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Kapitel 2 Sprechende Gefäße: die Anfänge Pompejis

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Mi mamarces tetanas – „ich [gehöre] Mamarce Tetana“: Verschiedene Gefäße aus den ältesten Heiligtümern des Mittelmeerraums (8. bis 5. Jahrhundert v. Chr.) haben Aufschriften, in denen sie in der ersten Person zum Betrachter „sprechen“.1 So auch einzelne Exemplare in einem weiteren Heiligtum Pompejis, das wenige Hundert Meter von der südlichen Stadtgrenze entfernt liegt (Abb. 26 und 27). Man benannte es nach den Besitzern des Grundstücks, auf dem es 1960 entdeckt wurde, und spricht seither vom Heiligtum des Fondo Iozzino. Der heilige Bezirk liegt auf einer etwa zwanzig Meter hohen Hügelkuppe, die den Blick auf das Sarno-Tal freigibt. Er war umgeben von einer einfachen, rechteckigen Umfassungsmauer aus einem lokalen Travertin und Pappamonte-Blöcken, einem lokalen Tuffstein. Im Innern lagen unter freiem Himmel Altäre und größere, den Opfern und Gaben an die Gottheit vorbehaltene Areale. Die Kultstätte war eingebettet in eine suburbane, ländliche Landschaft, die – so ergab die Auswertung zahlreicher Holzkohlereste – unter anderem von Eichen- und Buchenwäldern geprägt war, und grenzte an eine Straße, die von der Stadt Richtung Hafen führte.

Die Ausgrabung des Bezirks hatte als Notgrabung infolge von Bauarbeiten für ein Wohnhaus im modernen Pompeji begonnen. Im Jahr 1990 nahm man die Untersuchungen wieder auf, um raubgräberischen Aktivitäten entgegenzuwirken. Von 2014 bis heute wurden die Grabungsarbeiten schließlich systematisch durchgeführt: Sie brachten einen der Orte ans Licht, wie sie für unser Verständnis der frühesten Phasen Pompejis – und nicht nur Pompejis – prägend sind (vgl. zum Beispiel den Fund in Abb. 28)2.

In diesem Heiligtum kamen seit dem späten 7. Jahrhundert v. Chr. regelmäßig Menschen aus Pompeji (und wohl auch von den Häfen Kampaniens, wo sie angelegt hatten, um Handel zu treiben) zusammen, um einer Gottheit Objekte und Speiseopfer darzubringen. Auf einem eleganten Kantharos gab eine Expertenhand in etruskischer Sprache dem unbelebten Objekt das Wort. Bei der Trinkschale handelt es sich um ein Bucchero-Gefäß, also jene typisch etruskische Keramikgattung, die sich durch eine schwarz glänzende Oberfläche auszeichnet – man erlangte sie durch einen geschickten Brennprozess unter Sauerstoffreduktion (Abb. 29 und 30)3.

Abb. 26 Die Karte mit Höhenlinien zeigt die günstige Lage des Heiligtums des Fondo Iozzino außerhalb der Stadt: auf einer Hügelkuppe unweit des Meeres. Wer das Areal heute aufsucht, wird die herausgehobene Lage nicht mehr als solche erkennen können, denn das Gebiet wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts zugebaut. (Plan: L. Ferro)

Dieses sprechende Gefäß mutet magisch an, nennt es doch einen Protagonisten einer rituellen Opferhandlung: „Ich gehöre Mamarce Tetana.“ Der Name gibt uns Hinweise auf die Biografie des Opfernden: Marmarce ist ein Vorname und kommt in noch zwei weiteren Inschriften des Fondo Iozzino vor. Vor allem aber handelt es sich um einen der im antiken Etrurien, dem nördlichen Latium und Umbrien, verbreitetsten Vornamen. Bekannt ist er aus Fundstätten in Veji, Cerveteri, Tarquinia und insbesondere aus Orvieto, dem antiken Volsinii. Bereits vor der Entdeckung der pompejanischen Inschriften war er aus anderen Grabungsplätzen in Kampanien bekannt gewesen, wohin er mit etruskischen Einwanderern gelangt war.4 Der Gentilname Tentana wiederum leitet sich von einem Vornamen ab, der der etruskischen Bezeichnung für „Großvater mütterlicherseits“ entlehnt ist. In Kampanien war er bis dato nicht bekannt gewesen. In Etrurien war er als Vorname in Veji bezeugt und, analog zu unserem pompejanischen Beispiel, als Gentilname in Nordetrurien.5 Wir haben demnach einen jener zusammengesetzten Familiennamen vor uns, die wohl in dem Moment entwickelt wurden, als der Stammvater eines Geschlechts Teil einer bürgerlichen Gemeinschaft wurde.6 Um einen zweigliedrigen Namen zu erzielen, wie er für den Status als Vollbürger notwendig war, hatte die betreffende Person ihren ursprünglichen Vornamen in einen Gentilnamen verwandelt und einen neuen Vornamen gewählt. Im vorliegenden Fall wird der Gentilname Tetana demnach aus dem ersten, geerbten Individualnamen eines Vorfahren unseres Protagonisten gebildet worden sein, als er (möglicherweise in der neuen Stadtgemeinschaft Pompejis) zum Vollbürger wurde.

Abb. 27 Blick auf den östlichen Teil der antiken Stadt und das moderne Pompeji.

Abb. 28 Bei Ausgrabungen in den 1960er-Jahren entdeckte man im Fondo Iozzino drei Terrakottastatuen weiblicher Gottheiten. Sie sind heute im Antiquarium in Pompeji ausgestellt. (Archiv PAP)

Abb. 29 Bucchero-Gefäße aus dem Heiligtum des Fondo Iozzino. Es handelt sich um eine Keramikproduktion etruskischer Tradition, deren dunkle Farbe dank eines reduzierten Brands (das heißt ohne Sauerstoff) im Töpferofen erzielt wurde. (Archiv PAP)

Abb. 30 Umzeichnung eines Kantharos, einer typischen Trinkgefäß-Form innerhalb der Bucchero-Keramik. Das Stück ist eines der sogenannten „sprechenden Gefäße“, denn nach dem Brand wurden Inschriften eingeritzt. (Umzeichnung: C. Pellegrino)

Versuchen wir also, den Namensträger näher kennenzulernen. Mamarce Tetana war ein Mitglied der pompejanischen Gesellschaft. Mit ein wenig Fantasie können wir uns vorstellen, dass er von einem nicht-freien Vorfahren abstammte, der zum Zeitpunkt seiner Übersiedlung und Einbürgerung in die Stadt Pompeji das Vollbürgerrecht erworben hatte (mit Übernahme des geerbten Gentilnamens). Mobilität ermöglicht häufig, damals wie heute, die Gelegenheit zum sozialen Aufstieg.

Das Objekt, das Mamarce in dem pompejanischen Heiligtum darbrachte, kann uns also mitteilen, wer sein Eigentümer war – oder besser: welchen Hintergrund er hatte. Gleichzeitig informiert es uns über sich selbst. Durch die Inschrift bekräftigte unser Protagonist nicht nur sein Eigentumsrecht am Objekt, sondern er hinterließ auch ein dauerhaftes Pfand seiner Anwesenheit im Heiligtum, zum zukünftigen Andenken. Es ist, als reduzierte das „ich“ der Inschrift den eigentlichen Besitzer auf eine Stimme, die für das Objekt spricht: Der Text wurde eingeritzt und während der rituellen Handlung deklamiert (und später von den Besuchern des Heiligtums gelesen); er spricht aber nicht für ein beseeltes Objekt, im Sinne etwa einer ursprünglichen, animistischen Vorstellungswelt, sondern zeigt ganz einfach das auf, was der Autor des Textes übermitteln wollte. Das Objekt an sich bleibt stumm. Eingeritzt wurde eine Abfolge der phonetischen Laute – und sie war es, die den Diskurs in demjenigen, der las und gleichzeitig deklamierte, ergaben. Tatsächlich wurde beim Ritual mit lauter Stimme rezitiert, es gab keinen inneren Dialog mit der Gottheit. Der Lesende wurde zum wesentlichen (stimmlichen) Instrument, das dem geschriebenen Text die eigentliche Kommunikation ermöglichte. Dabei wurde das Eigentumsrecht der genannten Person am Gefäß und an seinem Inhalt, nämlich der Flüssigkeit, die am Beginn der rituellen Handlung noch da, dann aber, am Ende der Geschehens, weg war, bezeugt.7

Mamarce war nur einer der vielen Menschen, die zwischen der Mitte und dem Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. in das pompejanische Heiligtum kamen, um solche „sprechenden Objekte“ zu weihen. Sehen wir uns einen weiteren beschrifteten Kantharos an: Der Schriftzug wurde auf dem inneren Rand des Standfußes eingeritzt, üblicherweise nach dem Brennvorgang (Abb. 31 und 32). Das Gefäß erzählt von einer anderen Person. Der Name des Weihenden ist in der Besitzformel „Dem Leθe Velχsna [gehöre] ich.“ angegeben. Auch wenn die Formel hier abweicht, das Resultat bleibt das gleiche: Das Gefäß, das bezeugt, dem Leθe Velχsna zu gehören, sprach durch die Stimme des während der rituellen Handlung Deklamierenden zur Gottheit. Es sprach aber auch zu denen, die der Zeremonie beiwohnten, und zu allen, die den Text zu einem späteren Zeitpunkt lasen. Die Kommunikation mit der Gottheit nahm häufig einen solchen dualen Charakter an. Denn sie richtete sich nicht nur an die Gottheit selbst, sondern auch an die übrige Glaubensgemeinschaft und wurde (erst) dank dieser zwischenmenschlichen Funktion auf religiöser und sozialer Ebene bedeutsam.8

Wer war nun die Person, die der Gottheit den Inhalt des Gefäßes dargebracht und das Gefäß am Ort der rituellen Handlung niedergelegt hatte? Wer war Leθe Velχsna, der den zeremoniellen Akt ausführte und mittels der eingeritzten Inschrift zu erreichen suchte, dass das Gefäß zusammen mit seinem Namen auch diesen bedeutenden Moment des „Zwiegesprächs“ mit der Gottheit dauerhaft für die Erinnerung bewahrte? Der Vorname Leθe ist im Heiligtum des Fondo Iozzino noch in einem zweiten Beispiel (mi leθ[- - -]), sonst bisher aber in keinem weiteren Fundort in Kampanien belegt. Bekannt ist dieser Name allerdings – und das überrascht uns kaum – aus dem Etrurien des 5. Jahrhunderts v. Chr. Dort findet man ihn sowohl als Vor- wie auch in seiner Abwandlung als Gentilname üblicherweise in Verbindung mit servilen, untergeordneten Gesellschaftsklassen.9 Auch der Familienname Velχsna ist typisch etruskisch. Bezeugt ist er in Tarquinia (eingeritzt in eine Wand der Tomba Cardarelli), in Veji (eingeritzt in ein der Minerva im Heiligtum von Portonaccio geweihtes Kästchen) sowie im Binnenland Etruriens, in Perugia und Chiusi.10 Auch Leθe Velχsna könnte demnach jemand gewesen sein, dessen sozialer Aufstieg (bzw. eher sogar der Aufstieg seiner Familie) mit der Eingliederung in die pompejanische Bürgerschaft zusammenfiel. Wenn dem so wäre, erwiese sich Pompeji als ein Ort der sozialen Durchlässigkeit und damit als attraktiv für verschiedene Menschen: Migration, der Wechsel von einem Standort zum anderen, könnte auch in dem letztgenannten Beispiel als eine Art „gesellschaftliches Sprungbrett“ gedient haben.

Sehen wir uns noch eine weitere Inschrift an, in der ein Schreiber der Zeit eine komplexere Nachricht anvertraut hat. Der Schriftzug ist diesmal außen an einer Trinkschale, etwas unterhalb des Randes, angebracht worden (Abb. 33): mi manile θavhana ei minipi ca[pi---]. Der Weihende ist hier verkürzt nur mit dem Gentilnamen (Manile) genannt. Daneben steht der Gattungsname des gestifteten Objekts (θavhana: thafna = Trinkbecher). Darauf folgt die an den Betrachter gerichtete Aufforderung, sich nicht des Gefäßes zu bemächtigen. Solche Formeln kommen in Heiligtümern häufig vor: Objekte erhielten durch ihre Weihung an die Götter eine sakrale Aura, und ein Tabu verbot die erneute Verwendung. Derjenige, der den Text in das Gefäß eingeritzt hatte, wollte demnach bekräftigen: „Ich bin die Schale des Manile; niemand soll mich nehmen.“ Mit einer solchen Inschrift verwies man aber nicht nur auf das Eigentumsrecht – das dauerhaft und unabhängig von der Präsenz des Gefäßes im Heiligtum bestehen blieb – und somit auf die Erinnerung an den Besitzer, sondern man brachte auch seine Sorge um den künftigen Verbleib des Objekts zum Ausdruck.11 Unabhängig davon, ob hierbei ein Fluch explizit formuliert ist oder nicht: Ein solcher Warnhinweis unterstreicht die Sakralität des sprechenden Gefäßes und verdeutlicht zugleich den speziellen Handlungsrahmen, in dem es verwendet wurde: Es war ein bedeutender Moment der Kontaktaufnahme mit der Gottheit.

Solche in die Gefäße eingeritzten Inschriften kamen während der neuen Ausgrabungen im Fondo Iozzino zahlreich ans Licht: knapp siebzig – bislang waren fünfzehn etruskische Vaseninschriften aus Pompeji bekannt gewesen (die Vesuvstadt steht, dank der neuesten Entdeckungen, somit an erster Stelle der Fundstätten außerhalb Etruriens, die etruskische Inschriften überliefern). Dazu kommt noch die in etwa doppelte Anzahl an Ritzzeichen, darunter Buchstaben (insbesondere a und χ, also die Anfangs- und Endzeichen des Alphabets) und andere Zeichen wie Kreuze, mit oder ohne Arme, die in einem Dreizack ausgehen, Sterne, Bäumchen und fünfzackige Sterne; sie wurden häufig außen, in der Unterseite des Gefäßes, eingeritzt. Diese Markierungen, deren Bedeutung uns oft verborgen bleibt, müssen wohl dazu gedient haben, das Gefäß als sakrales Behältnis zu „kennzeichnen“, findet man sie doch nur bei denjenigen Gefäßen, die eine prononcierte rituelle Wertigkeit aufweisen und damit einen weiteren Kommunikationskanal mit dem Göttlichen verdinglichen.12

Abb. 31 Die in den Votivgegenstand eingeritzten Inschriften konnten während der rituellen Handlung deklamiert und (später) von denjenigen gelesen werden, die das Heiligtum besuchten. Die Informationen, die diese Inschriften beinhalten, geben damit zugleich etwas über diejenigen preis, die sie gewidmet haben, wie auch über die Art und Weise, in der das Ritual gefeiert wurde. (Archiv PAP)

Abb. 32 „Dem Leθe Velχsna [gehöre] ich.“ Diese Formel findet sich eingraviert auf dem Standfuß eines der dem Heiligtum gestifteten Gefäße. Der Vorname Leθe, der nur aus Etrurien bekannt ist, ist mit Angehörigen der unteren sozialen Schichten in Verbindung zu bringen, wie dies mit einer gewissen Häufigkeit auch für andere Objekte im Fundmaterial möglich ist. Angehörige der Unterschicht, die in ein anderes, neu gegründetes Gebiet umsiedelten, strebten wahrscheinlich nach neuen Sicherheiten und einer neuen Perspektive des sozialen Aufstiegs. (Umzeichnung: C. Pellegrino)

Abb. 33 Die Inschrift folgt einer auf Votivgaben häufig wiederkehrenden Formel: „Ich bin die Schale des Manile; niemand soll mich nehmen.“ Die Opfergabe, einmal im Heiligtum deponiert, wurde zum geweihten Objekt; Diebstahl und Verlagerung konnten bestraft werden. Manchmal wurden über Zuwiderhandelnde wahrhaftige Flüche gesprochen. (Archiv PAP)

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