Читать книгу Es ist alles ganz einfach - Massimiiano Allegri - Страница 8
ОглавлениеRegel Nr.
1
„Wenn man uns weniger beigebracht hätte, hätten wir mehr gelernt.“
Da ich kein Lehrer bin, fange ich bei der Erläuterung meiner ersten Regel lieber mit einem Erlebnis an, das ich vor einiger Zeit hatte. Ein Freund schickte mir ein Foto. Darauf war eine Mauer abgebildet, auf der folgendes Graffiti zu lesen war: „Vielleicht, wenn man uns weniger beigebracht hätte, hätten wir mehr gelernt.“
Nun, mal abgesehen von der etwas seltsamen Wortstellung, habe ich mich sofort gefragt, was diese Nachricht bedeuten sollte. Unwillkürlich kam mir in den Sinn, dass ich zwei Wochen zuvor beschlossen hatte, bei einem Freundschaftsspiel gegen die U23-Auswahlmannschaft der Bianconeri (der „Weißschwarzen“, Juventus Turin) eine „atypische“ Formation der Juventus Turin einzusetzen. „Atypisch“ deswegen, weil ich die Spieler einfach so – ohne jegliche Anweisung zu Schemata oder Taktik – aufs Spielfeld geschickt hatte.
Meine Spieler hatten in der ersten Viertelstunde offensichtlich große Schwierigkeiten, doch ich sah dem Spiel von der Trainerbank aus zu, ohne es in irgendeiner Weise zu kommentieren. In der Zwischenzeit war mir aufgefallen, dass mein junger Verteidiger Daniele Rugani – eigentlich schon drei bis vier Minuten nach Spielbeginn – begonnen hatte, Tipps zu geben. Es war eine spontane Reaktion gewesen, der Versuch, ein konstruktives Spiel entstehen zu lassen. Er hatte also meiner Meinung nach begonnen, seinen Verstand eigenständig einzusetzen. In meinen Augen war das etwas sehr Positives. Denn, auch wenn man die Spieler sicherlich nicht sich selbst überlassen darf, so sollte man sie andererseits auf keinen Fall in allzu starre didaktische Schemata hineinzwängen, da diese sie ihrer Kreativität berauben würden.
Dieser Ansatz gilt sowohl für Kinder als auch für erfahrenere Spieler wie die meinen der 1. Mannschaft von Juventus Turin: Man muss sie formen und aufbauen, aber ihnen auch beibringen, eigenständig zu denken. Darüber will ich mich nun nicht weiter auslassen, denn wir werden im Zusammenhang mit der nächsten Regel auf dieses Thema zurückkommen. An dieser Stelle muss jedoch unbedingt betont werden, wie wichtig die Initiative der einzelnen Spieler sein kann, wenn sie über geistige Freiheit verfügen, also ohne, dass ein Trainer sie in allem, was man tun kann oder muss, unterrichtet hat. Der Lehrberuf ist meines Erachtens jedenfalls einer der schwierigsten Berufe der Welt. Davon können Eltern – als erste „Dozenten“ ihrer Kinder –, aber auch Lehrer, die in der Schule anstelle von Papa und Mama Erziehungsarbeit leisten oder sie zumindest darin ergänzen, ein Lied singen. Im Sportumfeld würde ich das Unterrichten an sich nicht als Beruf bezeichnen, sondern eher von einer „Aufgabe“ sprechen, da wir im Leben alle früher oder später einmal dazu aufgefordert sind, etwas zu unterrichten.
Natürlich gibt es hierzu eine Vielzahl an didaktischen Theorien, von denen jede in gewisser Weise ihren Wert hat. Ich habe meine eigene Theorie und möchte sie anhand eines praktischen Beispiels erläutern: Nehmen wir einmal an, ich müsste einem kleinen Kind beibringen, wie man sich die Schuhe bindet. Es ist ein einfacher, aber wichtiger Handgriff, vor allem, weil man ihn immer wieder brauchen und er im Leben nützlich sein wird. Ein Kind kann diesen Handgriff auf vielerlei Arten erlernen, aber ich habe die Vorstellung, dass ich ihm erst einmal zeigen muss, wie es geht oder wie es mir beigebracht wurde. Und erst danach ist es sinnvoll, dass man es selbst machen lässt, auch wenn man ganz genau weiß, dass das Kind es anfangs auch falsch machen könnte. Natürlich muss man korrigierend eingreifen, wenn das Kind etwas offensichtlich nicht verstanden hat, doch ohne es in seinen kreativen Fähigkeiten – beispielsweise durch Angaben zur Größe der Schleife, des Hasenohrs oder wie auch immer man es nennen will – einzuschränken. Mit anderen Worten: Wenn wir dem Kind zu viele Informationen auf einmal geben, besteht letztlich die Gefahr, dass es durcheinanderkommt. Wenn es jedoch selbst die Erfahrung macht, dass die Schleife nach ein paar Schritten aufgeht, wird es verstehen, dass es daran lag, dass es diese nicht fest genug gebunden hatte. Dann werde ich dem Kind sagen, ohne mit ihm zu schimpfen, dass es den Knoten noch einmal machen und fester zuziehen solle, ich werde aber weder direkt eingreifen noch die Aktion ein weiteres Mal zeigen. Das Ergebnis wird dann vielleicht nicht so hübsch aussehen, aber die Schleife wird halten.
Wenn das Kind begriffen hat, dass ein schön aussehender Knoten, der aber nicht fest genug ist, weniger funktional ist als ein schiefer, hässlicher Knoten, der jedoch beim Laufen und Rennen hält, haben wir unser Ziel erreicht. Die Ästhetik wird das Kind schon noch entdecken, aber erst später, wenn es die Schleife an meinen Schuhen sieht oder wenn es seine größeren Spielkameraden nachahmt, vielleicht sogar, wenn sie sich gemeinsam vor einem Fußballspiel umziehen.
Ich habe das Beispiel des Schuhebindens gewählt, weil es mich immer schon extrem gestört hat, dass man alles auf das Lehren reduziert, ohne dem Lernen und Ausprobieren den nötigen Raum einzuräumen. Das kann und darf auch auf das Fußballspiel angewandt werden: In einer Wirklichkeit, in der wir Geisel der Wissenschaft sind und mit Zahlen (die, Gott bewahre, in den allermeisten Fällen auch nützlich sind) bombardiert werden, vergisst man oft, dass es immer die Technik (bzw. das Spiel) des Einzelnen ist, die einen Raum, eine Gelegenheit, ein Tor erfindet und erschafft. Sie ist es, die einen echten qualitativen Unterschied macht.
Wenn man sich mit Standardisierungen, die dem Fußball übergestülpt werden, zufriedengibt, stellt das meiner Meinung nach eine klare Einschränkung, wenn nicht sogar eine echte Niederlage dar. Wir werden dieses Thema auch im Zusammenhang mit einer anderen Regel besprechen, die uns meines Erachtens sogar die Notwendigkeit auferlegt, Einfachheit zu trainieren, ohne sie in ein System zu übernehmen, das sie opfert.
Bevor ich das Kapitel zu Regel Nr. 1 beende, kehre ich noch einmal zum Vergleich zwischen dem Kind, das lernt, sich die Schuhe zu binden, und dem Spieler, der in seiner Einfachheit trainiert ist, zurück. Im Laufe meines Lebens habe ich die Hindernisse, die sich mir in den Weg stellten, immer voll und ganz akzeptiert – ohne Angst zu bekommen und ohne im ersten Lösungsansatz zu versuchen, sie zu umgehen. Heute, nach so vielen Jahren, hat sich meine Einstellung sogar noch weiter verändert: Ich freue mich inzwischen manchmal sogar darüber, wenn ich vor einer Schwierigkeit stehe.
Warum, fragt ihr euch vielleicht? Ganz einfach: weil ich durch ein Hindernis wachsen, mich vervollkommnen, besser werden kann. Wieso sollte ein Kind je lernen, sich die Schuhe zu binden, wenn es niemals vor dem Problem stand, dass es seine Schuhe nicht verlieren wollte? Wenn ein Kind nie Schuhe mit Schnürsenkeln angezogen und somit dieses Hindernis umgangen hätte, hätte es niemals erfahren, was es bedeutet, sich die Schuhe selbst binden zu müssen. Die wichtigste Schlussfolgerung könnte also folgende sein: Ein Hindernis dient mir dazu, mich neuen Möglichkeiten zu öffnen und andere Konzepte und Lösungen zu erlernen.
Ein Hindernis dient mir dazu, mich neuen Möglichkeiten zu öffnen und andere Konzepte und Lösungen zu erlernen.
Wie ist es nun im Fußball? Habt ihr euch je gefragt, warum einige Mannschaften nach einem Platzverweis besser spielen? Die rote Karte für einen unserer Mitspieler stellt zweifellos ein Hindernis dar, ohne das wir jedoch nicht die leiseste Ahnung hätten, wie man mit zehn gegen elf spielt (und das auch noch gut). Möglicherweise hat ein Spieler noch nicht gelernt, was man in diesem Fall tun muss, aber genau dann, in dieser schwierigen Lage, wird ein reaktionsfähiger Spieler besser als sein Kollege spielen, der normalerweise zu jedem Detail Anweisungen bekommt, auch wenn es auf Kosten seiner persönlichen Kreativität geht.
Kommen wir nun auf die ideale Woche eines Trainers zu sprechen. Vermutlich wird das, was ich vorhin beispielhaft mit den Schnürsenkeln dargestellt habe, das erste Training nach einem Meisterschaftsspiel betreffen. Tatsächlich muss ein Fußballtrainer in eben dieser Trainingseinheit mit den ihm zur Verfügung stehenden Spielern vorliebnehmen, während er die möglicherweise verletzten Spieler oder die Spieler, die sich verausgabt haben und sich deshalb beim nächsten Einsatz ausruhen müssen, auf die Ersatzbank schickt. Dies wird ein Montag sein, wenn internationale Spiele oder andere Wettkämpfe auf dem Programm stehen, oder ein Dienstag, wenn es sich um eine Woche handelt, die zwischen zwei normalen Meisterschaftsspielen liegt. Montage oder Dienstage sind, was die Taktik betrifft, eher entspannte Tage. Über Taktik hat man vielleicht bei der Analyse der Videoaufnahme gesprochen, aber sobald man wieder auf dem Spielfeld steht, verlässt man sich auf die Kreativität des anderen. Ein jeder hat also seine Schuhe gebunden, so gut er es eben kann.
Was andere über mich sagen
Carletto Mazzone
„Ich habe Max trainiert, als er noch beim SSC Neapel Spieler war. Er war sympathisch und beliebt, auch wenn er sich wirklich nicht überarbeitet hat. Er bemühte sich, neapolitanischen Dialekt zu sprechen. Er spielte wenig, aber er war in jedem Fall ein guter Spieler. Er zielte auf Ruhm ab, doch den wollte er nicht auf dem Spielfeld, sondern von der Trainerbank aus erreichen. Er wollte siegen und war technisch sehr gut, aber nur dann, wenn es ihm in den Kram passte.“
Alex Ferguson
„Er ist ein außergewöhnlicher Trainer, der aus Juventus Turin eine solide Mannschaft gemacht hat.“