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Kapitel 4: Neujahr

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„Da! Voll dröhnt Big Ben. Erst eine Warnung, melodisch, dann die Stunde, unwiderruflich. Die bleiernen Kreise lösen sich auf in der Luft.“ Joy klappte das Buch zu. Sie liebte Mrs. Dalloway, aber dieses Exemplar hatte unter dem Hochwasser im Juni gelitten. Bei der Inventur musterte sie endlich die letzten Bücher mit welligem Einband oder Wasserflecken aus. Mehr als eine kleine Schachtel war es zum Glück nicht geworden. Vielleicht konnte sie noch jemand gebrauchen?

Nur noch ein paar Stunden und das alte Jahr war zu Ende. Joy sah sich zufrieden im Buchladen um. Die Schäden des Hochwassers waren schon längst beseitigt. Ein grüner Teppich mit Efeuranken ersetzte den alten, die Regale waren neu gestrichen.

Draußen summte der Verkehr vorbei. Kinder warfen die ersten Knallerbsen und liefen dann schreiend davon. Ein Kunststück, zwischen all den Wagen und Fußgängern. Den ganzen Tag über trug ein kalter Wind Schneeflocken bis in die Stadt. Kleine Eiszapfen hatten sich über ihrem Schaufenster gebildet und zerplatzten in Tausend Stücke, wenn sie zu Boden fielen.

Kundschaft war heute keine mehr zu erwarten und Joy schloss den Laden ab. Der Schlüssel knirschte leise, als sie ihn im Schloss umdrehte. ‘Das letzte Mal in diesem Jahr. Und was für ein Jahr,’ sie runzelte die Stirn.

Zurück in ihrer kleinen Wohnung über dem Laden betrachtete sie die auf dem Bett ausgebreiteten Kleidungsstücke für den heutigen Abend. Ein dunkelblau schimmerndes Etuikleid aus Wildseide, die passende schwarzer Jacke und dunkelgraue Pumps. Fremd nahmen sie sich aus unter all ihren anderen Sachen. ‘Große Garderobe.’ Mrs. O’Brian legte viel Wert darauf, das neue Jahr gebührend zu empfangen. Wenn nicht unbedingt in Smoking und Robe, so doch in Abendkleid und Anzug.

Vor zwei Tagen war Mia bei ihr in der Buchhandlung vorbeigekommen. „Du hat kein Abendkleid?“ Mia war fassungslos gewesen. „Das kann doch nicht sein. Das ist lächerlich!“

„Ich habe bis jetzt keines gebraucht.“ Joy hatte sich nicht lächerlich gefühlt, aber kleinlaut nachgegeben.

„Morgen hole ich dich ab. Keine Widerrede! Wir fahren nach Cork und suchen was Schickes für dich.“

Wie versprochen war Mia am nächsten Tag um halb neun vor dem Laden und zwei Stunden später hatten die beiden Frauen in einer der Malls gestanden. Endlose Reihen bunter Kleider aus Seide, Wildseide und Viskose waren zu Joy in die Umkleidekabine gewandert, dazu Jacken, Schals, Accessoires aller Art. Ihr Kopf schwirrte. „Das ist perfekt!“ Endlich! Mia und die Verkäuferin hatten Joy mit Genugtuung betrachtet. „Ja, das ist es. Dazu noch Schuhe.“ Ein weiterer Rundgang durch die Malls folgte und dann, als die Nachmittagssonne nur noch als milchiger Schimmer zu sehen war, ging es zurück nach Clonakilty. Joy hatte die Fahrt durch die sanften Hügel, die im letzten Licht zart schimmerten, genossen. Nein, Sie vermisste den Lärm und die Unruhe der Stadt nicht.

Sie nahm das dunkelblau glänzende Kleid, das nun ausgebreitet auf ihrem Bett lag, und probierte es an. Zusammen mit der Jacke und den grauen Pumps wirkte es sehr edel. Joy warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Sie öffnete das Haarband und ließ ihre Locken frei über die Schulter fallen. Etwas fehlte. Sie kramte in einer Schublade unter dem Spiegel. Irgendwo musste noch die Perlenkette sein, die ihr Ma zum 18. Geburtstag geschenkt hatte. Tatsächlich. Da war sie. Nach all den Jahren noch immer sicher verpackt zwischen Seidenpapier. Joy legte sie um. Die Perlen schimmerten hell auf dem dunklen Kleid.

Es wurde Zeit. Sie packte die Pumps in eine Tasche, schlüpfte in ihre Winterschuhe, den warmen Mantel und machte sich mit dem Wagen auf den Weg zu den O’Brians.

Auf der Fahrt begann es leicht zu schneien und der Wind wurde stürmisch. Das Haus leuchtete ihr gastlich durch die Dunkelheit entgegen. Den Weihnachtskranz an der Eingangstür hatten die Kinder mit kleinen selbst gebastelten Figuren aus Holz verziert. Elfen und Leprechauns tummelten sich, statt der glänzenden Glaskugeln von Weihnachten, munter zwischen Efeu und Ilex.

Trish öffnete die Tür. Wohlige Wärme empfing sie. „Grandma — Joy ist da!“ Das Mädchen im weißen Seidenkleidchen sah merkwürdig fremd aus.

„Hübsch bist du heute Abend, Trish.“ Joy lächelte. „Wie eine Prinzessin.“

Trish strahlte übers ganze Gesicht. „Das Kleid hab ich von Grandma. Kommen sie, ich nehme den Mantel und bringe sie zu den anderen.“

Joy zog den Mantel aus.

„Ohhhh!“ Trish sah sie bewundernd an. „Coooool. Die werden Augen machen.“ Sie stieß die Tür zum Wohnzimmer auf.

Drinnen waren die Gäste schon fast vollzählig versammelt. Einige Männer in Uniform oder dunklen Anzügen, Damen in Abendkleidern, dazwischen Mrs. O’Brian, deren Augen stets auf der Suche waren nach fehlenden Gläsern oder Tellern und Besteck, das nicht an seinem Ort war. Sie war nervös, wie immer auf der Neujahrsparty.

„Joy, da sind sie ja! Was für eine Freude.“ Sie umarmte Joy.

Die beiden Jungs waren mit ihrem Grandpa draußen, um die Raketen für das Neujahrsfeuerwerk zu inspizieren. Es herrschte die ausgelassene Stimmung, die es nur am Silvesterabend gibt. Gut gelaunte Spannung mischte sich mit den Erinnerungen an das alte Jahr und den Erwartungen an das neue.

„Mia hatte recht. Du siehst fabelhaft aus, Joy.“

Frank warf ihr einen anerkennenden Blick zu. Er war nicht der Einzige.

Mia flüsterte ihr zu: „Siehst du? Was hab ich dir gesagt? Das da drüben — ja, der, der uns zuprostet — ist übrigens Sean. Soll ich euch bekannt machen?“

Bevor Joy Nein sagen konnte, hatte ihn Mia schon hergewunken. Sean war ein netter junger Mann mit frischem Gesicht und fröhlichem Lachen. Sie hörte ihm eine Weile zu, aber Small Talk war nicht ihre Stärke, und so floh sie bald nach nebenan. Sie setzte sich in einen der hohen Lehnstühle vor dem Kaminfeuer und dachte an Mike. Sie hatte ihn den ganzen Abend noch nicht gesehen.

„Joy? Ach da sind sie …“ Sean war ihr gefolgt. „Ist es ihnen zu stickig drüben? Kann ich verstehen … noch etwas zu trinken?“ Und wieder plätscherte das Gespräch vor sich hin, nahm epische Breite an.

`Hilfe’, dachte Joy in einer Art komischer Verzweiflung.

„Sean?“ In diesem Moment unterbrach die Stimme Mikes das Gespräch. „Die Kinder wollen das Feuerwerk abschießen. Hilf ihnen bitte mit den Vorbereitungen.“

„Ja, Sir.“ Sean stand auf — nicht ohne Joy einen bedauernden Blick zuzuwerfen — und ging hinaus.

„Du warst meine Rettung, Mike.“ Sie atmete auf.

„So schlimm?“ Er lächelte sie an.

‘Wie gut er aussieht‘, dachte sie. ‘Die Uniform steht ihm.’

„Ich war mit den Kindern draußen. Sie sind kaum noch zu bändigen wegen des Feuerwerks. Sie sollten wenigstens einigermaßen gesund ins neue Jahr kommen.“

„Ja, das sollten sie wirklich!“ Joy stand aus ihrem Lehnstuhl auf.

„Bande … “ Dann musterte er sie kurz und lächelte „Das Kleid steht dir gut.“

Joy fühlte sich geschmeichelt. Hatte Mia also doch recht behalten. Sie musste an Mias Geschichte auf dem Weg zum Carrigfadda denken.

Die zwei Gläser Wein hatten sie mutig gemacht und sie sah Mike direkt an. „Mia sagt, du warst in die Mutter der Kinder verliebt …?“ Noch während sie sprach wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

„Mia?“ Alle Fröhlichkeit war aus seinem Gesicht gewichen. „Hör zu Joy. Nicht alles in der Welt eignet sich für eine romantische Novelle. Nur um allen Mias dieser Welt vorzubeugen: Ich war nie in Trishs Mutter verliebt. Wir waren zusammen auf dem College, aber das war’s.“ Er sah sie ernst, fast feindselig an. „Die Kinder haben das gleiche Schicksal, wie ich es hatte. Nur, dass sie jünger waren, als sie ihre Eltern verloren … das ist alles.“ Er verstummte.

Joy fühlte sich elend. Undeutlich war das Gemurmel der Unterhaltungen aus dem Wohnzimmer zu hören. Das Holz im Kamin knisterte leise. Ein Funkenregen stob aus einem der zerbrechenden Scheite.

`Was für eine dumme, dumme Gans ich bin … warum habe ich ihn das gefragt …?’

Unvermittelt begann er wieder zu sprechen: „Vor 13 Jahren wurde meine Familie bei dem Anschlag in Omagh ausgelöscht. Meine Eltern, meine Schwester … “

Lähmende Stille breitet sich aus. Das Gelächter aus dem Nachbarraum wirkte seltsam schrill. Sie spürte, wie sich seine verzweifelte Traurigkeit tief in ihr eigenes Wesen senkte, wie Tränen in ihr aufstiegen.

„Sandy war zwei Jahre jünger als ich. Wir waren gute Kumpels. Du siehst ihr ähnlich, Joy.“ Seine Augen waren in der Dunkelheit nicht zu erkennen.

„Oh, Mike, das habe ich nicht gewusst … “ Sie zitterte am ganzen Leib.

Er legte besänftigend den Arm um ihre Schultern und zog Joy einen langen Augenblick an sich. „Schon gut, Joy, komm her. Ich wollte dich nicht erschrecken … “ Seine Stimme war sanft.

In diesem Moment platzte Trish ins Zimmer: „Los, los, wo bleibt ihr denn? Es ist gleich soweit!“

Joy wischte sich die Tränen vom Gesicht und beide folgten ihr in den Wintergarten, um das Feuerwerk zu sehen.

Gläser mit Sekt wurden verteilt, die ersten Raketen stiegen in den Himmel und explodierten in Tausend funkelnde Sterne, die langsam zur Erde sanken. Sean, Doc O’Brian und die Kinder hatte ganze Arbeit geleistet. Eine Feuerfontäne folgte der anderen, bengalisches Feuer, funkelnde Kreisel, die zischend über den Boden sausten. Unter lautem „Ohh“ und „Ahh“ begann plötzlich die Jahreszahl im Garten zu leuchten.

Joy und Mike standen noch immer eng beisammen.

Über die endlosen Hügel begannen aus der Ferne Glocken zu läuten.

„Happy New Year!“

Die Gläser klangen und gute Wünsche erfüllten die Luft. Eine letzte Rakete erhellte den Himmel.

„Auf das beste aller Jahre!“ Mike schüttete den Inhalt seines Glases in weitem Bogen hinaus auf die Wiese. „Das Vergangene darf irgendwann ruhen.“ Er klang entschlossen und sah Joy an.

„Ja“, sagte sie und lehnte sich an ihn.

Der gläserne Horizont

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