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Kapitel 1
ОглавлениеIch stamme aus einer vom Meer umgebenen Gegend, einem wolkenverhangenen Land, das, wenn ich mir die Oberfläche des Globus vorstelle, mit seinem grenzenlosen Ozean und den riesigen Kontinenten, nur als ein unbedeutender Fleck im gewaltigen Ganzen erscheint; und doch übertraf es, was die Geisteskraft anbelangt, Länder von größerer Ausdehnung und Bevölkerung bei Weitem. So wahr ist es, dass der Mensch allein mit seinem Verstand alles Gute und Große für sich schuf und dass selbst die Natur nur seine oberste Dienerin war. England, das weit im Norden des trüben Meeres liegt, sucht mich jetzt in meinen Träumen heim, in Gestalt eines großen und wohlbemannten Schiffes, das die Winde beherrscht und stolz über die Wellen reitet. In meinen Knabenjahren war es für mich die ganze Welt. Wenn ich auf meinen heimatlichen Hügeln stand und sah, wie Ebenen und Berge sich bis zu den äußersten Grenzen meiner Sicht erstreckten, mit den Behausungen meiner Landsleute gesprenkelt und durch ihre Arbeit der Fruchtbarkeit unterworfen, war dieser Ort für mich das Zentrum der Erde, und der Rest ihrer Kugel glich einer Fabel, welche zu vergessen weder meine Vorstellungskraft noch meinen Verstand Mühe gekostet hätte.
Meine Geschicke waren von Beginn an ein Exempel für die Macht, die Wandelbarkeit über den Verlauf eines Menschenlebens ausüben kann. In meinem Falle fiel mir alles beinahe wie eine Erbschaft zu. Mein Vater war einer jener Männer, denen die Natur die beneidenswerten Gaben des Witzes und der Einbildungskraft verliehen hatte und deren Lebensbarke sie dann dem Einfluss der Winde überließ, ohne den Verstand als Steuerruder oder die Urteilskraft als Lotsen für die Reise hinzuzufügen. Er war von unklarer Herkunft; aber die Umstände machten ihn bald in der Gesellschaft bekannt, und sein kleiner väterlicher Besitz wurde bald in der großartigen modischen und luxuriösen Gesellschaft verbraucht, in der er sich bewegte. Während der kurzen Jahre gedankenloser Jugend wurde er von den Beliebtesten aus gutem Hause, und nicht weniger vom jungen Souverän, der sich den Intrigen der Partei und den mühsamen Aufgaben königlicher Geschäfte entzog, verehrt, die in seiner Gesellschaft nie versagende Erheiterung und Aufhellung des Gemütes fanden. Die Impulse meines Vaters, die nie unter seiner eigenen Kontrolle standen, brachten ihn fortwährend in Schwierigkeiten, aus denen ihn allein sein Einfallsreichtum befreien konnte; und der sich anhäufende Berg von Schulden der Ehre und des Handels, der jeden anderen zur Erde gebeugt haben würde, wurde von ihm mit leichtem Sinn und unbezwinglicher Heiterkeit geschultert; während seine Gesellschaft an den Tischen und Versammlungen der Reichen so notwendig war, dass man seine Verfehlungen als lässlich betrachtete und er selbst mit berauschender Schmeichelei empfangen wurde.
Diese Art von Popularität ist, wie jede andere auch, flüchtig: und die Schwierigkeiten jeder Art, mit denen er zu kämpfen hatte, stiegen in einem fürchterlichen Ausmaß verglichen mit seinen geringen Mitteln, sich daraus zu befreien. Zu solchen Zeiten sprang ihm der König bei, der ihm sehr zugetan war, und stellte dann seinen Kameraden freundlich zur Rede. Mein Vater gelobte eifrig Besserung, aber seine gesellige Veranlagung, sein Verlangen nach dem üblichen Maß an Bewunderung und, mehr als alles andere, der Teufel des Glücksspiels, der ihn völlig beherrschte, machten seine guten Vorsätze vergänglich und seine Versprechungen vergeblich. Mit der raschen Auffassungsgabe, die seinem Gemüt eigentümlich war, nahm er wahr, dass seine Macht im strahlenden Kreise im Schwinden begriffen war. Der König heiratete; und die hochmütige Prinzessin von Österreich, die als Königin von England bald die neuesten Moden anführte, sah mit scharfen Augen seine Mängel und mit Verachtung die Zuneigung, die ihr königlicher Ehemann für ihn empfand. Mein Vater fühlte, dass sein Fall nahe war; aber weit davon entfernt, diese letzte Ruhe vor dem Sturm zu nutzen, um sich selbst zu retten, suchte er das vorausgeahnte Übel zu vergessen, indem er dem Gott des Vergnügens, dem betrügerischen und grausamen Schiedsrichter seines Schicksals, noch größere Opfer darbrachte.
Der König, der ein Mann von ausgezeichneten Anlagen war, sich aber leicht führen ließ, war jetzt ein williger Schüler seiner herrischen Gemahlin geworden. Er wurde veranlasst, mit äußerster Missbilligung und schließlich mit Widerwillen auf die Unklugheit und die Torheiten meines Vaters zu blicken. Dessen Anwesenheit konnte diese Wolken zwar zerstreuen; seine warmherzige Offenheit, sein glänzender Witz und sein vertrauensvolles Betragen waren unwiderstehlich: in einiger Entfernung jedoch, während immer neue Geschichten über seine Verfehlungen ins Ohr seines königlichen Freundes gegossen wurden, verlor er seinen Einfluss. Der Königin gelang es mit Geschick, diese Abwesenheiten zu verlängern und Beschuldigungen zusammenzutragen. Endlich wurde der König dazu gebracht, in ihm eine Quelle ständiger Unruhe zu sehen, und kam zu dem Schluss, dass ihm das kurzlebige Vergnügen seiner Gesellschaft langweilige Predigten und peinvolle Erzählungen von Exzessen, deren Wahrheit er nicht widerlegen konnte, einbrachte. Das Ergebnis war, dass er, um ihn zur Vernunft zu bringen, noch einen Versuch wagen und ihn im Falle des Misserfolges für immer abweisen wollte.
Eine solche Szene muss von äußerstem Interesse und angespannter Leidenschaft gewesen sein. Ein mächtiger König, bekannt für eine herausragende Güte, die ihn bis dahin milde gestimmt hatte, und jetzt erhaben in seinen Ermahnungen, die mal als Bitten, mal als Rügen geäußert wurden, bat seinen Freund, sich seinen wahren Interessen zu widmen und sich zu entschließen, jenen Belustigungen zu entsagen, die ihn ohnehin bald verlassen würden, und seine großen Talente auf ein würdigeres Feld zu verlegen, in dem er, sein Souverän, ihm Stütze, Halt und Wegbereiter sein würde. Meinen Vater rührte diese Gewogenheit; für einen Moment schwebten ihm ehrgeizige Träume vor; und er dachte, dass es gut wäre, seine gegenwärtigen Beschäftigungen gegen edlere Aufgaben zu tauschen. Mit Aufrichtigkeit und Eifer leistete er das verlangte Versprechen: Als Unterpfand der fortwährenden Gunst erhielt er von seinem königlichen Herrn eine Geldsumme, um dringende Schulden zu begleichen und ihm zu ermöglichen, unter guter Aufsicht seine neue Laufbahn zu beginnen. In derselben Nacht, noch voller Dankbarkeit und guter Entschlüsse, ging diese Summe, und noch einmal so viel, am Spieltisch verloren. In seinem Bestreben, seine ersten Verluste wiedergutzumachen, riskierte mein Vater den doppelten Einsatz und zog damit eine Ehrenschuld auf sich, die er nicht begleichen konnte. Zu beschämt, um sich wieder an den König zu wenden, kehrte er London, seinen falschen Freuden und dem anhaftenden Elend den Rücken zu und vergrub sich, mit der Armut als seiner einzigen Begleiterin, in der Einsamkeit zwischen den Hügeln und Seen Cumberlands. Sein Witz, seine geistreichen Bemerkungen, der Ruf seiner persönlichen Reize, faszinierenden Manieren und gesellschaftlichen Talente wurden lange in Erinnerung behalten und weitererzählt. Wenn man fragte, wo dieser Liebling der Gesellschaft nun sei, dieser Gefährte der Edlen, dieser helle Lichtstrahl, der die Versammlungen des Hofes und der Heiterkeit mit unerhörter Pracht vergoldete, – hörte man, dass er ein verlorener Mann sei, der in Misskredit geraten sei; nicht einer dachte, dass es ihm zustehe, das anderen gewährte Vergnügen durch echte Dienstleistungen zurückgezahlt zu bekommen, oder dass sein langes Wirken als genialer Unterhalter die Auszahlung einer Pension verdiene. Der König beklagte seine Abwesenheit; er liebte es, seine Sprüche zu wiederholen, die Abenteuer, die sie miteinander erlebt hatten, zu erzählen und seine Talente zu erhöhen – hier aber endete seine Erinnerung.
Derweil konnte mein vergessener Vater nicht vergessen. Er trauerte um den Verlust dessen, was ihm notwendiger war als Luft oder Nahrung – die Aufregung des Vergnügens, die Bewunderung der Edlen, das luxuriöse und geschliffene Leben der Großen. Ein Nervenfieber war die Folge, während dem er von der Tochter eines armen Häuslers gepflegt wurde, unter dessen Dach er wohnte. Sie war lieblich, sanft und außerdem freundlich zu ihm; auch kann es nicht verwundern, dass das frühere Idol der adligen Schönheit, selbst in seinem gefallenen Stande, dem niederen Häusler-Mädchen als ein Wesen von höherer und bewunderungswürdiger Art erscheinen sollte. Die Verbindung zwischen ihnen führte zu der unglückseligen Ehe, deren Spross ich war.
Trotz der Zärtlichkeit und Sanftheit meiner Mutter beklagte ihr Ehemann noch immer seinen herabgewürdigten Stand. Nicht an körperliche Arbeit gewöhnt, wusste er nicht, auf welche Weise er zum Unterhalt seiner wachsenden Familie beitragen könnte. Zuweilen dachte er daran, sich an den König zu wenden; Stolz und Scham hielten ihn für eine Weile zurück; und ehe seine Bedürfnisse so dringlich wurden, dass sie ihn zu irgendeiner Betätigung zwangen, starb er. Für eine kurze Zeitspanne vor diesem Unglück blickte er in die Zukunft und betrachtete voller Angst die verzweifelte Lage, in der er seine Frau und seine Kinder zurücklassen würde. Seine letzte Bemühung war ein Brief an den König, voll berührender Beredsamkeit und gelegentlichem Aufblitzen jenes brillanten Geistes, der ein wesentlicher Teil von ihm war. Er überantwortete seine Witwe und Waisen der Freundschaft seines königlichen Gebieters und war es zufrieden, dass auf diese Weise ihr Wohlstand nach seinem Tode besser gesichert war als in seinem Leben. Dieser Brief wurde der Fürsorge eines Adligen anvertraut, der ohne Zweifel dieses letzte leichte Amt auf sich nehmen würde, ihn dem König in die Hand zu legen.
Er starb verschuldet, und sein geringes Vermögen wurde sogleich von seinen Gläubigern beschlagnahmt. Meine Mutter, mittellos und mit der Bürde zweier Kinder belastet, harrte Woche für Woche und Monat für Monat in gespannter Erwartung auf eine Antwort, die nie kam. Sie hatte nie etwas anderes gekannt als die Hütte ihres Vaters; und das Herrenhaus des Gutsherrn war die vornehmste Art von Großartigkeit, die sie sich vorstellen konnte. Während mein Vater noch am Leben gewesen war, hatte er sie mit den Namen der Königsfamilie und des höfischen Kreises vertraut gemacht; aber solche Dinge, die nicht mit ihrer persönlichen Erfahrung übereinstimmten, erschienen ihr nach dem Verlust dessen, der ihnen Inhalt und Wirklichkeit eingehaucht hatte, vage und phantastisch. Wenn sie unter den gegebenen Umständen auch genügend Mut aufgebracht hätte, sich an die von ihrem Ehemann erwähnten adligen Personen zu wenden, so brachte sie doch der Misserfolg seines eigenen Ansuchens dazu, die Idee zu verbannen. Sie sah daher keinen Ausweg aus der bitteren Not: Ihre fortwährende Sorge, verbunden mit der Trauer um den Verlust des außergewöhnlichen Wesens, das sie weiterhin mit feuriger Bewunderung betrachtete, die harte Arbeit und ihre von Natur aus empfindliche Gesundheit erlösten sie schließlich von der traurigen Endlosigkeit des Mangels und Elends.
Die Lage ihrer verwaisten Kinder war besonders trostlos. Ihr eigener Vater war Emigrant aus einem anderen Landesteil gewesen und schon lange gestorben; sie hatten keinen einzigen Verwandten, der sich ihrer angenommen hätte; sie waren Ausgestoßene, Arme, freundlose Wesen, denen nur das dürftigste Almosen zugestanden wurde, und die nicht einmal als Kinder von Bauern behandelt wurden, sondern als ärmer noch als jener Ärmste galten, der sie im Sterben der knauserigen Wohltätigkeit des Landes als ein undankbares Vermächtnis hinterlassen hatte.
Ich, der Ältere der beiden, war fünf Jahre alt, als meine Mutter starb. Eine Erinnerung an die Reden meiner Eltern und die Botschaften, die meine Mutter mir in Bezug auf die Freunde meines Vaters mitzuteilen versuchte, in der vagen Hoffnung, dass ich eines Tages von dem Wissen profitieren könnte, schwebte wie ein undeutlicher Traum durch meinen Verstand. Ich stellte mir vor, dass ich anders und meinen Beschützern und Gefährten überlegen sei, aber ich wusste nicht, inwiefern oder weswegen. Das Gefühl der Verletzung, verbunden mit dem Namen des Königs und der Adligen, hing mir an; aber ich konnte aus jenen Gefühlen keine Schlüsse ziehen, die mir als Anleitung zum Handeln hätten dienen können. Mein erstes wirkliches Wissen über mich selbst besagte, dass ich ein schutzloses Waisenkind in den Tälern und Bergen Cumberlands war. Ich stand im Dienste eines Bauern; und mit einem Stab in der Hand und meinem Hund an meiner Seite hütete ich eine große Schafherde im nahen Hochland. Ich kann nicht viel Gutes über ein solches Leben sagen, und seine Qualen überstiegen bei Weitem seine Freuden. Es lag Freiheit darin, eine Gemeinschaft mit der Natur und eine sorglose Einsamkeit; aber diese, so romantisch sie waren, stimmten nicht mit dem Tätigkeitsdrang und dem Verlangen nach menschlicher Zuneigung überein, die charakteristisch für die Jugend sind. Weder die Aufsicht über meine Herde noch der Wechsel der Jahreszeiten genügten, um meinen regen Geist zu zähmen; mein Leben im Freien und die beschäftigungslose Zeit waren die Versuchungen, die mich früh zu gesetzlosen Gewohnheiten führten. Ich verband mich mit anderen, die wie ich ohne Freunde waren; ich formte sie zu einer Bande, ich war ihr Anführer und Hauptmann. Wir waren alle Hirtenknaben, und während unsere Herden über die Weiden verteilt waren, planten und verübten wir so manchen Schelmenstreich, der uns die Wut und die Rache der Bauern zuzog. Ich war der Anführer und Beschützer meiner Kameraden, und da ich ihnen vorstand, wurden ihre Missetaten gewöhnlich mir angelastet. Doch indem ich heldenmütig Bestrafung und Schmerz in ihrer Verteidigung ertrug, beanspruchte ich als Belohnung Lob und Gehorsam.
In einer solchen Schule erhielt ich einen rauen, aber standhaften Charakter. Der Hunger nach Bewunderung und die geringe Fähigkeit zur Selbstbeherrschung – Eigenschaften, die ich von meinem Vater geerbt hatte, und welche von den Widrigkeiten genährt wurden –, machten mich wagemutig und leichtsinnig. Ich war roh wie die Elemente und ungebildet wie die Tiere, die ich hütete. Ich verglich mich oft mit ihnen, und als ich feststellte, dass meine Hauptüberlegenheit in der Macht bestand, überzeugte ich mich bald, dass es nur die Machtfülle war, bezüglich derer ich den größten Potentaten der Erde unterlegen war. So unbeleckt von hoher Philosophie und von dem unruhigen Gefühl verfolgt, unter meine wahre gesellschaftliche Stellung erniedrigt zu sein, wanderte ich in den Hügeln des zivilisierten Englands umher, ein ebenso ungeschliffener Wilder wie der wolfsgesäugte Gründer des alten Roms. Ich kannte nur ein Gesetz, und zwar das des Stärkeren, und meine größte Tugend bestand darin, mich niemals zu unterwerfen.
Doch man lasse mich ein wenig von diesem Urteil abweichen, das ich über mich selbst gegeben habe. Als meine Mutter starb, übergab sie, zusätzlich zu ihren anderen halbvergessenen und falsch angewandten Lektionen, ihr anderes Kind mit feierlicher Ermahnung meiner brüderlichen Vormundschaft; und diese eine Pflicht erfüllte ich nach besten Kräften, mit all dem Eifer und der Zuneigung, zu der meine Natur fähig war. Meine Schwester war drei Jahre jünger als ich; ich hatte sie als Kleinkind gehütet, und selbst als der Unterschied unserer Geschlechter uns durch verschiedene Beschäftigungen in großem Maße voneinander trennte, blieb sie doch der Gegenstand meiner sorgsamen Liebe. Als Waisen, im vollsten Sinne des Wortes, waren wir die Ärmsten unter den Armen und die Verachteten unter den Unwürdigen. Wo man mir wegen meiner Kühnheit und meines Mutes eine Art von respektvoller Abneigung entgegenbrachte, waren ihre Jugend und ihr Geschlecht, die keine Zärtlichkeit weckten, weil sie ihr als Schwäche ausgelegt wurden, ihr hinderlich und Ursache zahlloser Demütigungen; und ihre eigene Veranlagung war nicht so beschaffen, dass sie die schädlichen Auswirkungen ihres niedrigen Standes hätte mindern können.
Sie war ein einzigartiges Wesen und hatte, gleich mir, viele Eigenarten unseres Vaters geerbt. Ihr Antlitz war voller Ausdruck; ihre Augen waren nicht dunkel, aber undurchdringlich tief; man vermeinte, in ihrem klugen Blick Raum um Raum zu entdecken und empfand, dass ihre Seele ein Universum des Denkens in sich barg. Sie war blass und blond, ihr goldenes Haar kräuselte sich an ihren Schläfen und seine satte Farbe kontrastierte mit dem hellen Marmor darunter. Ihr grobes Bauernkleid, das wenig zu der Kultiviertheit, die ihr Gesicht ausdrückte, passen wollte, harmonierte dennoch auf eine seltsame Weise damit. Sie glich einer von Guidos Heiligen, himmlisch in ihrem Herzen wie in ihrem Äußeren, und Kleidung und sogar Gestalt traten hinter dem Verstand zurück, der aus ihrem Antlitz blitzte.
Obschon sie so liebreizend und voller edler Gefühle war, war das Wesen meiner armen Perdita (denn das war der phantasievolle Name, den meine Schwester von ihrem sterbenden Vater erhalten hatte) nicht gänzlich frei von Fehlern. Ihr Betragen war kalt und abweisend. Wäre sie von Menschen aufgezogen worden, die sie mit Zuneigung behandelt hätten, wäre sie vielleicht anders gewesen; doch ungeliebt und vernachlässigt zahlte sie den Mangel an Güte mit Misstrauen und Schweigen zurück. Sie unterwarf sich denen, die Autorität über sie hatten, doch ihre Brauen waren stets düster zusammengezogen; sie schien von jedem, der sich ihr näherte, Feindschaft zu erwarten, und ihre Handlungen wurden von demselben Gefühl geleitet. Sämtliche Zeit, über die sie frei verfügen konnte, verbrachte sie in der Abgeschiedenheit. Sie wanderte zu den am wenigsten besuchten Orten und erklomm gefährliche Höhen, damit sie sich an diesen entlegenen Stellen in die Einsamkeit zurückziehen konnte. Oft verbrachte sie ganze Stunden damit, auf den Pfaden im Walde auf und ab zu gehen; sie wob Girlanden aus Blumen und Efeu oder betrachtete den flackernden Schatten und die glänzenden Blätter; zuweilen saß sie neben einem Rinnsal und warf, wenn ihre Gedanken zur Ruhe kamen, Blumen oder Kieselsteine ins Wasser, um zu beobachten, wie diese schwammen und jene sanken; oder sie setzte Boote aus Baumrinde oder Blättern ins Wasser, mit einer Feder als Segel, und verfolgte den Kurs ihres Gefährts zwischen den Stromschnellen und Untiefen des Baches. Indessen ersann ihre rege Phantasie tausend Möglichkeiten; sie träumte »von schreckender Gefahr zu See und Land« – sie verlor sich verzückt in diesen selbstgeschaffenen Wanderungen und kehrte mit unwilligem Geist in die trübe Enge des gewöhnlichen Lebens zurück.
Die Armut war die Wolke, die ihre Vorzüge verhüllte, und alles, was in ihr gut war, erstarb aus Mangel am freundlichen Tau der Zuneigung. Sie hatte nicht einmal den gleichen Vorteil wie ich, der ich eine Erinnerung an unsere Eltern hatte; sie klammerte sich an mich, ihren Bruder, als ihren einzigen Freund, doch ihre Verwandtschaft mit mir vergrößerte nur die Abneigung, die ihre Pflegeeltern für sie empfanden; und jeder begangene Fehler wurde von ihnen zu Verbrechen erhöht. Wäre sie in jenem Lebensumfeld aufgewachsen, das die Natur ihr durch die ererbte Zartheit ihres Geistes und ihrer Person eigentlich zugedacht hatte, wäre sie vielleicht ein Gegenstand der Anbetung gewesen, denn ihre Tugenden waren ebenso herausragend wie ihre Fehler. All das Genie, das das Blut ihres Vaters geadelt hatte, entflammte das ihrige; eine großzügige Flut floss in ihren Adern. List, Neid oder Niedertracht liefen ihrer Natur zuwider, ihr Antlitz könnte, wenn es von einem liebenswürdigen Gefühl erleuchtet wurde, einer Königin der Nationen angehört haben, ihre Augen waren strahlend, ihr Auftreten furchtlos.
Obschon wir durch unsere Lage und Gemütsanlagen fast gleichermaßen von den üblichen Formen des sozialen Umgangs abgeschnitten waren, bildeten wir einen starken Gegensatz zueinander. Ich benötigte stets die Anregung durch Gesellschaft und Beifall. Perdita war sich selbst genug. Ungeachtet meiner gesetzlosen Gewohnheiten war ich im Grunde gesellig, wohingegen sie die Abgeschiedenheit suchte. Ich verbrachte mein Leben unter greifbaren Realitäten, sie erlebte das ihre wie einen Traum. Man könnte sagen, ich würde sogar meine Feinde lieben, denn indem sie mich reizten, schenkten sie mir Befriedigung. Perdita mochte ihre Freunde im Grunde nicht, denn sie störten sie in ihren träumerischen Stimmungen. Alle meine Gefühle, selbst die der Freude und des Triumphes, wurden in Bitterkeit verwandelt, wenn ich sie nicht teilen konnte. Perdita nahm noch in der Freude ihre Zuflucht zur Einsamkeit und konnte von Tag zu Tag existieren, ohne je ihre Gefühle auszudrücken oder freundschaftliche Zuneigung in einem anderen zu suchen. Ja, sie konnte lieben und Zärtlichkeit für den Anblick und die Stimme eines Freundes empfinden, während ihr Verhalten doch die kälteste Zurückhaltung ausdrückte. Ihre Empfindung wandelte sich zum Gefühl, und sie sprach erst, wenn sich ihre Wahrnehmung äußerer Gegenstände mit anderen vermischt hatte, die die eigentliche Frucht ihres Geistes waren. Sie war wie ein fruchtbarer Boden, der die Lüfte und Taue des Himmels aufnahm, um sie in den schönsten Formen von Früchten und Blumen wieder ans Licht hervorzubringen; doch dann wieder war sie oft ebenso düster und zerklüftet wie dieser Boden, wurde aufgewühlt und im Verborgenen neu bestellt.
Sie wohnte in einem Häuschen, von dem eine niedrige Grasböschung zu den Wassern des Sees von Ullswater abfiel; ein Buchenwald erstreckte sich den Hügel hinauf, und ein von der Anhöhe sanft hinabfließender, plätschernder Bach lief durch mit Pappeln beschattete Uferwiesen in den See. Ich lebte bei einem Bauern, dessen Haus höher in den Hügeln erbaut war: dahinter erhob sich ein dunkler Fels, in dessen Spalten auf der Nordseite den ganzen Sommer hindurch Schnee lag. Vor Morgengrauen führte ich meine Herde zu den Schafweiden und hütete sie den Tag hindurch. Es war ein mühevolles Leben; denn Regen und Kälte waren häufiger als Sonnenschein; doch ich trotzte den Elementen voller Stolz. Mein treuer Hund bewachte die Schafe, während ich zum Treffpunkt meiner Kameraden und von dort zur Ausführung unserer Pläne schlich. Gegen Mittag trafen wir uns wieder, und wir warfen unsere Bauernkost verächtlich fort, wenn wir Holz für unser Feuer aufschichteten und es zu lodernden Flammen entfachten, die dazu bestimmt waren, das aus den nahe gelegenen Gehegen gestohlene Wild zuzubereiten. Es folgten die Geschichten von haarsträubenden Verfolgungsjagden, Kämpfen mit Hunden, Hinterhalt und Flucht, während wir auf Zigeunerart unseren Kessel umringten. Die Suche nach einem verirrten Lamm oder die Maßnahmen, mit deren Hilfe es uns gelang oder wir bestrebt waren, der Bestrafung zu entgehen, füllten die Stunden des Nachmittags. Am Abend trottete meine Herde in ihren Pferch und ich zu meiner Schwester.
Es geschah in der Tat selten, dass wir, um einen altmodischen Ausdruck zu gebrauchen, ungeschoren davonkamen. Unsere karge Kost wurde oft durch Schläge und Einkerkerung ersetzt. Einmal, als ich dreizehn Jahre alt war, wurde ich für einen Monat ins Bezirksgefängnis geschickt. Als ich herauskam, hatte sich meine Moral nicht verbessert, sondern mein Hass auf meine Unterdrücker verzehnfacht. Brot und Wasser zähmten mein Blut nicht, auch Einzelarrest inspirierte mich nicht mit sanften Gedanken. Ich empfand Wut, Ungeduld und Elend. Meine einzigen glücklichen Stunden waren jene, in denen ich Rachepläne ersann. Diese wurden in meiner erzwungenen Einsamkeit vervollkommnet, so dass ich während der ganzen folgenden Saison, und ich wurde Anfang September aus der Haft entlassen, nie versäumte, mir und meinen Kameraden ausgezeichnete und reichliche Kost zu beschaffen. Das war ein herrlicher Winter. Der scharfe Frost und der schwere Schnee zähmten die Tiere und hielten die Gutsherren an ihren Kaminen. Wir bekamen mehr Wild, als wir essen konnten, und mein treuer Hund bekam durch den Genuss unserer Abfälle ein glänzendes Fell.
So verstrichen die Jahre, und die Jahre vergrößerten nur noch meinen Durst auf die Freiheit und meine Verachtung für alles, was nicht so wild und verwegen war wie ich. Im Alter von sechzehn Jahren war ich zu einem stattlichen Mann herangewachsen; ich war groß und kräftig, darin geübt, meine Stärke zu beweisen und an die Unbilden der Elemente gewöhnt. Meine Haut war sonnengebräunt, meine Schritte waren voll selbstbewusster Kraft. Ich fürchtete niemanden und liebte niemanden. Im Nachhinein blickte ich verwundert darauf zurück, wie ich damals war, wie vollkommen wertlos ich geworden wäre, wenn ich meine gesetzlose Karriere weiterverfolgt hätte. Mein Leben war wie das eines Tieres, und mein Verstand drohte, zu dem eines wilden Tieres zu verkommen. Bis jetzt hatten meine wilden Gewohnheiten mich noch keine üblen Untaten ausüben lassen; vielmehr waren meine körperlichen Kräfte unter ihrem Einfluss gewachsen und aufgeblüht, und mein Geist, der derselben Disziplin unterworfen war, war von allen abhärtenden Tugenden durchdrungen. Aber jetzt stiftete mich meine Unabhängigkeit, auf die ich so stolz war, täglich dazu an, Akte der Tyrannei zu begehen, und die Freiheit wurde zur Zügellosigkeit. Ich stand am Rande der Männlichkeit; Leidenschaften, so stark wie die Bäume eines Waldes, hatten bereits in mir Wurzeln geschlagen und begannen nun, meinen Lebensweg mit ihrem schädlichen Überwuchern zu beschatten.
Ich dürstete nach Unternehmungen jenseits meiner kindlichen Heldentaten und erdachte ungetrübte Träume von zukünftigem Handeln. Ich mied meine alten Kameraden, und so verlor ich sie bald. Sie erreichten das Alter, in dem sie ins Leben entlassen wurden, um den ihnen vorherbestimmten Lebenszweck zu erfüllen; während ich, ein Ausgestoßener, ohne jemanden, der mich führte oder vorantrieb, innehielt. Die Alten begannen, auf mich als ein schlechtes Beispiel zu zeigen, die Jungen, mich als ein Wesen zu betrachten, das von ihnen selbst verschieden war. Ich hasste sie und begann, als die letzte und schlimmste Erniedrigung, mich selbst zu hassen. Ich hielt an meinen wilden Gewohnheiten fest, verachtete sie jedoch zugleich; ich setzte meinen Krieg gegen die Gesellschaft fort und hegte dennoch den Wunsch, dazuzugehören.
Ich rief mir wieder und wieder alles ins Gedächtnis, was meine Mutter mir vom früheren Leben meines Vaters erzählt hatte, ich betrachtete die wenigen Reliquien, die ich von ihm besaß, und sie sprachen von einer größeren Kultiviertheit als dem, was unter den Berghütten zu finden war. Doch nichts von alledem diente mir als Wegweiser zu einer anderen und angenehmeren Lebensweise. Mein Vater war mit Adligen befreundet gewesen, aber alles, was ich von solchen Verbindungen kannte, war die letztendliche Verstoßung. Der Name des Königs – des Mannes, an den mein sterbender Vater seine letzten Bitten gerichtet hatte und der sie grob zurückgewiesen hatte – war nur mit der Vorstellung von Lieblosigkeit, Ungerechtigkeit und äußerster Erbitterung verbunden. Ich war zu etwas Größerem geboren worden, als ich war – und größer würde ich werden; aber Größe ging, zumindest in meiner verzerrten Wahrnehmung, nicht notwendig mit dem Guten einher, und meine wilden Gedanken wurden nicht durch moralische Betrachtungen gezügelt, wenn ich von Rang und Namen träumte. So stand ich auf einem Gipfel, ein Meer des Bösen wogte zu meinen Füßen; ich wollte mich hineinstürzen und mit den Wassern über alle Hindernisse hinweg zum Gegenstand meiner Wünsche eilen – als ein merkwürdiger Einfluss auf die Strömung meines Schicksals einwirkte und ihren ungestümen Lauf zu dem änderte, was im Vergleich dazu den sanften Windungen eines in Wiesen gebetteten Bächleins glich.