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Kapitel 7
ОглавлениеNachdem wir uns überzeugt hatten, dass unser Freund in seinem neuen Amt richtig eingesetzt war, richteten wir unseren Blick gen Windsor. Die Nähe dieses Ortes zu London war so groß, dass sich keine schmerzhafte Trennung ergab, als wir Raymond und Perdita verließen. Wir verabschiedeten uns von ihnen im Protektoratspalast. Es war schön zu sehen, wie meine Schwester sozusagen in den Geist des Bühnenstücks eintrat und sich bemühte, ihre Rolle mit geziemender Würde zu erfüllen. Ihr innerer Stolz und ihr demütiges Betragen stritten nun mehr denn je miteinander. Ihre Schüchternheit war nicht künstlich, sondern entsprang der Angst, nicht richtig gewürdigt zu werden, jenem gewissen Eindruck der Vernachlässigung durch die Gesellschaft, der auch Raymond auszeichnete. Andererseits jedoch dachte Perdita mehr an andere als er; und ein Teil ihrer Schüchternheit entstand aus dem Wunsch, denen um sie herum ein Gefühl der Minderwertigkeit zu nehmen; eine Empfindung, die ihr selbst nie in den Sinn kam. Angesichts der Umstände ihrer Geburt und Erziehung wäre Idris besser für die zeremoniellen Handlungen geeignet gewesen; aber die Leichtigkeit, mit denen sie solche ihr gewohnten Handlungen begleitete, machten sie ihr langweilig; während Perdita trotz aller Fallstricke offensichtlich ihre Stellung genoss. Sie war zu erfüllt von neuen Gedanken, um viel Kummer zu empfinden, als wir fortgingen; sie nahm einen herzlichen Abschied von uns und versprach, uns bald zu besuchen, aber sie bedauerte nicht die Umstände, die unsere Trennung verursacht hatten. Die Begeisterung Raymonds war unbegrenzt. Er wusste nicht, was er mit seiner neu errungenen Macht anfangen sollte; sein Kopf war voller Pläne; er hatte sich noch für keine entschieden – aber er versprach sich selbst, seinen Freunden und der Welt, dass die Ära seiner Schutzherrschaft durch einen Akt der überragenden Herrlichkeit eingeläutet werden sollte.
So sprachen wir von ihnen und gaben uns moralischen Betrachtungen hin, als wir in verminderter Zahl nach Schloss Windsor zurückkehrten. Wir waren sehr erleichtert über unsere Flucht vor der unruhigen Welt der Politik und genossen unsere Einsamkeit mit gesteigerter Lebensfreude. Wir hatten keinen Mangel an Beschäftigung; doch mein Tatendrang galt jetzt ausschließlich dem Feld der geistigen Kultivierung; und ich stellte fest, dass anspruchsvolle Studien eine ausgezeichnete Medizin waren, um ein fiebriges Gemüt zu beruhigen, das durch Trägheit zweifellos gelitten hätte. Perdita hatte uns erlaubt, Clara mit uns zurück nach Windsor zu nehmen; und sie und meine beiden lieben Kleinen waren immerwährende Quellen der Beschäftigung und Freude.
Der einzige Umstand, der unseren Frieden störte, war die Gesundheit Adrians. Sie verschlechterte sich zunehmend, ohne irgendein Symptom, das uns dazu bringen konnte, seine Krankheit zu bestimmen, außer, dass seine glänzenden Augen, sein bleiches Aussehen und seine von hektischer Röte überzogenen Wangen uns die Schwindsucht fürchten ließen; aber er verspürte weder Schmerzen noch Furcht. Er widmete sich mit Eifer der Lektüre von Büchern und ruhte sich vom Studium in der Gesellschaft aus, die er am meisten liebte, der seiner Schwester und mir. Zuweilen fuhr er nach London, um Raymond zu besuchen und den Fortgang der Ereignisse zu beobachten. Clara begleitete ihn oft auf diesen Reisen; zum Teil, damit sie ihre Eltern sehen könnte, zum Teil, weil Adrian sich über das Plappern und das intelligente Aussehen dieses reizenden Kindes freute.
Inzwischen ging es in London gut voran. Die Neuwahlen waren beendet; das Parlament tagte, und Raymond war in tausend wohltätige Programme eingebunden. Kanäle, Aquädukte, Brücken, stattliche Gebäude und verschiedene Bauwerke für die öffentliche Versorgung wurden im Zuge dessen entworfen; er war ständig von Projektleitern und Projekten umgeben, die England zu einem Schauplatz der Fruchtbarkeit und Großartigkeit machen sollten; der Zustand der Armut sollte abgeschafft werden; Menschen sollten von Ort zu Ort befördert werden, fast mit derselben Leichtigkeit wie die Prinzen Houssain, Ali und Achmed in Tausendundeiner Nacht. Der physische Zustand des Menschen würde bald nicht mehr hinter der Schönheit der Engel zurückstehen; Krankheit sollte verbannt; die Arbeit ihrer schwersten Last entledigt werden. Das erschien auch gar nicht überspannt. Die Lebenskünste und die Entdeckungen der Wissenschaft hatten in einem Verhältnis zugenommen, das alle Hochrechnungen übertraf; inzwischen entstand Nahrung sozusagen spontan – es existierten Maschinen, die jeden Bedarf der Bevölkerung mit Leichtigkeit versorgten. Das Böse hatte freilich überlebt; und die Menschen waren nicht glücklich, nicht weil sie es nicht konnten, sondern weil sie sich nicht dazu aufraffen wollten, selbstauferlegte Hindernisse zu überwinden. Raymond sollte sie mit seinem wohltuenden Willen dazu ermuntern, damit der Mechanismus der Gesellschaft, einmal nach tadellosen Regeln angelegt, niemals wieder in Unordnung geraten würde. Mit diesen Hoffnungen gab er seinen langgehegten Ehrgeiz auf, in den Annalen der Nationen als ruhmreicher Krieger eingetragen zu werden; er legte sein Schwert beiseite, und fortan wurden Frieden und dessen ewige Wohltaten seine Ziele – der Titel, den er begehrte, war der des Wohltäters seines Landes.
Unter anderen Kunstwerken, mit denen er beschäftigt war, hatte er den Bau einer Nationalgalerie für Statuen und Bilder geplant. Er besaß selbst viele davon, die er der Republik zu präsentieren beabsichtigte; und da das Gebäude die große Zierde seines Protektorats sein sollte, war er sehr anspruchsvoll in seiner Wahl des Plans, auf dessen Grundlage es gebaut werden sollte. Hunderte Entwürfe wurden zu ihm gebracht und zurückgewiesen. Er schickte sogar nach Italien und Griechenland um Zeichnungen; aber da der Entwurf Originalität sowie vollkommene Schönheit aufweisen sollte, waren seine Bemühungen für einige Zeit nicht von Erfolg gekrönt. Schließlich erreichte ihn eine Zeichnung, mit einer Adresse, wohin Mitteilungen gesendet werden könnten, und ohne Angabe des Künstlernamens. Die Bauweise war neu und elegant, doch der Entwurf war fehlerhaft; so fehlerhaft, dass er, wenngleich gekonnt und mit geschmackvollem Blick gezeichnet, die Arbeit von jemandem zu sein schien, der kein Architekt war. Raymond betrachtete die Zeichnung mit Entzücken; je länger er schaute, desto mehr gefiel sie ihm; und doch vervielfachten sich die Fehler bei genauerer Betrachtung. Er schrieb an die angegebene Adresse und erbat sich, den Zeichner zu sehen, damit während einer Beratung vorgeschlagene Änderungen am Entwurf vorgenommen werden könnten.
Ein Grieche erschien. Ein Mann mittleren Alters, mit gebildeten Manieren, aber von so gewöhnlichem Aussehen, dass Raymond kaum glauben konnte, dass er der Zeichner war. Er gab zu, dass er kein Architekt war; aber ihm sei die Idee zu dem Gebäude plötzlich gekommen, obwohl er es ohne die geringste Hoffnung auf seine Annahme gesandt hatte. Er war ein Mann von wenigen Worten. Raymond befragte ihn; doch er nahm nach den zurückhaltenden Antworten des Mannes bald von weiteren Fragen Abstand und kam auf die Zeichnung zu sprechen. Er wies auf die Fehler und die Änderungen hin, die er wünschte; er bot dem Griechen einen Bleistift an, damit er die Skizze auf der Stelle korrigieren könne; dies wurde von seinem Besucher abgelehnt, der sagte, dass er alles genau verstanden habe und zu Hause daran arbeiten würde. Schließlich gestattete Raymond ihm zu gehen.
Am nächsten Tag kam er zurück. Der Entwurf war neu gezeichnet worden; aber viele Fehler blieben noch bestehen, und einige der gegebenen Anweisungen waren missverstanden worden. »Komm«, sagte Raymond, »ich habe gestern dir nachgegeben, nun erfülle meine Bitte – nimm den Stift.«
Der Grieche nahm ihn, doch er handhabte ihn nicht künstlerisch; endlich sagte er: »Ich muss Ihnen gestehen, mein Herr, dass ich diese Zeichnung nicht verfertigt habe. Es ist nicht möglich, dass Sie den wahren Zeichner sehen, Ihre Anweisungen müssen durch mich überbracht werden. Darum bitte ich Sie darum, Geduld mit meiner Unkenntnis zu haben, und mir Ihre Wünsche zu erklären; ich bin gewiss, dass Sie mit der Zeit zufrieden sein werden.«
Raymond fragte vergeblich; der geheimnisvolle Grieche wollte nicht mehr sagen. Würde ein Architekt den Künstler sehen dürfen? Auch dies wurde abgelehnt. Raymond wiederholte seine Anweisungen, und der Besucher zog sich zurück. Unser Freund beschloss jedoch, sich seinen Wunsch nicht vereiteln zu lassen. Er vermutete, dass ungewohnte Armut die Ursache der Geheimnistuerei war, und dass der Künstler nicht im ärmlichen Gewand und in einer mangelhaften Unterkunft gesehen werden wollte. Raymond war durch diese Überlegung umso mehr davon begeistert, ihn zu entdecken; getrieben von dem Interesse, das er an verborgenem Talent nahm, befahl er daher einem in solchen Angelegenheiten fähigen Mann, dem Griechen beim nächsten Mal zu folgen und das Haus auszukundschaften, in das er eintreten sollte. Sein Gesandter gehorchte und brachte die gewünschte Auskunft. Er hatte den Mann bis zu einer der heruntergekommensten Straßen der Metropole verfolgt. Raymond wunderte sich nicht, dass der Künstler davor zurückgeschreckt war, jemanden wissen zu lassen, wie er lebte, aber er änderte darum seine Entschlossenheit nicht.
Am selben Abend ging er allein zu dem ihm genannten Haus. Armut, Schmutz und verkommenes Elend kennzeichneten sein Aussehen. Ach!, dachte Raymond, ich habe viel zu tun, bevor England ein Paradies wird. Er klopfte; die Tür wurde mithilfe einer Schnur von oben geöffnet – die zerbrochene, elende Treppe war unmittelbar vor ihm, aber niemand erschien; er klopfte erneut, vergebens – und dann, um jede weitere Verzögerung zu vermeiden, erklomm er ungeduldig die dunklen, knarrenden Stufen. Sein Hauptwunsch, besonders jetzt, wo er die jämmerliche Behausung des Künstlers sah, war, jemanden zu entlasten, der Talent besaß, aber von Entbehrung niedergedrückt war. Er stellte sich einen jungen Mann vor, dessen Augen vor Genialität funkelten und dessen Körper durch erlittenen Hunger geschwächt war. Er befürchtete halb, ihn zu verärgern; aber er vertraute darauf, dass seine großzügige Freundlichkeit zu zart übermittelt werden würde, um Anstoß zu erregen. Welches menschliche Herz wäre der Güte verschlossen? Und obgleich die Armut in ihrem Übermaß den Leidenden daran hindern könnte, sich der anscheinenden Erniedrigung einer milden Gabe zu unterwerfen, musste der Eifer des Wohltäters ihn schließlich überzeugen, sie dankbar anzunehmen. Diese Gedanken ermutigten Raymond, als er an der Tür zum obersten Raum des Hauses stand. Nachdem er vergeblich versucht hatte, die anderen Zimmer zu betreten, bemerkte er in der Schwelle dieser Tür ein Paar kleiner türkischer Pantoffeln; die Tür war angelehnt, innen jedoch war alles still. Wahrscheinlich war der Bewohner abwesend, aber in der Gewissheit, die richtige Person gefunden zu haben, war unser abenteuerlustiger Protektor versucht hineinzugehen, eine Börse auf dem Tisch zu lassen und leise zu verschwinden. Mit diesem Gedanken stieß er die Tür vorsichtig auf – doch der Raum war bewohnt.
Raymond hatte nie die Elendsbehausungen besucht, und die Szene, die sich ihm jetzt darstellte, traf ihn bis ins Mark. Der Boden war an vielen Stellen eingesunken; die Wände waren heruntergekommen und kahl – die Decke wies Nässeflecken auf – ein zerlumptes Bett stand in der Ecke; im Zimmer standen nur zwei Stühle und ein grober, beschädigter Tisch, auf dem ein Licht in einem Kerzenleuchter aus Zinn leuchtete – doch inmitten jener trostlosen und herzzerreißenden Armut war ein Hauch von Ordnung und Sauberkeit, der ihn überraschte. Der Gedanke war flüchtig; denn seine Aufmerksamkeit wurde sofort auf den Bewohner dieser elenden Wohnstatt gelenkt. Es war eine Frau. Sie saß am Tisch; eine kleine Hand beschirmte die Augen vor der Kerze; die andere hielt einen Bleistift; ihr Blick war auf eine Zeichnung vor ihr gerichtet, die Raymond als den ihm vorgelegten Entwurf erkannte. Ihre ganze Erscheinung weckte sein tiefstes Interesse. Ihr dunkles Haar war geflochten und zu dicken Knoten zusammengebunden wie der Kopfputz einer griechischen Statue; ihr Gewand war gemein, aber ihre Haltung hätte als Modell der Anmut gelten können. Raymond hatte eine verworrene Erinnerung daran, dass er eine solche Gestalt schon einmal gesehen hatte; er ging durch den Raum; sie hob die Augen nicht, fragte nur auf Griechisch, wer ist da? »Ein Freund«, antwortete Raymond in derselben Sprache. Sie blickte verwundert auf, und er sah, dass es Evadne Zaimi war. Evadne, einst das Idol von Adrians Zuneigung, die den edlen Jüngling zugunsten ihres gegenwärtigen Besuchers verschmäht hatte, und dann, von dem vernachlässigt, den sie liebte, mit zerbrochenen Hoffnungen und einem stechenden Gefühl des Elends, in ihr heimatliches Griechenland zurückgekehrt war. Welche Wirren des Schicksals konnten es vermocht haben, sie nach England und in eine solche Unterkunft zu bringen?
Raymond erkannte sie; und sein Betragen änderte sich von höflicher Mildtätigkeit zu den wärmsten Beteuerungen von Freundlichkeit und Mitgefühl. Ihr Anblick in ihrer gegenwärtigen Situation drang wie ein Pfeil in seine Seele. Er saß bei ihr, nahm ihre Hand und sagte tausend mitfühlende und teilnahmsvolle Dinge. Evadne antwortete nicht; ihre großen dunklen Augen waren niedergeschlagen, endlich schimmerte eine Träne in ihren Wimpern. »So«, rief sie, »kann Güte bewirken, was keine Entbehrung, kein Elend jemals bewirkt hat; ich weine.« Sie vergoss in der Tat viele Tränen, ihr Kopf sank unbewusst auf Raymonds Schulter, er hielt ihre Hand, er küsste ihre eingefallene tränennasse Wange. Er sagte ihr, dass ihre Leiden nun vorüber seien. Niemand beherrschte die Kunst des Tröstens so gut wie Raymond, er erteilte weder gute Ratschläge noch hielt er Reden, aber sein Blick glänzte voller Mitgefühl. Er brachte angenehme Bilder vor die Leidende, seine Liebkosungen erregten kein Misstrauen, denn sie entstanden nur aus dem Gefühl, das eine Mutter dazu bringt, ihr verwundetes Kind zu küssen, einem Wunsch, auf jede nur erdenkliche Weise die Wahrheit seiner Gefühle zu demonstrieren, und der Dringlichkeit seines Wunsches, Balsam in den verletzten Geist der Unglücklichen zu gießen.
Als Evadne ihre Fassung wiedererlangte, wurde sein Benehmen sogar fröhlich. Ihre Armut beflügelte seine Phantasie. Etwas sagte ihm, dass es nicht die wirklichen Übel waren, die schwer auf ihrem Herzen lagen, sondern die Erniedrigung und Schande, die daraus folgten. Während er redete, beraubte er sie dieser; zuweilen sprach er mit lebhaftem Lob von ihrer Stärke, dann wieder nannte er sie, in Anspielung auf ihren vergangenen Zustand, seine verkleidete Prinzessin. Er machte ihr herzliche Angebote, ihr dienlich zu sein. Sie war zu sehr mit fesselnderen Gedanken beschäftigt, um sie entweder zu akzeptieren oder abzulehnen; schließlich verließ er sie, indem er versprach, seinen Besuch am nächsten Tag zu wiederholen. Er kehrte mit gemischten Gefühlen, Kummer über Evadnes Elend und Freude über die Aussicht, es zu erleichtern, nach Hause zurück. Ein Beweggrund, über den er nicht einmal selbst nachdenken wollte, hielt ihn davon ab, Perdita von seinem Abenteuer zu erzählen.
Am nächsten Tag warf er zur Tarnung seiner Person einen Umhang über und besuchte erneut Evadne. Auf dem Weg kaufte er einen Korb mit teuren Früchten, solcherart, wie sie in ihrem eigenen Lande wuchsen, warf verschiedene schöne Blumen darüber hin und trug ihn persönlich in die elende Dachstube seiner Freundin. »Sieh nur«, rief er, als er eintrat, »welches Vogelfutter ich für meinen Spatz auf dem Hausdach mitgebracht habe.«
Evadne erzählte nun die Geschichte ihres Unglücks. Ihr Vater, obwohl von hohem Rang, hatte am Ende sein Vermögen aufgebraucht und sogar seinen Ruf und Einfluss durch eine fortgesetzte Zügellosigkeit zerstört. Seine Gesundheit war beeinträchtigt und es gab keine Hoffnung auf Heilung, so dass es sein ernstlicher Wunsch wurde, ehe er starb, seine Tochter vor der Armut zu bewahren, die mit ihrem Waisenstand einhergehen würde. Er nahm deshalb für sie einen Heiratsantrag von einem wohlhabenden griechischen Kaufmann an, der in Konstantinopel niedergelassen war, und überredete sie, ihn zu akzeptieren. Sie verließ ihre Heimat Griechenland, ihr Vater starb, nach und nach war sie von allen Gefährten und Banden ihrer Jugend abgeschnitten.
Der Krieg, der etwa ein Jahr vor der damaligen Zeit zwischen Griechenland und der Türkei ausgebrochen war, führte zu vielen finanziellen Rückschlägen. Ihr Mann ging bankrott, und dann waren sie in einem Aufruhr und drohenden Massaker seitens der Türken gezwungen, mitten in der Nacht zu fliehen, und sie erreichten in einem offenen Boot ein englisches Segelschiff, das sie sofort nach England brachte. Von den wenigen Juwelen, die sie gerettet hatten, lebten sie eine Weile. Es benötigte die ganze Kraft von Evadnes Verstand, um den versagenden Mut ihres Ehemannes aufrechtzuerhalten. Der Verlust des Eigentums, die Hoffnungslosigkeit in Bezug auf seine Zukunftsaussichten und die Untätigkeit, zu der ihn die Armut verurteilte, versetzten ihn in einen Zustand, der an Wahnsinn grenzte. Fünf Monate nach ihrer Ankunft in England beging er Selbstmord.
»Sie werden mich fragen«, fuhr Evadne fort, »was ich seitdem getan habe, warum ich nicht bei den hier ansässigen reichen Griechen um Hilfe gebeten habe, warum ich nicht in mein Heimatland zurückgekehrt bin? Meine Antwort auf diese Fragen muss Ihnen unbefriedigend erscheinen; doch mich hat sie dazu bewogen, Tag für Tag jedes Elend zu ertragen, statt mit solchen Mitteln Erleichterung zu finden. Soll die Tochter des edlen, wenn auch verschwenderischen Zaimi als eine Bettlerin vor ihren Gleichgestellten oder Untergebenen erscheinen – denn Übergeordnete hatte sie keine? Soll ich meinen Kopf vor ihnen beugen und mit kriecherischer Gebärde meinen Adel für das Leben verkaufen? Hätte ich ein Kind oder irgendeine Verpflichtung, die mich an die Welt bindet, könnte ich zu dieser – wie auch immer gearteten – Welt hinabsteigen. Aber so wie es ist – war die Welt für mich eine böse Stiefmutter; ich würde gern den Aufenthalt beenden, den sie mir zu missgönnen scheint, und im Grabe meinen Stolz, meine Mühsal, meine Verzweiflung vergessen. Die Zeit wird bald kommen, Kummer und Hunger haben bereits an den Grundlagen meines Wesens gezehrt; noch eine sehr kurze Zeit, und ich werde verstorben sein; unbefleckt vom Verbrechen des Selbstmordes oder von der Erinnerung an Erniedrigung wird mein Geist die erbärmliche Hülle beiseitewerfen und eine solche Belohnung finden, wie es Stärke und Ergebung verdienen. Das mag Ihnen als ein Zeichen von Wahnsinn erscheinen, doch auch Sie fühlen Stolz und Entschlossenheit; wundern Sie sich also nicht, dass mein Stolz unbezwinglich ist und meine Entschlossenheit unveränderlich.«
Nachdem Evadne ihre Geschichte beendet und erklärt hatte, weshalb sie sich aller Bemühungen, Hilfe von ihren Landsleuten zu erhalten, enthielt, hielt sie inne; dennoch schien sie mehr sagen zu wollen, wofür sie keine Worte finden konnte. In der Zwischenzeit war Raymond beredt. Sein Wunsch, seiner lieben Freundin wieder zu ihrem Rang in der Gesellschaft und zu ihrem verlorenen Wohlstand zu verhelfen, belebte ihn, und er ließ eifrig all seinen Wünschen und Absichten zu diesem Gegenstand freien Lauf. Er wurde jedoch unterbrochen. Evadne verlangte ihm das Versprechen ab, dass er vor all ihren Freunden verbergen sollte, dass sie sich in England aufhalte. »Die Verwandten des Grafen von Windsor«, sagte sie hochmütig, »denken zweifellos, dass ich ihn beleidigt habe; vielleicht wäre der Graf selbst der Erste, der mich freisprechen würde, aber wahrscheinlich verdiene ich keinen Freispruch. Ich habe damals gehandelt, wie ich musste, aus dem Impuls heraus. Diese elende Unterkunft mag wenigstens die Uneigennützigkeit meines Betragens beweisen. Gleichwie: Ich möchte mich vor keinem von ihnen bekennen, nicht einmal vor Eurer Lordschaft, hätten Sie mich nicht zuerst entdeckt. Meine Taten werden beweisen, dass ich lieber gestorben bin, als verachtet zu werden – seht die stolze Evadne in ihren Fetzen! Seht die Bettlerprinzessin! Es liegt Viperngift in dem Gedanken – versprechen Sie mir, dass Sie mein Geheimnis wahren werden.«
Raymond versprach es; aber dann entspann sich eine neue Diskussion. Evadne verlangte ein weiteres Versprechen von seiner Seite, nämlich, dass er weder ohne ihre Zustimmung irgendein Vorhaben zu ihrem Vorteil durchführen noch ihr selbst Erleichterung verschaffen würde. »Erniedrigen Sie mich nicht in meinen eigenen Augen«, sagte sie; »die Armut ist seit Langem meine Amme; unnachgiebig ist sie, aber ehrlich. Wenn Unehre, oder was ich für Unehre halte, mich berührt, bin ich verloren.« Raymond brachte viele Vernunftgründe und glühendes Zureden vor, um ihr Gefühl zu überwinden, doch sie blieb beharrlich; und, durch das Gespräch aufgeregt, legte sie wild und leidenschaftlich ein feierliches Gelübde ab, zu fliehen und sich dort zu verstecken, wo er sie nie entdecken konnte, wo Hungersnot bald den Tod bringen würde, um ihre Leiden zu beenden, wenn er auf seinen abscheulichen Angeboten beharrte. Sie könne sich selbst erhalten, sagte sie. Und dann zeigte sie ihm, wie sie mit verschiedenen Entwürfen und Gemälden einen Hungerlohn für ihren Unterhalt verdiente. Raymond gab für den Moment nach. Er war sich gewiss, dass, nachdem er für eine Weile ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit Genüge getan hätte, am Ende Freundschaft und Vernunft siegen würden.
Doch die Gefühle, die Evadne antrieben, wurzelten in der Tiefe ihres Wesens und hatten einen solchen Wuchs, dass er sie keinesfalls verstehen konnte. Evadne liebte Raymond. Er war der Held ihrer Phantasie, das Bild, das die Liebe in das unveränderliche Gewebe ihres Herzens eingeprägt hatte. Vor sieben Jahren, in ihrer jugendlichen Blüte, hatte sie sich an ihn gebunden; er hatte ihrem Land gegen die Türken gedient; er hatte in ihrem eigenen Land jenen militärischen Ruhm erworben, der den Griechen besonders teuer war, da sie noch immer verpflichtet waren, Stück um Stück um ihre Sicherheit zu kämpfen. Doch als er von dort zurückkehrte und erstmals im öffentlichen Leben in England auftrat, errang ihre Liebe nicht die seine, die damals zwischen Perdita und einer Krone schwankte. Während er noch unentschlossen gewesen war, hatte sie England verlassen; die Nachricht von seiner Heirat erreichte sie, und ihre Hoffnungen, schlecht genährte Blüten, verwelkten und fielen. Die Herrlichkeit des Lebens war für sie vergangen; der rosenrote Glorienschein der Liebe, der jeden Gegenstand mit seiner eigenen Farbe durchtränkt hatte, verblasste; – sie gab sich damit zufrieden, das Leben so zu nehmen, wie es war, und das Beste aus der bleifarbenen Wirklichkeit zu machen. Sie heiratete; und indem sie ihr ruheloses Wesen mit sich auf neue Schauplätze trug, wandte sie ihre Gedanken dem Ehrgeiz zu und zielte auf den Titel und die Macht einer Prinzessin der Walachei, während ihre patriotischen Gefühle durch den Gedanken an das Gute besänftigt wurden, das sie für ihr Land tun konnte, wenn ihr Ehemann der Anführer jenes Fürstentums sein sollte. Sie strebte danach, ihren Ehrgeiz, eine ebenso unwirkliche Täuschung wie die Liebe, zu befriedigen. Ihre Intrigen mit Russland zur Förderung ihres Vorhabens erregten die Missgunst der Türken und die Feindseligkeit der griechischen Regierung. Sie wurde von beiden als Verräterin betrachtet, der Ruin ihres Mannes folgte; sie vermieden den Tod durch eine rechtzeitige Flucht, und sie fiel von der Höhe ihrer Wünsche herab in die völlige Verarmung in England. Vieles von dieser Geschichte verbarg sie vor Raymond; sie gestand auch nicht, dass ihr Ablehnung und Verleugnung vonseiten der Griechen gedroht hätten, sofern sie deren Hilfe erbeten hätte als eine des schlimmsten Verbrechens Schuldige, die mit der Sense des ausländischen Despotismus die neu erblühenden Freiheiten ihres Landes abschneiden wollte.
Sie wusste, dass sie die Ursache für den völligen Untergang ihres Mannes war; und sie war bereit, die Konsequenzen zu tragen. Die Vorwürfe, welche die Pein ihr wegen der unheilbaren, klaglosen Niedergedrücktheit abnötigte, als sein Geist in einer Erstarrung versunken war, waren nicht weniger qualvoll, weil Letztere still und regungslos vonstattenging. Sie warf sich selbst das Verbrechen seines Todes vor; Schuld und Sühne schienen sie zu umgeben. Vergeblich bemühte sie sich, ihre Schuldgefühle durch die Erinnerung an ihre wahre Redlichkeit zu zerstreuen: der Rest der Welt, wie sie selbst ebenfalls, verurteilte sie und verlangte Vergeltung für ihre Taten. Sie betete für die Seele ihres Mannes; sie beschwor den Allerhöchsten, das Verbrechen seines Selbstmordes ihr anzulasten – sie gelobte zu leben, um seine Schuld zu sühnen.
Inmitten eines solchen Elends, das sie bald hätte vernichten müssen, spendete ihr nur ein Gedanke Trost. Sie lebte im selben Land und atmete die gleiche Luft wie Raymond. Sein Name als Schutzherr lag auf jeder Zunge; seine Leistungen, Projekte und Großartigkeit, fanden in jede Erzählung Eingang. Nichts ist dem Herzen einer Frau so kostbar wie die Herrlichkeit und Vortrefflichkeit desjenigen, den sie liebt; so genoss Evadne in jedem Schrecken zumindest seinen Ruhm und Wohlstand. Während ihr Mann lebte, wurde dieses Gefühl von ihr als Verbrechen angesehen, unterdrückt, bereut. Als er starb, nahm die Flut der Liebe ihren uralten Strom wieder auf, sie überflutete ihre Seele mit ihren stürmischen Wellen, und sie gab sich ihrer unkontrollierbaren Macht hin.
Aber niemals, o, niemals, sollte er sie in ihrem erniedrigten Zustand sehen. Nie sollte er sie als Gefallene sehen, wie sie von der Blüte ihrer Schönheit zu einer armseligen Bewohnerin einer Dachkammer wurde, mit einem Namen, der schändlich geworden war, und mit einer auf ihrer Seele lastenden Schuld. Aber wenngleich sie wie unsichtbar vor ihm verborgen war, erlaubte sein öffentliches Amt ihr, von allen seinen Handlungen, seinem täglichen Lebensablauf, sogar seinem Gespräch zu erfahren. Sie erlaubte sich einen Luxus, sie las jeden Tag die Zeitungen und genoss das Lob und die Taten des Protektors. Nicht, dass dieser Genuss keine Trauer mit sich gebracht hätte. Perditas Name war für immer mit dem seinen verbunden; ihre eheliche Glückseligkeit wurde sogar durch das authentische Zeugnis von Tatsachen belegt. Sie waren beständig zusammen, noch konnte die unglückliche Evadne das Wort lesen, das seinen Namen bezeichnete, ohne gleichzeitig das Bild von ihr zu zeigen, die die treue Begleiterin all seiner Mühen und Freuden war. Sie, ihre Exzellenzen, begegneten ihren Augen in jeder Zeile und mischten einen üblen Trank, der ihr Blut vergiftete.
In der Zeitung sah sie die Ausschreibung für den Entwurf einer Nationalgalerie. Indem sie ihre Erinnerung an die Gebäude, die sie im Osten gesehen hatte, mit Geschmack mischte und mit Klugheit ein Gebäude von einheitlichem Aussehen entwarf, verfertigte sie den Plan, der dem Protektor gesandt worden war. Sie genoss die Vorstellung, unbekannt und vergessen wie sie war, ihm, den sie liebte, eine Wohltat zu schenken; und freute sich mit verzücktem Stolz auf die Vollendung eines ihrer Werke, das, in Stein verewigt, mit dem Namen Raymonds verbunden der Nachwelt zufallen würde. Sie erwartete mit Eifer die Rückkehr ihres Boten vom Palast; sie hörte seinem Bericht über jedes Wort, jeden Blick des Schutzherrn nur zu gerne zu; sie zog Glückseligkeit aus dieser Verständigung mit ihrem Geliebten, obgleich er nicht wusste, an wen er seine Anweisungen richtete. Die Zeichnung selbst wurde ihr unaussprechlich teuer. Er hatte sie gesehen und gelobt; sie wurde wieder von ihr berichtigt, jeder Strich ihres Bleistifts war wie ein Akkord erregender Musik und ließ sie an einen Tempel denken, der eigens erbaut wurde, um die tiefsten und unaussprechlichsten Gefühle ihrer Seele zu feiern. Diese Betrachtungen beschäftigten sie, als die Stimme Raymonds ihr erstmals ans Ohr drang, eine Stimme, die sie, einmal gehört, nie wieder vergessen konnte. Sie zügelte ihre Gefühle und hieß ihn mit ruhiger Sanftheit willkommen.
In ihr kämpften Stolz und Zärtlichkeit miteinander, und schließlich fand sie einen Kompromiss. Sie würde Raymond sehen, da das Schicksal ihn zu ihr geführt hatte und ihre Beständigkeit und Hingabe seine Freundschaft verdienen musste. Doch sollten ihre Rechte in Bezug auf ihn, und ihre liebgewonnene Unabhängigkeit, nicht durch sein Mitleid verletzt werden, weder durch das Eingreifen der komplizierten Gefühle, die mit der Leistung finanzieller Unterstützung verbunden sind, noch durch die entsprechenden Rollen des Gebers und des Empfängers von Wohltaten. Ihr Geist war von ungewöhnlicher Stärke; sie konnte ihre körperlichen Bedürfnisse ihren geistigen Wünschen unterwerfen und eher Kälte, Hunger und Elend erdulden, als es in einem strittigen Punkt auf Glück ankommen zu lassen. Ach! dass in der menschlichen Natur solch ein Grad der geistigen Disziplin und solch eine verächtliche Vernachlässigung der Natur nicht mit der höchsten moralischen Vorzüglichkeit zusammenfiel! Doch die Entschlossenheit, die ihr erlaubte, den Qualen der Entbehrung zu widerstehen, entsprang der übergroßen Spannkraft ihrer Leidenschaften; und der äußerste Eigenwille, auf welchem dies fußte, war dazu bestimmt, selbst das Idol zu zerstören, dessen Anbetung sie dieses unbedeutende Elend unterordnete.
Ihre Treffen wurden fortgesetzt. Nach und nach erzählte Evadne ihrem Freund die ganze Geschichte, von dem Makel, den ihr Name in Griechenland erhalten hatte, und von dem Gewicht der Sünde, das seit dem Tod ihres Mannes auf ihr lastete. Als Raymond sich erbot, ihren Ruf wiederherzustellen und der Welt ihre wahre Vaterlandsliebe zu beweisen, erklärte sie, dass sie nur durch ihre gegenwärtigen Leiden auf eine Erleichterung von ihren Gewissensbissen hoffte; dass in ihrem Geisteszustand, so krank er auch sein mochte, die Notwendigkeit der Beschäftigung heilende Medizin sei. Sie endete damit, indem sie ihm das Versprechen abpresste, dass er für die Dauer eines Monats von der Erörterung ihrer Interessen absehen möge, und erst nach dieser Zeit werde sie seinen Wünschen zum Teil nachgeben. Sie konnte nicht umhin wahrzunehmen, dass jede Veränderung sie von ihm trennen würde, wo sie ihn doch jetzt jeden Tag sah. Seine Verbindung mit Adrian und Perdita wurde nie erwähnt; er war für sie ein Meteor, ein einsamer Stern, der zu seiner bestimmten Stunde in ihre Hemisphäre aufstieg, dessen Erscheinen Glückseligkeit brachte, und welcher, obschon er unterging, nie verfinstert wurde. Er kam jeden Tag in ihre elende Unterkunft, und seine Gegenwart verwandelte diese in einen süß duftenden Tempel, der vom reinen Licht des Himmels erhellt wurde; er nahm an ihrem Rausch teil. »Sie errichteten eine Mauer zwischen sich und der Welt«. – Draußen wüteten tausend Harpyien, Reue und Elend und erwarteten den für ihr Eindringen bestimmten Moment. Drinnen war unschuldiger Friede, unbekümmerte, täuschende Freude, Hoffnung, deren Anker unbewegt über ruhigem, aber wechselhaftem Wasser schwebte.
Während Raymond solcherart in Visionen von Macht und Ruhm versunken war, während er auf die gesamte Herrschaft über die Elemente und den Geist des Menschen hoffte, entging das Gebiet seines eigenen Herzens seiner Aufmerksamkeit; und aus dieser ungedachten Quelle entsprang der mächtige Strom, der seinen Willen überwand und Ruhm, Hoffnung und Glück ins Meer des Vergessens trug.