah zu, wie Mike das Feuer im Kamin entzündete. Die Wärme tat ihr gut. Sie ließ prüfend ihre Blicke durch das kleine Wohnzimmer gleiten. Hier würde sie sich wohlfühlen. Sie würde ihre Bücherregale an den Wänden aufstellen und grüne Vorhänge an den Fenstern aufhängen. Und draußen der Garten … der Rosenduft im Juni … „Und du willst das Haus verkaufen?“
„Ja, ich muss. Es hat keinen Sinn. Die O’Brians kommen manchmal her und helfen mit dem Garten. Die Kinder mögen es, aber auf Dauer … ich bin oft wochenlang nicht hier … “ Er verstummte.
Joy nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Eine wahnwitzige Idee schoss ihr durch den Kopf, nahm Gestalt an. „Mike. Du darfst nicht verkaufen!“ Er sah sie überrascht an. „Wie wäre es, wenn du es mir vermietest? Es sind nur 15 Minuten nach Clonakilty, und meine Wohnung über dem Laden ist sowieso zu klein.“ Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass er sie unter seinem Panzer wirklich wahrnahm. Seine graublauen Augen suchten die ihren. Sie spürte, wie er sie voller Zweifel musterte. „Außerdem liebe ich den Garten … “
Draußen begannen erste Regentropfen gegen die Fensterscheiben zu prasseln. Der Wind war stärker geworden und jagte die grauen Wolken über den Himmel. Das Feuer im Kamin knisterte leise. Er räusperte sich. „Joy, das machst du nicht nur mir zuliebe?“
Sie hielt seinem Blick stand. ‘Doch das tue ich’, dachte sie. ‘weil ich mich in dich verliebt habe und weil es mir das Herz bricht, wenn du leidest.’ Doch laut sagte sie: „Nein, aber für deine Grandma … “
„Dann ist es abgemacht. Willkommen im Sarue Rose Cottage.“