Читать книгу Der gläserne Horizont - Mary Anne Fields - Страница 4
Kapitel 1: Tanners Bookshop
Оглавление‘Dass alles so gekommen ist … ‘ Nora O’Brian sah nachdenklich aus dem Fenster und runzelte die Stirn. Es regnete schon seit Tagen in monotoner Regelmäßigkeit, die Wolken hingen grau über dem Land. ’Wie sehr kann man ein Wesen lieben … ob das Glück ist?’ Sie erinnerte sich an die verheerende Hochwassernacht von vor zwei Jahren …
„Es regnet noch immer.“ Mike O’Hanlan, ein dunkelhaariger, junger Mann in Uniform, sah aus dem Fenster der kleinen Buchhandlung an der Pearsestreet. Sein schwerer Regenmantel mit dem Funkgerät hing lässig über seinen Schultern.
„Denkst du, diesmal wird das Wasser bis hierher kommen?“ Joy klang ängstlich. Sie nahm sich sehr zierlich und zerbrechlich neben dem groß gewachsenen Offizier aus.
Seit einer Woche regnete es unentwegt. Eine graue Wolkenwand nach der anderen hatte sich vom Atlantik her über das Land geschoben. Die Felder und Weiden draußen vor der Stadt waren schon längst überschwemmt und all die kleinen Rinnsale hatten sich in reißende Bäche verwandelt. Erst gestern war unten bei Castlefreke eine der Flussbrücken eingestürzt und hatte einen Wagen mit sich gerissen. Zum Glück kam niemand ums Leben.
„Kann sein.“ Er sah angespannt aus. „Die Wiesen über der Stadt können kein Wasser mehr fassen, und wenn die Tide heute Nacht steigt und den Fluss zurückdrängt … aber das muss ja nicht sein.“ Er schwieg und spähte wieder hinaus auf die Hauptstraße. „Mach dir keine Sorgen, Joy.“ Seine graublauen Augen musterten sie einen Moment voller liebevoller Anteilnahme. Er spielte für eine Sekunde mit dem Gedanken, seinen Arm um sie zu legen. „Wir sind ja auch noch da.“ Seine Stimme klang sanft.
Joy lächelte ihn tapfer an. „Ja … ja das seid ihr“, flüsterte sie.
Aber Mike hörte ihr schon nicht mehr zu. Draußen fuhren schwere Lastwagen mit blinkenden Lichtern durch die Straße.
„Da kommen die Lkws mit den versprochenen Sandsäcken. Ich muss los.“ Ohne sich weiter um Joy zu kümmern, stürmte er davon.
Sie blieb allein zurück und sah sich in ihrem Laden um. ‘Ich bin hilflos … völlig hilflos … ‘
Sie hatte plötzlich Angst. Die Bücher! Hunderte von Büchern schimmerten in den Regalen, sahen fremd und unwirklich aus in dem matten Licht. Stets hatte Joy darauf geachtet, dass es gute Bücher waren, Bücher, die sie schätzte. Romane, Bildbände, Kindergeschichten. Alle waren sie da, sorgfältig sortiert nach Themen und Autoren. Die Kinderbücher in den unteren Regalen, damit die kleinen Leser auch das finden konnten, wonach sie suchten. Die Liebesromane für die romantischen Seelen rechts hinter der Eingangstür, die ein wenig Schutz vor neugierigen Augen bot. Do-it-yourself-Bücher und Sportgeschichten für die männliche Klientel. Tanners Bookshop — Joy liebte ihren Laden. Den dunkelgrünen Teppich mit dem orangefarbenen Blumenmuster, der dem Raum die Atmosphäre eines Wohnzimmers verlieh, die hohen Regale aus Nussbaumholz, die bis zur Decke reichten, über ihnen die kleinen Lampen aus goldglänzendem Messing, das große Schaufenster mit seinen schmalen Sprossen aus weiß lackiertem Holz, das sich über die ganze Seitenlänge des Ladens zog und jede Woche neu dekoriert wurde … An manchen Abenden hatte sie Dichterlesungen veranstaltet, die immer gut besucht waren. Es gab Tee, Kuchen und dazu Passagen aus den Büchern junger Autoren, die erst noch den Weg zu den Verlagen finden mussten. Mia war regelmäßig mit einer ihrer Kindergruppen zur Märchenstunde in die Buchhandlung gekommen, Mrs. O’Brian kam einmal die Woche mit ihrer Hobbyautorinnengruppe.
‘Wenn jetzt das Wasser kommt … ‘ Joy fühlte Tränen in sich aufsteigen.
Draußen wurden laute Kommandos gerufen und es herrschte hektisches Treiben. Soldaten begannen, die Ladenzeile entlang der Hauptstraße mit Sandsäcken abzusichern. Einen Moment dachte sie an Mike, der irgendwo da draußen mit seiner Einheit gegen die Fluten kämpfte.
Langsam wurde es dunkel. Den ganzen Tag über war es noch nicht richtig hell gewesen. Der Regen strömte ohne Unterlass. Plötzlich begann irgendwo eine Sirene zu heulen und wie auf ein Zeichen begann der Sturm wie eine wilde Furie über die nasse Stadt herzufallen. Schwere Böen, die weit draußen aus dem tobenden Meer aufgestiegen waren, rissen an den Ladenschildern, fegten die Hanging Baskets zu Boden und trieben die Regentropfen in ungestümem Chaos vor sich her.
Noch mehr Regen. Es war, als ob zwischen den Tropfen keine Luft mehr war, nur noch Wasser, Wasser. Wieder heulte eine Sirene und Joy wusste, dass die Tide begann, den Fluss zurück in die Stadt zu drängen. Jetzt war alles verloren. Und dann, ohne Vorwarnung, begann die Straße seltsam zu schimmern, schien sich zu bewegen. Das Wasser war da. Joy stieß einen Schrei aus.
Voller Panik begann sie die Bücher aus den unteren Regalen zu nehmen und auf dem Ausstellungstisch in der Mitte des Ladens zu stapeln. Die Bücher!
Von draußen war ein seltsames, unheimlich anschwellendes Rauschen zu hören, das in der ganzen Stadt widerhallte. Joy hob lauschend den Kopf. Das Wasser strömte unaufhörlich, drängte sich mit unbändiger Kraft in die schmale Hauptstraße. Der Sturm peitschte gegen ihr Auslagenfenster, bis das Glas zu klirren begann.
Da! Joys Augen weiteten sich entsetzt. Die Sandsäcke hielten dem Druck nicht mehr stand und das Wasser sickerte durch den Spalt unter der Eingangstür in die Buchhandlung. Langsam färbte sich das frische Grün des Teppichs schwarz. Sie fühlte, wie ihre Schuhe feucht wurden. Hilflos sah sie zu, wie das Wasser immer höher stieg. Tränen liefen über ihr Gesicht.
Wie aus einer Betäubung erwachend hörte sie, dass jemand laut an ihre Hintertür klopfte. Die Schläge gegen das Holz wurden zunehmend heftiger.
„Joy!“, rief eine tiefe Stimme, „Joy, mach auf!“
Sie watete durch den Laden und stieg die Treppen hinauf zum Lager. Dann öffnete sie die Tür. Draußen war es pechschwarz. Nur undeutlich konnte sie ein paar Gestalten in Regenmänteln erkennen. Ein bekanntes Gesicht erschien im Lichtkegel des Eingangs.
„Mike!“ sie weinte laut „Oh Mike, meine Bücher!“
„Deshalb bin ich hier.“ Er schob sie sanft zu Seite „Und nicht allein. Mach dir keine Sorgen mehr.“
Und da waren sie: die O’Brians; Mia mit ihrem Mann Frank und ein paar ihrer Stammkunden.
„Wir machen das schon Joy.“ Es war, als ob sein Blick sie für einen Moment umarmte. „Los, bildet eine Kette und dann her mit den Büchern, hier herauf. Die aus den unteren Regalen zuerst!“
Mikes Kommandos hallten durch den Laden. In Windeseile verteilten sich die Helfer und die Bücher wanderten von Hand zu Hand ins sichere Lager.
Mrs. O’Brian sah Joy aufmunternd an. „Wir lassen dich doch nicht hängen, Mädchen … “
Wie gut das tat. Am liebsten wäre Joy durch den Laden getanzt: ‘Hilfe ist da, es ist wie ein Wunder.’
Jeder gab sein Bestes, bückte sich, hob auf, stapelte, gab weiter … Nach einer Stunde waren die Bücher im sicheren Lager verstaut. Alles gerettet, nur die Sonderausgabe von Alice im Wunderland schwamm auf dem Wasser.
Draußen fauchte der Wind in der engen Straße, die Sirenen heulten durch die Nacht und der Regen strömte unaufhörlich weiter. Der Geruch nach Salzwasser und Seetang lag in der Luft. Sie standen jetzt alle knietief im Wasser. Die Helfer waren erschöpft, aber glücklich. Nicht auszudenken, wie viele Bücher die Nässe zerstört hätte!
„Wo ist Mike?“ Joy sah sich suchend um, konnte ihn aber nirgends entdecken.
„Er ist längst wieder bei seinen Leuten. Der hat noch eine lange Nacht vor sich.“ Mrs. O’Brian musterte Joy lächelnd. War das Mädchen enttäuscht? Mike hatte die Rettungsaktion möglich gemacht, würde dafür aber mit seinem kommandierenden Offizier Probleme bekommen. ‘Manchmal sind junge Leute schwer von Begriff’, dachte sie.
Dann brach es aus Joy heraus, die ganze Anspannung fiel von ihr ab: „Oh danke, danke, danke“ Sie konnte kaum sprechen „Was hätte ich nur ohne euch gemacht?“
„Lass gut sein, Mädchen. Wir überlassen dem verdammten Wasser doch nicht unseren Laden! Und jetzt kommt.“ Mrs. O’Brians Stimme klang resolut, dann stieg sie seelenruhig die Treppe zu Joys Wohnung über dem Laden hinauf.
Die anderen folgten ihr lebhaft plaudernd, zufrieden, wie nach einer gewonnenen Schlacht.
„Die Tide fällt in drei Stunden, bis dahin können wir hier nicht weg. Jemand Tee?“
„Und Whiskey!“, ließ sich Frank vernehmen.
Es wurde tatsächlich noch eine lange Nacht.