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Kapitel 2: Der Kuss

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„Er kommt nicht.“

Joy runzelte die Stirn und sortierte die letzten Bücher in die Regale ein. Sie begann an ihrem altmodischen Schreibtisch mit der Kassenabrechnung. Dieses Weihnachten hatte sie gut verdient. Es war die Jahre nie schlecht gelaufen mit ihrer kleinen Buchhandlung, aber dieses Mal übertraf das Ergebnis ihre Erwartungen. Eine rechte Freude wollte in ihr aber nicht aufkommen.

„Er kommt nicht. Offiziere ohne Familie haben es zu Weihnachten schwer, Urlaub zu bekommen. Das war schon immer so.“ Mrs. O’Brian war am Vormittag im Laden vorbeigekommen, um sie für den Weihnachtsabend einzuladen: „Du kommst zu uns Mädchen. Wer feiert das Fest denn allein?“ Viele Überredungskünste waren nicht nötig und schon war Mrs. O’Brian mit ihren Taschen und Einkaufstüten hinaus in die Straße verschwunden.

Joy machte sich wieder an die Abrechnung. Dass Mike am Abend nicht kam, enttäuschte sie. Oft hatten sie sich in letzter Zeit nicht gesehen. Irgendwie schien er immer in Eile zu sein, wie auf der Flucht. Aber wovor? Sie seufzte. Für seine Hilfe beim Hochwasser im Juni hatte er kurz seinen Posten verlassen, und dafür ein wildes Donnerwetter bei seinem kommandierenden Offizier erlebt. Jetzt war zwar alles überstanden, aber seiner Karriere hatte die Aktion sicher geschadet. Ob es daran lag? Sie bündelte die Rechnungen sorgfältig und legte sie in die Ladenkasse.

’Schluss für heute!’ Sie würde in ihrer kleinen Wohnung über dem Laden noch eine Tasse Tee trinken und dann mit dem Wagen zu Mrs. O’Brian fahren. Vielleicht konnte sie noch ein wenig behilflich sein.

Ein fröhliches Gesicht erschien plötzlich am Ladenfenster.

„Trish! Was machst du denn hier?“

Trish ein elfjähriges Mädchen mit wildem blondem Wuschelkopf, war die Enkelin von Mrs. O’Brian. „Grandma sagt, ich soll Sie abholen!“ Ihr Anorak reichte fast bis zum Kinn. Die Ohrenschützer ihrer Wollmütze verloren sich im Haarschopf. „Sie meinte, ein Spaziergang über die Wiesen würde ihnen gut tun.“ Das Mädchen strahlte sie an. „Und da hat sie mich ganz allein geschickt. Sie sagt, ich kann das!“

Joy musste lachen „Ja, ich denke du bist jetzt schon erwachsen genug dafür. Aber sind das nicht zwei Meilen?“

„Ja, so was, glaube ich. Nicht weit.“

Von ’weit‚ hatte Joy eine andere Vorstellung, aber sie machte gute Mine, holte ihren warmen Mantel, Mütze, Schal und schloss den Laden ab.

„Los geht’s.“

Die beiden folgten der schmalen Hauptstraße durch den Ort. Alle Läden hatten sich festlich herausgeputzt. Überall hingen Lichterketten und bunte Sterne in den Auslagen. Die Hanging Baskets des Sommers hatte man mit Efeu und Ilex gefüllt. Die Straßenlaternen waren schon hell. Ein Geruch nach Torffeuer lag in der Luft. Joy blieb einen Moment verträumt stehen. Sie liebte den kleinen Ort.

„Nicht trödeln, sonst wird es dunkel, bis wir bei Grandma sind“. Trish hatte recht.

„Ja wir sollten uns ein wenig beeilen.“

Schnell hatten sie die letzten Häuser hinter sich gelassen und kamen hinaus auf die freie Landstraße. Die Luft war frostig. Nahm einem fast den Atem. Joy zog ihren Schal über Mund und Nase.

„Frierst du?“ Trish warf ihr einen neugierigen Blick zu „Mir macht das nichts aus. Du musst öfter mal aus deinem Laden raus, dann wird dir nicht so schnell kalt. Grandma sagt das auch.“

Man redete über sie? „Ach, Trish … du weißt doch: Ich bin ein Bücherwurm und verdiene damit mein Geld.“

„Hm … trotzdem.“

Sie bogen in einen Feldweg ein. Der Boden war hart gefroren und das Eis knisterte leise unter ihren Schritten. Bäume und Hecken, die im Sommer mit ihrem überreichen Laub geglänzt hatten, ragten kahl und dunkel gegen den Himmel. Ein kalter Wind erhob sich.

„Da hinten. Siehst du das Licht? Da müssen wir hin.“ Beide schritten jetzt tüchtig aus. Die Bewegung tat Joy gut. Mrs. O’Brian hatte recht gehabt: So ein Spaziergang über die Winterfelder war herrlich.

Trish plauderte munter weiter über die Schule, ihre Katze, die im Herbst gleich zehn Junge bekommen hatte, über ihren Onkel, der jetzt in Neuseeland lebte, über ihre zwei Brüder, die immer Ärger machten, über Grandma und ihre Eltern, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Sie konnte sich kaum an sie erinnern, war erst drei Jahre alt gewesen, als es passierte. Und da war dann Onkel Mike.

Joys Herz begann unruhig zu pochen. Sie sah Trish sorglos vor sich herlaufen.

„Weiß du, er kommt dieses Jahr nicht zu Weihnachten, sagen sie. Kann nicht … wegen seiner Arbeit oder so. Das ist schade. Ich mag ihn. Er kümmert sich um uns. Wir sind seine Familie, sagt Grandma. Hat die richtige Frau noch nicht gefunden, aber wer will schon einen Soldaten, der nie zu Hause ist. Da würde die Frau aber sehr einsam sein.“

Joy fühlte einen seltsamen Stich.

Trish war stehen geblieben und sah Joy fragend an. „Du würdest das auch nicht wollen. Wer schon?!“ Dann sprang sie wieder davon.


„Und da ist das Tor zu unserem Garten. Wir sind da!“ Stolz klang aus ihrer Stimme. Es war geschafft.

Das Haus war hell erleuchtet und ein großer Weihnachtskranz aus Efeu, Ilex und glitzernden Kugeln hieß die Besucher willkommen.

Trish stieß die Tür auf. „Wir sind da-haaaaaa … “

Ein Duft nach Zimt und Äpfeln, der sich mit dem Geruch von gebratenem Truthahn mischte, empfing sie. Die kleine Eingangshalle war weihnachtlich geschmückt mit Misteln und Ilex. Dazwischen hingen die Basteleien der Kinder und bunte Glaskugeln. Es war herrlich warm nach dem langen Fußmarsch.

… und wenn einer wusste, wie man Weihnachten richtig feiert unter allen Lebenden, dann war es Mr. Scrooge … Die Zeile aus der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens kam ihr in den Sinn.

Mrs. O’Brian kam ihnen lächelnd entgegen. Sie trug eine blaue Schürze und hatte offensichtlich gerade mit Mehl hantiert. Die Hände waren bis zum Ellenbogen weiß. „Wie schön, dass sie da sind, Joy. Hat meine Kleine das nicht ganz hervorragend gemacht?!“

Trish strahlte.

„Ja sie ist fast schon erwachsen.“ Ein Schatten flog kurz über Mrs. O’Brians Gesicht. Nur eine Sekunde, dann war er wieder verschwunden. „So — also herein mit euch. Geht ins Wohnzimmer, da ist es am wärmsten. Holz ist im Korb. Bei mir dauert es noch ein Weilchen.“ Und sie verschwand in Richtung Küche.

Inzwischen waren zwei strohblonde Jungen erschienen. Sie mussten jünger sein als ihre Schwester. Beide musterten Joy neugierig. „Bist du die Frau mit den Büchern?“

Ja, das war sie. Ob die Jungs sehr viel Ähnlichkeit mit ihrer Mutter hatten?

„Und ich hab sie hergebracht. Ganz allein. Den ganzen weiten Weg vom Ort herauf.“ Trish sah sehr erwachsen aus.

Ihre Brüder grinsten. „Na, schwer ist das ja nicht. Das kann doch jedes Baby.“

Trish wurde wütend. „Ihr … Zombies!! … “

In diesem Moment kam Doc O’Brian ins Zimmer. „Na, ihr kleinen Streithähne.“ Er sah amüsiert auf die Kinderschar, „Das sind Cieran und Connor. Und sie müssen Joy sein? Freut mich sehr.“ Er streckte ihr die Hand entgegen.

Doc O’Brian war ein untersetzter Mann mit dunklen Haaren und freundlichem Gesicht. Lachfalten hatten sich im Laufe der Zeit um seine Augen gebildet. Joy mochte ihn auf Anhieb.

„Ich bin der hiesige Landarzt, wenn ich nicht gerade einen Streit zwischen unseren Wilden schlichte.“

Trish drehte sich hoheitsvoll um und lief davon in die Küche.

„Ja, es geht oft ziemlich laut her bei uns.“ Sie sah ihm an, dass er das genoss. Er zwinkerte den Jungs zu. Irgendwie schien ein geheimer Pakt zwischen ihnen zu bestehen. Die Jungen grinsten wieder und folgten ihrer Schwester in die Küche.

Mittlerweile war es draußen ganz dunkel geworden. Die Nacht kam früh in den Dezembertagen. Joy setzte sich an den offenen Kamin und Doc O’Brian versorgte sie mit heißem Tee. Draußen klopfte es wieder und wieder an die Haustür. Noch mehr Gäste kamen und ließen sich im Wohnzimmer nieder. Manche kannte Joy vom Sehen her, machen waren Kunden in ihrem Geschäft, manche hatten ihr in der schrecklichen Juninacht geholfen, die Bücher vor dem Wasser zu retten.

‘Ob er nicht doch noch kommt? … vielleicht? … ’ sie wünschte es sich mehr, als sie es sich eingestand.

Es dauerte aber nicht lange und sie fühlte sich heimisch unter all den fröhlich plaudernden Menschen. Die Kinder wechselten aufgeregt vom Wohnzimmer in die Küche und wieder zurück.

Endlich kam die Nachricht: „Der Truthahn ist fertig!“, und Trish kommandierte: „Alle ins Esszimmer!“ Ein munteres Gedränge entstand, bis alle an ihren Plätzen saßen.

Mrs. O’Brian erschien mit hochroten Wangen. Die blaue Schürze und das Mehl von den Händen waren verschwunden: „Ihr Lieben! Ihr wisst, ich bin kein Freund großer Worte … Ich freue mich, dass ihr da seid, und der Truthahn hält hoffentlich, was er versprochen hat. Greift tüchtig zu und lasst es euch schmecken!“

„Aber zuerst einen Toast, einen Toast auf die Köchin!“, rief Doc O’Brian. Die Gläser wurden erhoben und alle stießen an.

„Auf die Köchin!“

Mrs. O’Brian war gerührt. Dann begann das Festmahl. ‘Kann ein Märchen Wirklichkeit werden? … Alles ist genauso wie in der Weihnachtsgeschichte.’ Joy musste wieder an Charles Dickens denken. Der Truthahn, der Rosenkohl, die Kartoffeln, die Pasteten, der Nachtisch aus geflammtem Eis, die kandierten Früchte und Schokoladencookies …

Am Ende, als alle schon satt waren, kam als Krönung der Plumpudding — mit Brandy übergossen und mit Ilex verziert. Ein lautes „Ohhhh!“ war zu hören, als Doc O’Brian den Brandy entzündete. Und dann wurde der Pudding doch angeschnitten und war im Nu völlig verschwunden.

Nur zufriedene Gesichter. Sogar die Kinder waren versöhnt und gaben Ruhe. Munter plätscherten die Gespräche über den Tisch.

„Es ist wirklich schade, dass Mike nicht da ist.“ Zustimmendes Murmeln war zu hören.

Ja, sie hätte ihn gerne dabeigehabt, vermisste ihn. Joy wurde plötzlich bewusst, wie sehr. Er fehlte ihr.

Nach dem Essen gingen alle wieder zurück ins Wohnzimmer und gesellten sich um den Kamin. Die Kinder wurden müde und Mrs. O’Brian brachte sie zu Bett.

„Was für ein aufregender Tag. Da schlafen die bestimmt gut und das tägliche Scharmützel entfällt.“

Joy lachte und pflichtete Doc O’Brian bei.

Das Gemurmel der Stimmen, die Wärme und die Behaglichkeit am Kamin machten sie schläfrig. Sie kuschelte sich in ihren Lehnstuhl und überließ sich der Müdigkeit. Das Geplauder wurde leiser und leiser, verstummte ganz.

Plötzlich hörte sie, wie jemand mit lauter Fröhlichkeit begrüßt wurde. Sie fuhr auf. Und da stand er vor ihr und beugte sich zu ihr hinunter. Sie spürte seinen Kuss auf ihren Lippen. Ganz leicht, fast unmerklich.

„Fröhliche Weihnachten, Joy!“

Er war da.

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