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Kapitel 3: Carrigfadda

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„Das ist eine Art Wallfahrt, die wir jedes Jahr am 28. Dezember machen. Es würde mich freuen, wenn sie mitkämen.“ Mrs. O’Brian wog ein Buch prüfend in der Hand und stellte es wieder zurück. „Nichts für mich, fürchte ich … “, sie seufzte, „wenn es meinem Mann in die Hände fällt, wird er sagen, ich bin ein hoffnungsloser Fall. Und die Jungs erst.“

Joy lächelte hinter ihrem Ladentisch. Deshalb hatte sie die Liebesromane für ihre weiblichen Leser diskret hinter der Eingangstür platziert — als Schutz gegen neugierige Blicke.

Mrs. O’Brian warf Joy einen prüfenden Blick zu. „Sie sind schon ganz blass, Kindchen. Immer nur im Laden sitzen ist auf Dauer nicht gesund. Wir holen sie am Sonntag um zehn Uhr ab.“

Seit dem Weihnachtsfest bei den O’Brians wurde Joy als eine Art Familienzuwachs betrachtet. Trish kam ja schon seit dem Sommer manchmal nach der Schule bei ihr vorbei, um „Hallo“ zu sagen. Doc O’Brian nahm sie dann abends auf seinem Nachhauseweg mit.

Ja, das würde ein schöner Ausflug werden. Joy freute sich. Sie hatte nicht gefragt, ob Mike dabei wäre. Seit dem Kuss am Weihnachtsabend musste sie oft an ihn denken. War es wirklich ein Kuss gewesen, oder hatte sie es nur geträumt? Joy war sich nicht sicher.


Der Sonntagmorgen war strahlend schön, sonnendurchflutet, wolkenlos und eisig kalt. Der Wind der letzten Tage hatte sich gelegt. Joy warf aus ihrer kleinen Wohnung über ihrem Buchladen einen Blick auf die enge Hauptstraße. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Die Läden waren geschlossen. Es herrschte sonntägliche Ruhe.

Gegen zehn hielt der alte Landrover der O’Brians vor ihrer Ladentür. Joy kletterte mehr schlecht als recht auf den Rücksitz und setzte sich zwischen die Kinder. Es war sehr, sehr eng, aber irgendwie saßen schließlich alle auf ihren Plätzen.

„Normalerweise hätten Sie ja vorne sitzen sollen, aber ich bin nicht mehr so gelenkig, wie früher.“ Mrs. O’Brian zwinkerte ihr zu.

Doc O’Brian startete den Motor und lenkte den Wagen heraus aus der Stadt über die gut ausgebaute Überlandstraße Richtung Dunmanway. Nach ein paar Minuten bog er ab nach Sams Cross. Hier wurden die Straßen schmaler und enger, an den Wegesrändern standen die Hecken und Bäume dicht an dicht. Im Sommer war es hier wie unter einem grünen Dach aus Blättern und Ästen.

„Wir waren hier schon oft.“ Trishs Stimme war kaum zu hören bei dem Motorenlärm. „Wir machen das wegen Mom und Dad. Als Erinnerung.“

Joy sah besorgt nach Mrs. O’Brian, die vor ihr saß. Bei dem Lärm hatte sie sicher nichts gehört. „Ja das ist gut! Und heute nehmt ihr mich mit … “

Das Mädchen strahlte. „Ja, es wird dir gefallen. Der Berg ist eigentlich ein Hügel, gar nicht hoch, und man hat eine tolle Aussicht.“

Der Wagen rumpelte durch ein Schlagloch und beendete das Gespräch.


Nach einer halben Stunde waren sie am Ziel. Carrigfadda stand da in großen Lettern auf einem Ortsschild zu lesen. Eine Kirche und eine Handvoll Häuser, mehr war nicht zu sehen.

Der Landrover bog auf den Parkplatz vor der Kirche ein. Doc O’Brian stellte den Motor ab.

„Na? Alle taub nehme ich an … “, er grinste.

Die Kinder sprangen aus ihren Sitzen, froh der Enge zu entkommen.

„Jungs. Wir gehen zuerst in die Kirche. Weihwasser holen“, kommandierte er.

Schon waren die drei durch die schmale Tür ins Innere der kleinen Kirche verschwunden.

„Ja, diesmal sind wir schlauer.“ Mrs. O’Brian zog ihre warme Jacke an „Letztes Mal haben sie uns die Tür vor der Nase zugesperrt und wir konnten kein Weihwasser mitnehmen. Eine Schande war das. Kein Weihwasser für Neujahr!“

Im Nu waren sie wieder zurück und verstauten die kleinen Flaschen mit dem Weihwasser im Kofferraum.

„Alle fertig? Jacken, Caps? Den Rucksack nehme ich.“

Die Kinder sausten davon.

Doc O’Brian musterte Joy neugierig. „Sie sind das erste Mal hier, höre ich? Bin schon gespannt, wie es ihnen gefällt. Der Ausblick auf dem Gipfel ist sagenhaft. Man sieht über das ganze Land bis hinunter nach Kinsale und nach Rosscarbery. Hier ist das Herz von Cork.“ Er sah prüfend zum Himmel. Noch immer waren keine Wolken zu sehen und kein Lufthauch zu spüren. Ein perfekter Tag.

Sie brachen auf. Zuerst folgten sie der schmalen geteerten Straße, die sie zwischen Steinmauern, Brombeerhecken und Weiden zum Fuß des Carrigfadda führte. Joys Blick fiel auf ein blau getünchtes Haus, das sich seltsam verloren in der winterlich kargen Landschaft ausmachte. Der Rauch stieg senkrecht aus seinen zwei Schornsteinen in die eisige Luft.

Am Fuß des Berges endete die geteerte Straße in einem kleinen, steinigen Parkplatz, neben dem die Warnschilder der Forstverwaltung aufgestellt waren. Auch ein Wallfahrtsweg war nicht sicher vor einem Waldbrand im Sommer. Heute, in der winterlichen Kälte, nahmen sich die Schilder seltsam fremd aus.

„Wir sind die Ersten!“, rief Trish triumphierend.

„Die werden bestimmt wieder bis hier herauf fahren“, brummte Doc O’Brian. „Tatsächlich, da kommen sie.“

Das Geräusch mehrerer Fahrzeuge durchbrach die Stille. Man konnte jeder Wegbiegung, jeder Unebenheit der Straße, jedem Stein und jedem Schlagloch mit dem Geräusch der Motoren folgen.

„Nicht gut für die Wagen … und die Bandscheiben.“ Doc O’Brian schüttelte den Kopf.

Und da waren sie endlich. Joy kannte die meisten vom Weihnachtsabend und freute sich darauf, alle wiederzusehen. Ein letzter Wagen kam die Straße herauf. Ein paar Männer stiegen aus. Zuletzt der Fahrer. Joys Herz machte einen Sprung.

„Da sei ihr ja alle!“, rief Mrs. O’Brian sichtlich zufrieden und sah sich um. „Irgendwie werden es jedes Jahr mehr, scheint mir … “

„Das liegt an den Kindern.“ Mia lachte „Jedes Jahr werden es mehr! Und sie können es kaum erwarten auf den Berg zu kommen.“ Die Ersten, Trish voran, waren schon auf den Stufen nach oben unterwegs. „Frank, bitte sei so lieb und pass auf die Bande auf!“ Mia warf Joy einen bedeutungsvollen Blick zu und flüsterte: „Er wird alle Hände voll zu tun haben. Letztes Jahr haben sie mich fast zum Wahnsinn getrieben, diesmal ist Frank dran. Das ist wie einen Sack Flöhe hüten, nur schlimmer.“

Frank verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. In diesem Moment stieß Mike zu der kleinen Gruppe.

„Hallo, Joy.“ Er lächelte sie an.

Bevor Joy antworten konnte, nahm ihn Frank am Arm. „Dich schickt der Himmel, Mann. Ohne deine Hilfe bin ich erledigt!“

Und schon waren die beiden Männer unterwegs zu den Kindern, die mittlerweile hinter der ersten Kuppe verschwunden waren.

Endlich setzten sich auch die Erwachsenen in Bewegung. Joy hörte ihrem Geplauder zu und warf verstohlen einen Blick auf die Stufen, die man mit Holzleisten auf dem steinigen Untergrund befestigt hatte. Nach ihrer Schätzung waren es mehr als 200. Die eiskalte Luft biss ihr ins Gesicht und sie zog den Schal über die Nase. Die Stufen waren unregelmäßig, manche hoch, manche flach angelegt, aber es war nicht allzu beschwerlich ihnen zu folgen. Joy geriet dennoch schnell außer Atem. Einen Augenblick blieb sie stehen und betrachtete die Landschaft. Die sanften Hügel, einer nach dem anderen, erstreckten sich bis zum Horizont, wie die Wellen eines Meeres. Sogar jetzt im Dezember hatten sie ein frisches Grün und leuchteten hell in der Wintersonne.

‘Wie schön es hier ist.’ Joy dachte an Mike. Dann sah sie zu, dass sie die anderen einholte.

Noch mehr Stufen, dann ein schmaler Weg zwischen hohen Fichten und Tannen, die das Tageslicht in weichen Dämmer verwandelten. Es roch nach Harz. Ein kleiner Teich unter den Bäumen spiegelte für einen Augenblick das spärliche Sonnenlicht wieder. Unvermittelt endete der Wald und sie gingen das letzte Stück wieder unter freiem Himmel.

„Jetzt ist es nicht mehr weit.“ Mia hatte sich zu Joy gesellt. „Du machst Fußwanderungen wohl nicht oft? Ist es sehr schlimm?“

Joy war erschöpft und blieb wieder stehen, um Atem zu schöpfen. „Nein schlimm ist es nicht wirklich. Es ist so schön hier.“

In diesem Augenblick war ein fernes Jubeln zu hören.

„Aha“, sagte Mia geschäftsmäßig, „die Kinder sind schon auf dem Gipfel … armer Frank.“

Die beiden Frauen machten sich wieder auf den Weg.

„Dass er Mike überredet hat … normalerweise ist das nicht so einfach. Aber ich denke, der hatte Sorge wegen Trish und ihren Brüdern. Er liebt die Kinder.“ Mia schwieg einen Moment nachdenklich. „Ich glaube, er war in deren Mutter verliebt … armer Kerl.“ Echtes Bedauern klang aus ihrer Stimme. „Zuerst nimmt sie einen anderen und dann stirbt sie bei diesem schrecklichen Autounfall. Ich habe nie verstanden, dass sie Hank geheiratet hat. Immobilienmakler. Schrecklicher Mensch. Aber Geld wie Heu.“

Atemlos hörte Joy zu.

Mia blieb stehen. „Da ist er ja! Wie’s so ist, wenn man von jemandem spricht.“ Sie winkte.

Tatsächlich kam ihnen Mike entgegen. „Ich wollte nur sehen, wo ihr bleibt. Die anderen sind schon alle oben und warten. Der Priester wird gleich mit der Messe beginnen.“

„Lebt Frank noch?“ Mia verdrehte die Augen.

„Ich denke schon … “ Er lächelte. Es stand ihm gut.

„Na, ich sehe besser nach ihm. Ist ja nur noch ein Katzensprung.“ Sie sah Joy aufmunternd an und eilte davon.

„Willst du dich kurz ausruhen? Die können auch ohne uns anfangen. Für jemanden ohne Kondition ist der Carrigfadda schon beschwerlich.“

‘Ich habe mich in dich verliebt’, dachte Joy und zog ihren Schal höher.

Er machte keine Anstalten weiter zu gehen und betrachtete sie aufmerksam. „Ist dir kalt? Joy? Was ist mit dir?“

„Nichts. Es ist schön, dass du zurückgekommen bist.“

Er lächelte wieder.

‘Unwiderstehlich’, dachte Joy.

Das Gemurmel der Gebete war jetzt schon zu hören. Der Priester schien den Schlusssegen zu sprechen. Nebeneinander gingen sie weiter.

Das letzte Stück des Weges verlief zwischen schiefergrauen Felsen. Er war nicht breit genug, dass sie zusammengehen konnten. Er blieb stehen und streckte ihr seine Hand entgegen. Seine graublauen Augen hielten die ihren fest.

“Komm, Joy!“

Sie legte ihre Hand in seine. ‘Ja’, dachte sie, ‘ja, ich komme. `

Der gläserne Horizont

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