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Kapitel 2

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Ich lebte fernab von den geschäftigen Städten, und der Lärm von Kriegen oder politischen Veränderungen drang nur als ein leiser Nachhall zu unseren Berghütten. England war in meiner frühen Kindheit der Schauplatz bedeutender Kämpfe gewesen. Im Jahre 2073 hatte der Letzte seiner Könige, der alte Freund meines Vaters, aufgrund der sanften Proteste seiner Untertanen abgedankt, und es wurde eine Republik ausgerufen. Dem entthronten Monarchen und seiner Familie wurden große Güter gesichert; er erhielt den Titel Graf von Windsor, und Schloss Windsor, eine alte Residenz mit ausgedehnten Ländereien, gehörte zum ihm zugeteilten Reichtum. Er starb bald darauf und hinterließ zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter.

Die ehemalige Königin, eine Prinzessin des Hauses Österreich, hatte ihren Gatten lange gedrängt, sich dem Unvermeidlichen zu widersetzen. Sie war hochmütig und furchtlos; sie hegte eine Liebe zur Macht und eine bittere Verachtung für ihn, der so leicht sein Königreich aus der Hand gab. Allein um ihrer Kinder willen war sie bereit, der Königswürde beraubt, eine Bürgerin der englischen Republik zu bleiben. Als sie Witwe wurde, widmete sie sich gänzlich der Erziehung ihres Sohnes Adrian, des zweiten Grafen von Windsor, um ihre ehrgeizigen Ziele zu erreichen; und er, der die Milch seiner Mutter eingesogen hatte, sollte mit dem ständigen Ziel vor Augen heranwachsen, eines Tages seine verlorene Krone wiederzuerlangen. Adrian war jetzt fünfzehn Jahre alt. Er war süchtig nach dem Studium und weit über sein Alter hinaus von Gelehrtheit und Talent durchdrungen: Man sagte, dass er bereits begonnen habe, die Ansichten seiner Mutter zu durchkreuzen und republikanische Grundsätze zu hegen. Dem sei, wie ihm wolle, die hochmütige Gräfin vertraute niemandem die Geheimnisse ihres Familienunterrichts an. Adrian wuchs in der Abgeschiedenheit heran und wurde von den natürlichen Gefährten seines Alters und Standes ferngehalten. Einige unbekannte Umstände veranlassten nun seine Mutter, ihn aus ihrer unmittelbaren Obhut fortzusenden; und wir hörten, dass er Cumberland besuchen wollte. Es gingen tausend Geschichten um, welche das Verhalten der Gräfin von Windsor erklärten – keine davon war wahrscheinlich –, aber jeden Tag wurde es gewisser, dass wir den edlen Spross des früheren königlichen Hauses von England unter uns sehen sollten.

Am Ullswater befand sich ein großes Landgut mit einem Herrenhaus, das dieser Familie gehörte. Ein großer Park, geschmackvoll angelegt und reichlich mit Wild bestückt, schloss daran an. Ich hatte oft dieses Gehege geplündert; und der vernachlässigte Zustand des Gutes erleichterte meine Besuche. Als beschlossen wurde, dass der junge Graf von Windsor Cumberland besuchen sollte, kamen Arbeiter, um das Haus und das Grundstück für seinen Empfang vorzubereiten. Die Wohnungen wurden in ihrer ursprünglichen Pracht wiederhergestellt, und der Park, dessen Schäden beseitigt wurden, wurde mit besonderer Sorgfalt bewacht.

Mir war diese Nachricht äußerst unangenehm. Sie weckte all meine ruhenden Erinnerungen, meine verdrängten Gefühle der Verletzung, und gab neuer Rachsucht Auftrieb. Ich konnte meinen Beschäftigungen nicht mehr nachgehen, all meine Pläne und Ideen waren vergessen. Ich schien im Begriff zu sein, mein Leben von Neuem zu beginnen, und das unter keinen guten Vorzeichen. Das Tauziehen, dachte ich, sollte jetzt beginnen. Er würde triumphierend dorthin kommen, wo mein Vater gebrochen Zuflucht gesucht hatte; er würde den unglückseligen Sprössling vorfinden, der seinem königlichen Vater mit solch vergeblichem Vertrauen von elenden Armen anvertraut wurde. Dass er von unserer Existenz wusste und uns aus der Nähe mit derselben Verächtlichkeit behandeln würde, die sein Vater aus der Entfernung und in Abwesenheit geübt hatte, erschien mir als die sichere Folge dessen, was zuvor geschehen war. So sollte ich denn diesen edlen Jüngling treffen – den Sohn des Freundes meines Vaters. Er würde von Dienern abgeschirmt werden. Adlige und deren Söhne waren seine Begleiter. Ganz England war entzückt beim Klange seines Namens, und sein Herannahen war wie ein Gewitter bereits von fern zu vernehmen. Ich hingegen, der ich ungebildet und unbeliebt war, sollte im Urteil seiner höfischen Anhänger als lebender Beweis für die Richtigkeit jener Undankbarkeit dienen, die mich zu dem degradierten Wesen gemacht hatte, als das ich erschien.

Man könnte sagen, dass ich, während ich ganz von jenen Gedanken erfüllt war, wie unter einem Bann stehend den künftigen Wohnsitz des jungen Grafen aufsuchte. Ich beobachtete den Fortschritt der Arbeiten und stand bei den Packwagen, aus denen verschiedene Londoner Luxusartikel hervorgebracht und ins Herrenhaus befördert wurden. Es war Teil des Plans der ehemaligen Königin, ihren Sohn mit fürstlicher Pracht zu umgeben. Ich sah reiche Teppiche und seidene Behänge, goldenen Tand, reich verzierte Gegenstände aus Metall, prunkvolle Möbel und allerlei Beiwerk von hohem Rang, so dass dem Abkömmling eines Königs nichts als königliche Pracht ins Auge fallen sollte. Ich schaute auf diese und wandte meinen Blick meiner eigenen gewöhnlichen Kleidung zu. Woher kam dieser Unterschied? Woher, wenn nicht von Undankbarkeit und Falschheit, von einer Verderbtheit des Vaters des Prinzen, einer Abwendung von jeglichem edlen, mitfühlenden und großzügigen Gefühl. Zweifellos war auch er, dessen Blut eine Beimischung von seiner stolzen Mutter erhalten hatte – war er, der anerkannte Mittelpunkt des Reichtums und des Adels des Königreichs, gelehrt worden, den Namen meines Vaters mit Verachtung auszusprechen und über meine gerechten Ansprüche auf Schutz zu spotten. Ich bemühte mich zu glauben, dass all dieser Prunk nichts als eine blendende Ehrlosigkeit sei und dass er, indem er seine goldgewebte Fahne neben meiner befleckten und zerfetzten aufpflanzte, nicht seine Überlegenheit verkündete, sondern seine Erniedrigung. Und doch beneidete ich ihn. Sein Stall voll schöner Pferde, seine edlen und kostbaren Waffen, das Lob, das ihn überallhin begleitete, die Anbetung, die stets bereiten Diener, der hohe Rang und die hohe Wertschätzung – ich betrachtete sie als mir gewaltsam entwunden und neidete sie ihm alle mit neuer und quälender Bitterkeit.

Um meinem Ärger die Krone aufzusetzen, schien Perdita, die weltabgewandte Perdita, wie zu neuem Leben erwacht zu sein, als sie mir erzählte, dass der Graf von Windsor bald eintreffen würde.

»Und das freut dich?«, bemerkte ich mürrisch.

»In der Tat, Lionel«, antwortete sie. »Ich freue mich sehr darauf, ihn zu sehen. Er ist der Abkömmling unserer Könige, der oberste Adlige des Landes: jeder bewundert und liebt ihn, und man sagt, dass sein Rang sein geringstes Verdienst ist. Er ist großzügig, wacker und gütig.«

»Du hast eine hübsche Lektion gelernt, Perdita«, sagte ich, »und wiederholst sie so wörtlich, dass du indessen vergisst, welche Beweise wir von den Tugenden des Grafen haben. Seine Großzügigkeit uns gegenüber offenbart sich in der Fülle, die wir besitzen, seine Tapferkeit im Schutz, den er uns gewährt, seine Freundlichkeit darin, wie er von uns Notiz nimmt. Sein Rang ist sein geringstes Verdienst, sagst du? Nun, alle seine Tugenden sind nur von seinem Stand abgeleitet. Weil er reich ist, wird er großzügig genannt, weil er mächtig ist, wacker, weil ihm gut gedient wird, heißt es, er sei gütig. Lass sie ihn so nennen, lass ganz England glauben, er sei so – doch wir kennen ihn – er ist unser Feind – unser geiziger, tückischer, ungerechter Feind. Wenn er auch nur mit einem geringen Teil der Tugenden begabt wäre, die du sein Eigen nennst, würde er uns Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sein Vater verletzte meinen Vater – sein Vater, unangreifbar auf seinem Thron, wagte es, ihn zu verachten – ihn, der erst so tief sank, nachdem er sich dazu herabgelassen hatte, mit dem undankbaren König in Verbindung zu treten. Wir, Abkömmlinge des einen und des andern, müssen gleichfalls Feinde sein. Er soll merken, dass ich meine Verletzungen fühlen kann, er soll lernen, meine Rache zu fürchten!«

Ein paar Tage darauf traf er ein. Jeder Bewohner selbst der elendsten Hütte ging aus, um sich zum Volk zu gesellen, das ausströmte, um ihn zu sehen. Selbst Perdita schlich sich, trotz meiner kürzlichen Strafrede, nahe an die Straße heran, um dieses Idol aller Herzen zu sehen. Ich, halb wahnsinnig, nachdem ich etlichen Gruppen Landvolk in ihrem besten Sonntagsstaat, welche die Hügel hinabstiegen, begegnet war, floh zu den wolkenverhangenen Gipfeln und rief aus, indem ich auf die kahlen Felsen um mich her blickte: »Sie rufen nicht, lang lebe der Graf!« Auch als die Nacht anbrach, begleitet von Nieselregen und Kälte, wollte ich nicht nach Hause zurückkehren, denn ich wusste, dass jedes Haus voll des Lobes für Adrian sein würde. Als ich fühlte, wie meine Glieder taub und kalt wurden, diente mein Schmerz als Nahrung für meine wahnsinnige Abneigung; ja, ich triumphierte beinahe darin, weil er mir Grund und Entschuldigung für meinen Hass auf meinen sorglosen Gegner bot. Alles schrieb ich ihm zu, denn ich brachte die Vorstellung von Vater und Sohn so vollständig durcheinander, dass ich vergaß, dass dieser sich unserer Vernachlässigung durch seinen Vater völlig unbewusst sein könnte, und ich rief, indem ich mit der Hand an meinen schmerzenden Kopf schlug: »Er wird davon hören! Ich werde gerächt werden! Ich werde nicht wie ein Hund leiden! Er soll wissen, dass ich, bettelarm und freundlos, wie ich bin, mich nicht zahm der Schmähung beugen werde!«

Jeder Tag und jede Stunde vermehrte und vergrößerte diese eingebildeten Fehler. Die Loblieder, die auf ihn gesungen wurden, waren gleich Natternbissen, die sich tief in meine verletzliche Brust bohrten. Wenn ich ihn aus einiger Entfernung sah, auf einem schönen Pferd reitend, geriet mein Blut vor Wut in Wallung. Die Luft schien von seiner Gegenwart vergiftet zu sein, und meine Muttersprache wurde in einen widerlichen Jargon verwandelt, da jeder Satz, den ich hörte, mit seinem Namen und seinem Lob verbunden war. Ich war darauf versessen, dieses schmerzhafte Herzbrennen durch irgendeine Untat zu lindern, die ihm meine Abneigung beweisen sollte. Es war der Gipfel seiner Beleidigung, dass er mir solche unerträglichen Empfindungen bescheren, und sich gleichzeitig nicht dazu herablassen sollte, auf irgendeine Art zu zeigen, dass er sich überhaupt meiner Existenz bewusst war.

Es wurde bald bekannt, dass Adrian große Freude an seinem Park und dem darin lebenden Wild hatte. Er ging nie zur Jagd, sondern verbrachte Stunden damit, die Herden von schönen und fast zahmen Tieren zu beobachten, mit denen der Park bestückt war, und befahl, dass auf sie mehr Sorge als zuvor angewandt werden sollte. Hier war ein Einfallstor für meine Pläne, ihn zu beleidigen, und ich nutzte es mit allem rohen Ungestüm meiner wilden Lebensweise. Ich schlug meinen wenigen verbliebenen Kameraden, die die entschlossensten und gesetzlosesten der Bande waren, das Unternehmen vor, Wilderei auf seinen Ländereien zu betreiben, aber sie alle schraken vor der Gefahr zurück. Ich musste die Rache also alleine wagen. Zuerst wurden meine Raubzüge nicht bemerkt, so dass ich wagemutiger wurde. Fußabdrücke im taubenetzten Grase, abgebrochene Zweige und Blutspuren erregten endlich die Aufmerksamkeit der Wildhüter. Sie hielten besser Ausschau – ich wurde gefasst und ins Gefängnis geschickt. Ich betrat die düsteren Wände in einem Anfall triumphierender Ekstase: »Jetzt fühlt er mich«, rief ich, »und wird es wieder und wieder tun!« – Ich wurde aber nur für einen Tag in Haft genommen, am Abend wurde ich, wie mir gesagt wurde, auf Geheiß des Grafen selbst, wieder in die Freiheit entlassen. Diese Nachricht schleuderte mich von meinem selbst errichteten Gipfel der Ehre herab. Er verachtet mich, dachte ich, aber er wird noch lernen, dass auch ich ihn verachte, und seine Bestrafungen und seine Milde gleichermaßen. In der zweiten Nacht nach meiner Entlassung wurde ich wieder von den Wildhütern gefangen genommen – wieder eingesperrt und wieder freigelassen, und in der vierten Nacht, so hartnäckig war ich, fand ich mich wieder im verbotenen Park. Die Wildhüter waren wegen meiner Hartnäckigkeit wütender als ihr Herr. Sie hatten Befehl erhalten, mich, wenn ich wieder aufgegriffen werden würde, vor den Grafen zu bringen, und angesichts seiner Milde erwarteten sie ein Urteil, das sie für mein Verbrechen als unpassend ansahen. Einer von ihnen, der von Anfang an der Anführer unter denen gewesen war, die mich ergriffen hatten, entschloss sich, zuerst seinen eigenen Groll zu befriedigen, ehe er mich den höheren Mächten übergab.

Der späte Untergang des Mondes und die äußerste Vorsicht, die ich bei diesem dritten Feldzug wahren musste, kosteten mich so viel Zeit, dass mich ein gewisses Angstgefühl erfasste, als ich den Übergang der dunklen Nacht in die Dämmerung wahrnahm. Ich kroch auf Händen und Knien durch den Farn und suchte mich im Schatten des Unterholzes zu verbergen, während die Vögel über mir mit unwillkommenem Gesang erwachten und der frische Morgenwind, der zwischen den Ästen spielte, mich bei jeder Biegung den Schall von Fußtritten vermuten ließ. Mein Herz schlug rasch, als ich mich der Umzäunung näherte; meine Hand legte sich darauf, ein Sprung nur würde mich auf die andere Seite bringen, als zwei Wächter aus einem Hinterhalt auf mich losgingen. Einer schlug mich nieder und fuhr fort, mich mit der Pferdepeitsche zu schlagen. Ich sprang auf – ein Messer lag in meiner Hand; ich fuhr damit auf seinen erhobenen rechten Arm los und fügte ihm eine tiefe, klaffende Wunde in der Hand zu. Die Wut und die Schreie des verwundeten Mannes, die lauten Verwünschungen seines Kameraden, die ich mit gleicher Bitterkeit und Wut beantwortete, hallten durch das Tal. Der Morgen brach mehr und mehr an und wollte mit seiner himmlischen Schönheit so gar nicht mit unserem brutalen und lautstarken Kampf harmonieren. Ich und mein Gegner kämpften immer noch, als der Verwundete ausrief: »Der Graf!« Ich wand mich keuchend vor Anstrengung aus dem herkulischen Griff des Wächters; dann warf ich wütende Blicke auf meine Verfolger und stellte mich mit meinem Rücken an einen Baum, entschlossen, mich bis zum Letzten zu verteidigen. Meine Kleider waren zerrissen, und sie waren, wie auch meine Hände, mit dem Blut des Mannes, den ich verwundet hatte, befleckt; eine Hand hielt die toten Vögel – meine hart verdiente Beute, die andere das Messer. Meine Haare waren verfilzt, mein Gesicht war mit den gleichen Zeichen der Schuld beschmiert, die auf dem tropfenden Werkzeug, das ich umklammerte, gegen mich sprachen, meine ganze Erscheinung war wild und schmutzig. Mit meiner großen und muskulösen Gestalt musste ich wie das ausgesehen haben, was ich wirklich war: der übelste Rohling, der jemals auf Erden wandelte.

Der Name des Grafen erschreckte mich und ließ all das empörte Blut, das mein Herz erhitzte, in meine Wangen schießen. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen und einen hochmütigen, anmaßenden Jüngling erwartet, der, wenn er sich dazu entschlösse, mich zur Rede stellen, mit der ganzen Arroganz der Überlegenheit zu mir sprechen würde. Ich hatte meine Antwort bereits vorbereitet, einen Vorwurf, von dem ich glaubte, dass er ihn ins Herz treffen würde. Er kam unterdessen heran, und sein Aussehen blies, wie mit einem sanften Windhauch, meinen bewölkten Zorn zur Seite: ein großer, schlanker, schöner Jüngling, mit einer Physiognomie, die ein Übermaß an Empfindsamkeit und Kultiviertheit ausdrückte, stand vor mir. Die Strahlen der Morgensonne tönten sein seidiges Haar mit einem goldenen Schimmer und verbreiteten Licht und Herrlichkeit über sein leuchtendes Antlitz. »Was geht hier vor?«, rief er. Die Männer hoben sogleich zu ihrer Verteidigung an; er unterbrach sie und sagte: »Zwei von euch auf einmal gegen einen bloßen Knaben – was für eine Schande!« Er kam auf mich zu: »Verney«, rief er, »Lionel Verney, begegnen wir uns so zum ersten Mal? Wir wurden geboren, um miteinander befreundet zu sein. Willst du nicht, wenngleich uns das Schicksal getrennt hat, die ererbten Freundschaftsbande anerkennen, die uns, wie ich überzeugt bin, zukünftig vereinigen werden?«

Während er sprach, schienen seine ernsten Augen, die auf mich gerichtet waren, direkt in meiner Seele zu lesen: mein Herz, mein wildes rachsüchtiges Herz, fühlte den Einfluss des süßen Wohlwollens in sich sinken, während seine wohlklingende Stimme wie die süßeste Melodie ein stummes Echo in mir weckte, welches das Lebensblut in meinem Körper bis ins Innerste anrührte. Ich wollte antworten, seine Güte anerkennen, seine angebotene Freundschaft annehmen – aber Worte, passende Worte, wurden dem rauen Bergbewohner nicht gewährt. Ich wollte meine Hand ausstrecken, doch ihre Schmutzigkeit hielt mich zurück. Adrian hatte Mitleid mit meiner unsicheren Miene:

»Komm mit mir«, sagte er, »ich habe dir viel zu sagen. Komm mit mir nach Hause – du weißt, wer ich bin?«

»Ja«, rief ich aus, »ich glaube, dass ich dich jetzt kenne und dass du mir meine Fehler verzeihst – mein Verbrechen.«

Adrian lächelte sanft, und nachdem er den Wildhütern seine Befehle gegeben hatte, ging er auf mich zu; er nahm meinen Arm, und wir gingen zusammen zum Herrenhaus.

Es war nicht sein Rang – nach allem, was ich gesagt habe, wird man sicherlich nicht vermuten, dass es Adrians Rang war, der von Anfang an mein Herz unterwarf und mich meine ganze Seele vor ihm niederlegen ließ. Ich war es auch nicht allein, der seine Vollkommenheit so sehr empfand. Seine Empfindsamkeit und Höflichkeit faszinierten jeden. Seine Lebendigkeit, Intelligenz und seine tätige Güte nahmen alle Welt gänzlich für ihn ein. Schon in diesem jungen Alter war er sehr belesen und durchdrungen vom Geist der hohen Philosophie. Dieser Geist verlieh ihm in seinem Umgang mit anderen einen unwiderstehlichen Ton, so dass er wie ein begabter Musiker wirkte, der mit unfehlbarer Geschicklichkeit die »Leier der Seele« schlug und darauf göttliche Harmonie erzeugte. Körperlich schien er kaum von dieser Welt zu sein; sein schmaler Bau wurde von der Seele, die in ihm wohnte, überlagert; er war ganz Geist. »Man zücke nur ein Schilfrohr« gegen seine Brust, und es hätte seine Stärke bezwungen; aber die Macht seines Lächelns hätte einen hungrigen Löwen gezähmt oder eine Legion bewaffneter Männer dazu gebracht, ihre Waffen zu seinen Füßen zu legen.

Ich verbrachte den Tag mit ihm. Anfangs kam er nicht auf die Vergangenheit oder gar auf irgendwelche persönlichen Vorfälle zurück. Er wollte mich wahrscheinlich Fassung gewinnen lassen und mir Zeit geben, meine zerstreuten Gedanken zu sammeln. Er sprach von allgemeinen Gegenständen und brachte mich auf Gedanken, die ich nie zuvor gedacht hatte. Wir saßen in seiner Bibliothek, und er sprach von den alten griechischen Weisen und von der Macht, die sie über den Geist des Menschen erlangt hätten, und dies nur durch Weisheit und die Kraft der Liebe. Der Raum war mit den Büsten vieler von ihnen geschmückt, und er beschrieb mir ihre Charaktere. Während er sprach, fühlte ich mich ihm ergeben; und all mein vielgerühmter Stolz und meine Kraft wurden durch die honigsüßen Reden dieses blauäugigen Jünglings unterdrückt. Das schmucke und vergitterte Reich der Zivilisation, das ich zuvor aus meinem wilden Dschungel als unerreichbar angesehen hatte, hatte sein Tor von ihm öffnen lassen; ich trat ein, und dabei fühlte ich, dass ich auf heimischem Boden stand.

Als es Abend wurde, kam er auf die Vergangenheit zu sprechen. »Ich habe eine Geschichte zu erzählen«, sagte er, »und muss, die Vergangenheit betreffend, viel erklären. Vielleicht kannst du mir helfen, sie zu verkürzen. Erinnerst du dich an deinen Vater? Ich hatte nie das Glück, ihn kennenzulernen, doch sein Name ist eine meiner frühesten Erinnerungen: Er steht geschrieben in den Tafeln meines Geistes als ein Beispiel für alles, was galant, liebenswürdig und faszinierend im Menschen war. Sein Witz war ebenso berühmt wie die überfließende Güte seines Herzens, welche er in so vollem Maße seinen Freunden einschenkte, dass ach! nur wenig für ihn selbst übrig blieb.«

Ermutigt durch diese Lobrede begann ich, als Antwort auf seine Nachfragen, zu berichten, was ich von meinen Eltern in Erinnerung hatte; und er erklärte jene Umstände, die die Vernachlässigung des testamentarischen Briefes meines Vaters verursacht hatten. Als Adrians Vater, der damalige König von England, in späteren Zeiten spürte, dass seine Lage ernster wurde, beschämte ihn sein Betragen mehr und mehr, immer wieder wünschte er sich seinen früheren Freund, der ihm als Bollwerk gegen den ungestümen Zorn seiner Königin beistehen könnte, als einen Vermittler zwischen ihm und dem Parlament. Seit der Zeit, in der er London in der verhängnisvollen Nacht seiner Niederlage am Spieltisch verlassen hatte, hatte der König keine Nachrichten über ihn erhalten; und als er sich nach Jahren bemühte, ihn aufzuspüren, war jede Spur verwischt. Mit mehr Bedauern als je zuvor klammerte er sich an seine Erinnerung und überantwortete es seinem Sohn, wenn er jemals diesen geschätzten Freund treffen sollte, ihm in seinem Namen jeden Beistand zu leisten und ihm zu versichern, dass seine Zuneigung bis zuletzt Trennung und Schweigen überdauert habe.

Kurze Zeit vor Adrians Besuch in Cumberland legte der Erbe des Edelmannes, dem mein Vater seinen letzten Appell an seinen königlichen Herrn anvertraut hatte, diesen Brief, mit ungebrochenem Siegel, in die Hände des jungen Grafen. Man hatte festgestellt, dass er mit einer Masse alter Papiere beiseitegeschoben worden war, und der Zufall brachte ihn ans Licht. Adrian las ihn mit tiefem Interesse; und fand dort den lebendigen Geist des Genies und des Witzes, über den er so oft reden gehört hatte. Er entdeckte den Namen des Ortes, an den mein Vater sich zurückgezogen hatte, und an dem er starb; er erfuhr von der Existenz von dessen Waisenkindern; und während der kurzen Zeit zwischen seiner Ankunft in Ullswater und unserem Zusammentreffen im Park war er damit beschäftigt gewesen, Nachforschungen über uns anzustellen und eine Reihe von Plänen zu unserem Vorteil zu arrangieren, bevor er sich uns bemerkbar machen wollte.

Die Art, wie er von meinem Vater sprach, schmeichelte meiner Eitelkeit sehr. Der Schleier, den er zart über seine Güte warf, indem er sich auf eine pflichtbewusste Erfüllung des letzten Willens des Königs berief, beruhigte meinen Stolz. Andere, weniger zweideutige Gefühle wurden durch seine versöhnliche Art und die großzügige Wärme seines Ausdrucks ausgelöst. Respekt, wie ich ihn zuvor selten empfunden hatte, Bewunderung und Liebe – er hatte mein versteinertes Herz mit seiner magischen Kraft berührt, und ein Strom der Zuneigung brach unvergänglich und rein daraus hervor. Am Abend trennten wir uns, er drückte meine Hand: »Wir werden uns wiedersehen, komm morgen zu mir.« Ich umklammerte diese gütige Hand; ich versuchte zu antworten; ein eifriges »Gott segne dich!«, war alles, was ich in meinem Unvermögen aussprechen konnte, ehe ich, aufgewühlt von meinen neuen Emotionen, davonstob.

Ich fand keine Ruhe. Es trieb mich in die Hügel; ein Westwind umbrauste sie, und über mir funkelten die Sterne. Ich lief weiter, sorgte mich nicht um äußerliche Gegenstände, sondern versuchte, meinen ringenden Geist durch körperliche Erschöpfung zu ermüden. »Dies«, dachte ich, »ist Macht! Nicht stark in den Gliedern, nicht hart im Herzen und wagemutig sein, sondern gütig und mitfühlend.« – Ich blieb stehen, faltete meine Hände und rief mit der Inbrunst eines Neubekehrten: »Zweifle nicht an mir, Adrian, auch ich werde weise und gut werden!«, und dann, von meinen Empfindungen überwältigt, weinte ich laut.

Als dieser leidenschaftliche Ausbruch vorüber war, fühlte ich mich gelassener. Ich legte mich auf die Erde und begann, indem ich meinen Gedanken freien Lauf ließ, Schicht um Schicht die vielen Fehler meines Herzens aufzudecken, und ich erkannte, wie viehisch, wild und wertlos ich bisher gewesen war. Ich konnte damals jedoch keine Reue empfinden, denn ich dünkte mich neu geboren; meine Seele warf die Bürde vergangener Sünde ab, um ein neues Leben in Unschuld und Liebe zu beginnen. Nichts Schroffes oder Grobes blieb übrig, das es vermocht hätte, die sanften Gefühle, welche die Erlebnisse des Tages ausgelöst hatten, zu erschüttern. Ich war wie ein Kind, das seiner Mutter die Gebete nachlispelte, und meine nachgiebige Seele wurde von einer Meisterhand neu geformt, nach der ich weder verlangte noch ihr widerstehen konnte.

Dies war der erste Beginn meiner Freundschaft mit Adrian, und ich muss dieses Tages als des glücklichsten meines Lebens gedenken. Ich begann jetzt, ein Mensch zu sein. Mir wurde das Überschreiten jener heiligen Grenze gewährt, die die intellektuelle und moralische Natur des Menschen von dem trennt, was Tiere charakterisiert. Meine besten Gefühle waren gefordert, um die Großzügigkeit, die Weisheit und die Geschenke meines neuen Freundes angemessen zu erwidern. Ihm, mit seiner ganz eigenen edlen Güte, bereitete es unendliche Freude, dem lange vernachlässigten Sohn des Freundes seines Vaters, dem Abkömmling jenes begabten Wesens, von dessen Vorzügen und Talenten er von seiner Kindheit an hatte erzählen hören, die Schätze seines Verstandes und seines Vermögens zu schenken.

Nach seiner Abdankung hatte sich der verstorbene König aus der Politik zurückgezogen, doch sein häuslicher Kreis verschaffte ihm wenig Zufriedenheit. Die vormalige Königin verfügte über keine Tugenden des häuslichen Lebens, und jene des Mutes und der Verwegenheit, die sie besaß, verloren durch die Absetzung ihres Mannes ihren Wert: Sie verachtete ihn und war nicht darauf bedacht, ihre Gefühle zu verbergen. Der König hatte, in Übereinstimmung mit ihren Forderungen, seine alten Freunde verstoßen, aber unter ihrer Führung keine neuen gewonnen. In diesem Mangel an Zuneigung griff er auf seinen noch sehr kleinen Sohn zurück; und die frühe Entwicklung seines Talents und seiner Sensibilität machte Adrian zu einer geeigneten Person für das Vertrauen seines Vaters. Er wurde es nie müde, den oft wiederholten Berichten aus alten Zeiten zu folgen, in denen mein Vater eine herausragende Rolle gespielt hatte. Seine kühnen Bemerkungen wurden dem Knaben wiederholt und von ihm in Erinnerung behalten, sein Witz, sein Zauber, seine Fehler wurden durch reuevolle Zuneigung geheiligt, sein Verlust wurde aufrichtig bedauert. Selbst die Abneigung der Königin gegenüber dem Liebling konnte ihn nicht der Bewunderung ihres Sohnes berauben: Sie war bitter, sarkastisch, verächtlich – doch indem sie ihre Tadel gleichermaßen über seine Tugenden wie seine Fehler ergoss, über seine hingebungsvolle Freundschaft und seine unguten Leidenschaften, über seine Uneigennützigkeit und seine Verschwendungssucht, über seine einnehmenden Manieren und die Leichtigkeit, mit der er der Versuchung nachgab, erwies sich ihr Doppelschuss als zu schwer und verfehlte das Ziel. Auch verhinderte ihre zornige Abneigung nicht, dass Adrian sich meinen Vater, wie er gesagt hatte, als ein Sinnbild alles Galanten, Liebenswürdigen und Faszinierenden im Menschen vorstellte. Es war daher nicht verwunderlich, dass er, als er von der Existenz der Nachkommen dieses gefeierten Mannes hörte, den Entschluss fasste, ihnen alle Vorteile zu gewähren, die ihm sein Rang ermöglichte. Auch als er mich als einen vagabundierenden Hirten der Hügel, einen Wilderer, einen ungebildeten Wilden fand, versagte seine Freundlichkeit nicht. Er vertrat nicht nur die Ansicht, dass sein Vater sich in gewissem Grade der Vernachlässigung uns gegenüber schuldig gemacht habe und ihm jede mögliche Wiedergutmachung obliege, sondern freute sich überdies, sagen zu können, dass unter all meiner Grobheit eine Kultiviertheit des Geistes hervorschimmerte, die sich vom bloßen viehischen Mut unterschied, und dass ich eine äußere Ähnlichkeit mit meinem Vater aufwies, die bezeugte, dass nicht alle seine Tugenden und Begabungen mit ihm gestorben waren. Was auch immer auf mich gekommen sein mochte, beschloss mein edler junger Freund, sollte nicht aus Mangel an Kultur zugrunde gehen.

Indem er diesen Gedanken bei unseren folgenden Zusammentreffen verfolgte, weckte er in mir den Wunsch, an der Verfeinerung teilzuhaben, die seinen eigenen Intellekt zierte. Einmal dieses neuen Gedankens bemächtigt, haftete mein reger Geist mit äußerster Begierde daran. Zuerst war es das große Ziel meines Ehrgeizes, mit den Verdiensten meines Vaters zu konkurrieren und mich der Freundschaft Adrians würdig zu erweisen. Aber bald erwachten die Neugier und die ernsthafte Liebe zum Wissen, die mich Tag und Nacht zum Lesen und Studieren antrieb. Ich kannte bereits, was ich als Panorama der Natur bezeichnen möchte, den Wechsel der Jahreszeiten und die verschiedenen Erscheinungen von Himmel und Erde. Aber ich war erschrocken und verzaubert von der plötzlichen Erweiterung meiner Sicht, als der Vorhang, der vor der geistigen Welt herabhing, zurückgezogen wurde und ich das Universum sah, nicht nur, wie es sich meinen äußeren Sinnen präsentierte, sondern wie es den Weisesten unter den Menschen erschienen war. Die Poesie und ihre Schöpfungen, die Philosophie und ihre Forschungen und Klassifikationen weckten die in mir ruhenden Gedanken und hauchten mir neue ein.

Ich fühlte mich wie der Seemann, der vom Mastkorb aus als Erster die Küste Amerikas entdeckte; und wie er beeilte ich mich, meinen Gefährten von meinen Entdeckungen in unbekannten Gebieten zu erzählen. Doch ich war nicht in der Lage, in der Brust anderer den gleichen Appetit auf Wissen zu erregen, der in meiner bestand. Selbst Perdita konnte mich nicht verstehen. Ich hatte in einer Welt gelebt, die gemeinhin als die reale Welt bezeichnet wird, und erwachte nun in einem neuen Land, in dem ich entdeckte, dass es in allem, was ich sah, eine tiefere Bedeutung gab, abgesehen von dem, was meine Augen mir vermittelten. Die träumerische Perdita sah darin nur einen neuen Glanz einer alten Lektüre, und ihre eigene war unerschöpflich genug, um sie zufriedenzustellen. Sie hörte mir zu, wie sie es bei der Erzählung meiner Abenteuer getan hatte, und interessierte sich zuweilen für diese Art von Wissen, doch sie sah es nicht als einen integralen Teil ihres Wesens an, so wie ich es tat, der ich es, nachdem ich es gewonnen hatte, ebenso wenig ablegen konnte wie den Tastsinn.

Wir beide liebten Adrian einmütig, wenngleich sie, die sie der Kindheit noch nicht ganz entwachsen war, weder das Ausmaß seiner Verdienste wie ich schätzen noch die gleiche Übereinstimmung mit seinen Beschäftigungen und Meinungen fühlen konnte. Ich war stets bei ihm. Da war eine Empfindsamkeit und Sanftheit in seiner Art, die unserem Gespräch einen zarten und überirdischen Ton gab. Dann war er heiter wie eine Lerche, die von ihrem himmlischen Turm herab sang und in Gedanken wie ein Adler aufstieg, unschuldig wie die sanftäugige Taube. Er konnte den Ernst Perditas zerstreuen und der quälenden Umtriebigkeit meiner Natur den Stachel nehmen. Ich blickte auf meine rastlosen Wünsche und schmerzhaften Kämpfe mit meinen Mitmenschen wie auf einen unruhigen Traum zurück und fühlte mich so verändert, als wäre ich in eine andere Daseinsform übergegangen, deren neues Empfinden das Abbild des scheinbaren Universums im Spiegel des Geistes verändert hatte. Aber dem war nicht so; ich war noch immer ebenso kräftig, empfand das starke Bedürfnis nach Zuneigung und sehnte mich nach aktiver Betätigung. Meine männlichen Tugenden verließen mich nicht, denn die Hexe Urania verschonte Samsons Locken, während er zu ihren Füßen ruhte; doch es wurde alles gemildert und menschlicher gemacht. Adrian unterrichtete mich nicht allein in den Tatsachen der Geschichte und Philosophie. Zu gleicher Zeit, als er mich auf seine Weise lehrte, meinen leichtsinnigen und unkultivierten Geist zu beherrschen, öffnete er meinem Auge die wahre Seite seines eigenen Herzens und ließ mich seinen bewunderungswürdigen Charakter erkennen und verstehen.

Die ehemalige Königin von England hatte sich schon in der Kindheit ihres Sohnes bemüht, ihm verwegene und ehrgeizige Pläne einzupflanzen. Sie sah, dass er mit hohen Geisteskräften und überragendem Talent ausgestattet war; diese kultivierte sie, um sie später zur Förderung ihrer eigenen Ansichten zu verwenden. Sie bestärkte sein Verlangen nach Wissen und seinen ungestümen Mut; sie tolerierte sogar seine unbezähmbare Freiheitsliebe, in der Hoffnung, dass diese, wie dies allzu oft geschieht, in eine Liebe zur Macht münden würde. Sie bemühte sich, in ihm ein Gefühl des Grolls und des Verlangens zu erwecken, sich an denjenigen zu rächen, die dazu beigetragen hatten, die Abdankung seines Vaters herbeizuführen. Dies gelang ihr nicht. Die ihm übermittelten Berichte, so verzerrt sie auch sein mochten, einer großen und klugen Nation, die ihr Recht geltend machte, sich selbst zu regieren, erregte seine Bewunderung: Er wurde bereits in jungen Jahren durch und durch republikanisch. Dennoch verzweifelte seine Mutter nicht. Der Liebe zur Herrschaft und dem hochmütigen Standesbewusstsein fügte sie entschlossenen Ehrgeiz, Geduld und Selbstbeherrschung hinzu. Sie widmete sich dem Studium des Charakters ihres Sohnes. Durch Lob, Tadel und Ermahnung versuchte sie die passenden Akkorde zu finden und zu treffen; und obschon die Melodie, die ihrer Berührung folgte, ihr unharmonisch erschien, baute sie ihre Hoffnungen auf seine Talente und war sich sicher, dass sie ihn schließlich gewinnen würde. Die Verbannung, die er jetzt erlebte, hatte eine andere Ursache.

Die einstige Königin hatte auch eine Tochter, die jetzt zwölf Jahre alt war; seine feenhafte Schwester, wie Adrian sie zu nennen pflegte; ein reizendes, lebhaftes, kleines Ding, empfindsam und freiheraus. Mit diesen ihren Kindern wohnte die adlige Witwe ständig in Windsor; und sie ließ außer ihren Gefolgsleuten, Reisenden aus ihrer Heimat Deutschland und einigen Gesandten keine Besucher zu. Unter jenen, und von ihr hochgeschätzt, befand sich Prinz Zaimi, Botschafter der freien Staaten von Griechenland in England; und seine Tochter, die junge Prinzessin Evadne, die einen Großteil ihrer Zeit auf Schloss Windsor verbrachte. In der Gesellschaft dieses lebhaften und klugen griechischen Mädchens fand die Gräfin Zerstreuung von ihrem gewöhnlichen Zustand. Ihrer Ansichten in Bezug auf ihre eigenen Kinder wegen, erlegte sie sich in allen ihren Worten und Handlungen in Bezug auf sie Zurückhaltung auf. Aber Evadne war ein Spielzeug, das sie in keiner Weise fürchten musste; auch boten ihre Begabungen und ihre Lebhaftigkeit der Gräfin eine Abwechslung in der ewigen Gleichförmigkeit ihres Lebens.

Evadne war achtzehn Jahre alt. Obschon sie viel Zeit gemeinsam in Windsor verbracht hatten, hatte die Jugend Adrians jeden Verdacht im Hinblick auf die Natur ihres Umgangs gehemmt. Doch sein überaus glühendes und zärtliches Herz hatte bereits gelernt zu lieben, während die schöne Griechin den Jüngling noch freundlich belächelte. Es war seltsam für mich, der ich, obschon älter als Adrian, noch nie geliebt hatte, Zeuge des ganz hingegebenen Herzens meines Freundes zu sein. Es lag weder Eifersucht, Unruhe noch Misstrauen in seinem Gefühl; es war Hingabe und Treue. Sein Leben wurde von der Existenz seiner Geliebten vereinnahmt, und sein Herz schlug nur im Einklang mit dem Takt, der das ihre belebte. Dies war das geheime Gesetz seines Lebens – er liebte und wurde wiedergeliebt. Das Universum war für ihn eine Wohnstatt, in der er mit seiner Auserwählten lebte, und kein vorgegebener Entwurf der Gesellschaft oder eine Verkettung von Ereignissen, die ihm Glück oder Elend vermitteln könnten. Und das, obwohl das Leben mit den Regeln des gesellschaftlichen Umgangs eine Wildnis, ein von Tigern heimgesuchter Dschungel war! Inmitten seiner Irrwege, in den Tiefen seiner wildesten Winkel, gab es einen begehbaren und blumenbekränzten Pfad, auf dem sie sicher und vergnügt wandeln könnten. Ihr Weg würde wie die Passage durch das Rote Meer sein, das sie trockenen Fußes durchqueren mochten, obschon eine Mauer der Zerstörung zu beiden Seiten drohte.

Ach! Weshalb obliegt es mir, die unglückselige Verirrung dieses unvergleichlichen Exemplars der Menschheit aufzuzeichnen? Was liegt nur in unserer Natur, das uns immer wieder zu Schmerz und Elend drängt? Wir sind nicht zum Vergnügen geformt; und sosehr wir auch auf den Genuss angenehmer Empfindungen eingestimmt sein mögen, so ist doch die Enttäuschung der nie versagende Steuermann unserer Lebensbarke, der uns unbarmherzig in die Untiefen lenkt. Wer wäre besser als dieser begabte Jüngling dazu geeignet gewesen, zu lieben und wiedergeliebt zu werden und die grenzenlose Freude einer untadeligen Liebe zu ernten? Hätte sein Herz nur ein paar Jahre länger geschlafen, wäre er vielleicht verschont worden; doch es erwachte in seiner Jugend; es hatte Kraft, aber kein Wissen; und es wurde ebenso abgetötet, wie eine zu früh austreibende Knospe im beißenden Frost erfriert.

Ich warf Evadne weder Heuchelei noch den Wunsch vor, ihren Verehrer zu täuschen; doch der erste Brief, den ich von ihr sah, überzeugte mich, dass sie ihn nicht liebte. Er war mit Eleganz geschrieben und dafür, dass sie eine Ausländerin war, mit einem guten Sprachvermögen. Die Handschrift selbst war ausgesprochen schön, es war etwas in jenem Papier und in seinen Falten, das sogar ich, der ich nicht liebte und in solchen Dingen unerfahren war, als geschmackvoll erkennen konnte. Es lag viel Freundlichkeit, Dankbarkeit und Anmut in ihrem Ausdruck, aber keine Liebe. Evadne war zwei Jahre älter als Adrian – und wer liebte jemals mit achtzehn einen so viel Jüngeren? Ich verglich ihre milden Briefe mit den flammenden Adrians. Seine Seele schien sich in die Worte zu verwandeln, die er schrieb, und sie atmeten auf dem Papier und übertrugen einen Teil des liebeserfüllten Inneren, das sein Leben war. Das bloße Schreiben genügte bereits, um ihn zu erschöpfen, und er vergoss wegen der Überfülle von Gefühlen, die es in seinem Herzen erweckte, Tränen darüber.

Adrians Seele spiegelte sich in seinem Antlitz wider, und Verschleierung oder Täuschung standen der furchtlosen Offenheit seiner Natur entgegen. Evadne bat ihn ernstlich darum, dass die Geschichte ihrer Liebe nicht seiner Mutter offenbart werden möge; und nachdem er eine Weile mit sich gerungen hatte, gab er ihrem Wunsch nach. Ein eitles Zugeständnis, denn sein Verhalten verriet sein Geheimnis bald den scharfen Augen der einstigen Königin. Mit derselben Vorsicht, die ihr ganzes Verhalten kennzeichnete, verbarg sie ihre Entdeckung, beeilte sich jedoch, ihren Sohn aus der Umgebung der schönen Griechin zu entfernen. Er wurde nach Cumberland geschickt, doch der von Evadne erdachte Plan der Korrespondenz zwischen den Liebenden wurde wirksam vor ihr verborgen. So verband die zum Zwecke der Trennung veranlasste Abwesenheit Adrians sie fester als je zuvor. Zu mir sprach er unaufhörlich von seiner geliebten Griechin. Ihr Heimatland, seine alte Geschichte, seine jüngeren denkwürdigen Kämpfe existierten nur, um an ihrem Ruhm und ihrer Größe teilzuhaben. Er fügte sich darein, von ihr entfernt zu sein, weil sie diese Unterwerfung von ihm verlangte; doch ohne ihre Beeinflussung hätte er seine Zuneigung vor ganz England erklärt und sich mit unerschütterlicher Festigkeit dem Widerstand seiner Mutter entgegengestellt. Evadnes weibliche Klugheit merkte wohl, wie nutzlos jede Behauptung seiner Entschlusskraft sein würde, ehe zusätzliche Jahre seiner Macht mehr Gewicht verliehen. Vielleicht hegte sie außerdem eine gewisse Abneigung, sich vor aller Welt an jemanden zu binden, den sie nicht liebte – zumindest nicht mit jener leidenschaftlichen Begeisterung liebte, die sie, wie ihr Herz ihr versprach, eines Tages einem anderen gegenüber empfinden könnte. Er befolgte ihre Anordnungen und verbrachte ein Jahr im Exil in Cumberland.

Der letzte Mensch

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