Читать книгу Pompeji - Massimo Osanna - Страница 6

Einleitung

Оглавление

[…] aber man tanzt, man speist in Restaurants, und die Frauen erfinden ‚Ambrine‘ für ihre Haut. Die Feste füllen die Tage aus, die vielleicht, wenn die Deutschen noch weiter vorrücken, die letzten unseres Pompeji sind. Dadurch aber gerade wird diese Zeit davor bewahrt bleiben, nur frivol zu sein. Wofern nämlich die Lava irgendeines deutschen Vesuvs […] unsere Damen bei der Toilette überrascht und eine Geste dadurch, dass sie sie plötzlich fixiert, für die Ewigkeit aufbewahrt, werden die Kinder sich später bilden, indem sie in ihren illustrierten Schulbüchern die Gräfin Molé betrachten, die gerade eine letzte Schminkschicht auflegen wollte, bevor sie sich zu einem Abendessen bei einer ihrer Schwägerinnen begab, oder Sosthène de Guermantes, wie er mit einem vollendeten Pinselstrich seine falschen Brauen nachzog; das wird dann den Stoff für die Vorlesungen künftiger Brichots abgeben; […].

Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit1

In der wiedergefundenen Zeit wendet sich der Baron de Charlus an den Erzähler der Suche nach der verlorenen Zeit Prousts und erinnert eindringlich an den Vesuv und seinen katastrophalen Ausbruch. Es ist eine Vorahnung der (gewissermaßen erhofften) Auswirkungen des Krieges auf Paris: die Verwandlung der im Jahr 1916 vom deutschen Vormarsch bedrohten Stadt in ein zeitgenössisches Pompeji, die einhergeht mit der Auslöschung ihrer ewigen Frivolität. Die Tage in Paris während des Ersten Weltkriegs waren für diejenigen, die in der Stadt, weit weg von der Front, lebten, ausschweifend und ungezügelt. Am Vorabend der Katastrophe erlebt bei Proust die Oberschicht „die letzten Tage [ihres] Pompeji“. Paris als Ort des Lasters erinnert an jene klischeehafte Sicht der antiken Stadt, die sich seit der Veröffentlichung des Romans The Last Days of Pompeii von Bulwer-Lytton im Jahr 1834 (im selben Jahr auch auf Deutsch erschienen unter dem Titel Die letzten Tage Pompejis) – einem Bestseller, der die Rezeption Pompejis als Metapher der Welt in Film und Literatur begründete – in das Bewusstsein der Europäer geschlichen hatte.2

Der Exkurs zu Pompeji setzt sich bei Proust über mehrere Seiten fort. Parallelen werden aufgezeigt. Sie reichen von der Dynamik der Zerstörung (durch die Natur im Fall Pompejis, durch den Menschen im Fall von Paris) über die dekorative Ausstattung des Bordells, in das der Erzähler „rein zufällig“ hineinstolpert, bis hin zu den kellerähnlichen Räumen, in die die Opfer der pompejanischen Katastrophe geflüchtet waren bzw. in die sich die heimlichen Liebhaber in Paris für ihre verbotenen Liebesspiele begaben. Paris wird als ein „Pompeji in Teilansichten“ beschrieben, als könne es außergewöhnliche Zeugnisse für die Zukunft überliefern:

Was für Dokumente wird die künftige Geschichtsschreibung dadurch erhalten, dass giftige Gase gleich denen, die aus dem Vesuv aufstiegen, und Erdstürze wie die, unter denen Pompeji begraben wurde, jene letzten leichtsinnigen Damen vollkommen konservieren, die ihre Bilder und Statuen noch nicht nach Bayonne vorausgeschickt haben! Übrigens, haben wir nicht schon seit einem Jahr wenigstens Teilansichten jenes Pompeji vor Augen, wenn wir Abend für Abend mit ansehen, wie die Leute in die Keller stürzen […], um sich selbst und das, was sie an kostbarer Habe ihr Eigen nennen, dort unten zu verbergen, den Priestern von Herculaneum gleich, die vom Tode in dem Augenblick überrascht wurden, als sie die heiligen Tempelgefäße in Sicherheit bringen wollten? Immer führt die Anhänglichkeit an das Objekt den Untergang des Besitzers herbei.3

Pompeji sei „eine Metapher und eine immerwährende Warnung“.4 Wie bei Baron de Charlus, für den in den Tagen des deutschen Vormarschs im Ersten Weltkrieg das Jahr 79 n. Chr. wiederersteht, so ruft der schicksalhafte Ausbruch – mit allem, was er für die Wiederentdeckung und Konservierung der Antike bedeutete – auch in uns Emotionen hervor und regt zum Nachdenken an. In dieser Evokation von Zeit, die Pompeji innewohnt, ist der Vesuv ein dominantes, allgegenwärtiges Element. Der „sterminator Vesevo“, wie ihn Giacomo Leopardi in seinem Gedicht „La ginestra“ nannte. Der Berg, der sich im Rücken der Stadt erhebt, gestern wie heute, führt ein in die Geschichte des antiken Pompeji, die zur Universalgeschichte wird. Er begleitet uns auf unserem Weg der Wiederentdeckung des Vergangenen.

In allen Verweisen auf Pompeji, in allen Reiseberichten, kann der Vesuv nur als Protagonist auftreten, so auch in einem berühmten, ebenso kurzen wie fulminanten Bericht Jean Cocteaus in einem Brief an seine Mutter. Nach einem Ausflug nach Pompeji zusammen mit Pablo Picasso schreibt er an sie:

Meine Liebe, wir sind wieder in Rom, zurück aus Neapel, von wo aus wir mit dem Wagen nach Pompeji fuhren […]. Der Vesuv stößt alle möglichen Wolken dieser Welt aus. Das Meer ist marineblau. Die Hyazinthen wachsen auf den Bürgersteigen. Pompeji hat mich nicht in Staunen versetzt. Ich war direkt zu Hause. Ich habe tausend Jahre gewartet, ohne mich zu trauen, zurückzukehren und seine armseligen Trümmer anzusehen. Ich umarme Dich, Jean.5

Der drohende Berg, den der Besucher schon aus der Ferne sieht, steht für die Geschichte und für eine Annäherung an die (eigene) Vergangenheit: „Der Vesuv stößt alle möglichen Wolken dieser Welt aus. Das Meer ist marineblau. Die Hyazinthen wachsen auf den Bürgersteigen.“ Heute sind Hyazinthen auf den Bürgersteigen, gestern waren es Asche und Bimsstein. Die Begegnung mit Pompeji wird zu einer Rückkehr zu den eigenen Ursprüngen. Beim Anblick der Ruinen verfällt Cocteau nicht in Erstaunen. Die Begegnung mit der verschütteten Stadt ist vielmehr eine „Wiederentdeckung“, eine (ewige) Rückkehr: „Ich war direkt zu Hause. Ich habe tausend Jahre gewartet, ohne mich zu trauen, zurückzukehren und seine armseligen Trümmer anzusehen.“

Pompeji und sein Vulkan können Emotionen und innere Spannungen an die Oberfläche spülen, die man bereits in seinem Herzen trägt. Für den Marquis de Sade ist „nirgendwo in Europa […] die Natur derart schön, derart überwältigend auch, wie im Umkreis dieser Stadt […]. Die Verwerfungen und Vulkane dieser durch und durch verbrecherischen Natur stürzen die Seele in einen Taumel, der sie zu großen Taten und tumultuarischen Leidenschaften antreibt.“6 Für Madame de Staël müssen „Trägheit und Unwissenheit zusammen mit der vulkanischen Luft, die man in diesem Lande einatmet, […] notwendig bei gereizter Leidenschaft wilden Grimm erzeugen […]. Die Erscheinung des Vesuvs verursacht ein wahres Herzklopfen“.7 Wildheit, Herzklopfen, Ekstase und sogar Verbrechen, all dies kann diese außerordentliche Kombination von Natur und Geschichte hervorrufen, die der Vulkan hervorgebracht hat.

In diesen Gefühlsregungen, die so unterschiedlich und einander gleichzeitig so ähnlich sind, lässt sich eine Konstante der Beziehung zwischen der Vesuvstadt und uns greifen: jene unentwirrbare Verstrickung von Empfindungen und Emotionen, die die Begegnung mit einem geschichtsträchtigen Naturraum hervorruft.

Fremdheit und Vertrautheit, ein kontinuierliches Schwanken der Wahrnehmung zwischen den gegensätzlichen Polen von Distanz und Nähe: Das war und bleibt die Essenz der Begegnung mit Pompeji. Fremdheit, die aus dem instinktiven Impuls erwächst, unsere Augen von Tod und Zerstörung abzuwenden, oder aus der die Illusion entsteht, dass die Zeit uns besser, weiterentwickelter und zivilisierter gemacht habe; Nähe, die sich aus dieser einzigartigen Gelegenheit ergibt, die uns die Vesuvstadt bietet: in die Materialität des antiken Alltagslebens einzutauchen.

Die Begegnung mit Pompeji lässt einen die Jahrhunderte überspringen und sich der Illusion hingeben, der Fluss der Zeit sei unterbrochen. Die außergewöhnlichen Zeugnisse des Alltagslebens, die man in der Stadt gefunden hat und weiter findet, indem man dem Erdreich Artefakte und Daten abgewinnt, geben einem die einzigartige Gelegenheit, diesen Alltag – ich würde sagen, instinktiv – mit unseren Aktivitäten zu vergleichen, mit den Handlungen unseres täglichen Lebens, unserer Zeit. Als eines unter vielen steht dafür das Zeugnis von Mrs Ashton J. Yates, deren Reisebericht hier exemplarisch für unzählige ähnliche Berichte des 19. und 20. Jahrhunderts zitiert werden soll:

Doch obwohl Tee in Pompeji unbekannt gewesen sein mag, Früchte waren es nicht; für ein Dessert, das man dort gefunden hat, sind Walnüsse und andere Nüsse, Pflaumen oder Trockenpflaumen, Feigen und Korinthen verwendet worden […]. Ich darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, eine ganze Reihe von Ausstechformen zu erwähnen, wie sie heute von Konditoren bei der Herstellung von Feingebäck verwendet werden […]. In der Mitte des Raumes sahen wir einen mit Glas überzogenen Tisch mit Halsketten, Anstecknadeln, Armbändern, Ohrringen usw., die aus farbigen Steinen und fein gearbeitetem Gold bestanden, alles scheinbar die modernste Ausführung […]. Wir haben bei unserem Juwelier nachgesehen, ob einige der Stücke bereits in Arbeit sind, die wir nach der genauen Vorlage der antiken Modelle, die wir gesehen hatten, bestellt hatten.8

Von Streetfood bis Schmuck, von der Vorliebe für Gärten, für die Natur, die in die Häuser vordringt, für die Formen des Wohnens, die Goethe als unbedeutend, Le Corbusier hingegen auf seiner Rückreise aus Athen als nachahmenswertes „mediterranes“ Modell empfand,9 bis hin zu den Laufbrunnen in den Straßen, zur Kanalisation usw., all das bringt Pompeji unserer heutigen Zeit eindrucksvoll nahe: Die tote Stadt wird plötzlich lebendig und zeitgemäß. Man denke beispielsweise auch an die Aktualität der Graffiti Pompejis, ein weiteres Element der „Vertrautheit“, oder an die Fundobjekte, insbesondere an einige so „zeitlose“ Artefakte.

Ein roter Faden auf den folgenden Seiten wird das Thema der „Materialität“ von Objekten sein.10 Die Allgegenwärtigkeit von Objekten in unserer heutigen Zivilisation verweist unmittelbar auf die große Bedeutung der Artefakte, die Pompeji der Gegenwart zurückgegeben hat, indem es sie (teilweise) den Zäsuren und Wandlungen der Zeit entzogen hat. Die Objekte werden zu Erinnerung, zu einer kraftvollen Evokation der Vergangenheit eines jeden von uns, denn sie sind Zeugnisse der Menschenleben, die durch den Vesuvausbruch ausgelöscht wurden: Die Objekte wurden benutzt, bearbeitet, beschädigt und weggeworfen von denjenigen, die der Vulkan später getötet hat, sowie von denen, die entkommen konnten und von denen wir keine anderen Spuren finden.

Der Aspekt der durch eine Katastrophe abrupt unterbrochenen täglichen Geschicke, von denen die Objekte Zeugnis ablegen, ist eine der Erfahrungen, die jeden, der sich mit Pompeji beschäftigt, seit jeher besonders beeindruckt haben. Denn was ist faszinierender und zugleich beunruhigender als das Betrachten, Zählen, Nachdenken über „Dinge“, die die Opfer auf ihrer verzweifelten Flucht mit sich nahmen, vom einfachen Hausschlüssel (im Glauben, wieder nach Hause zurückkehren zu können) über Münzen oder Amulette bis hin zu Wertgegenständen, wie sie noch vor dem Untergang der Stadt versteckt wurden.11 Objekte etwa aus Schiffswracks vergangener Zeiten faszinieren uns – als Bindeglied zu einer längst ausgelöschten Lebenswelt. Sie erzählen etwas über die Menschen, von denen viele keine anderen Spuren in der Geschichte hinterlassen, wie Winfried Georg Sebald so berührend schrieb: „So zeitlos wie dieser verewigte, immer gerade jetzt sich ereignende Augenblick der Errettung waren sie alle, die in dem Bazar von Terezín gestrandeten Zierstücke, Gerätschaften und Andenken, die aufgrund unerforschlicher Zusammenhänge ihre ehemaligen Besitzer überlebt und den Prozeß der Zerstörung überdauert hatten […]“.12

Pompeji hat zwei Leben, hat viele Leben. Welches ist das aktuelle, unser heutiges Pompeji? Es ist fast unmöglich, die Vesuvstadt eindeutig zu definieren, denn wie jede belebte Stadt ist Pompeji ein sich stets veränderndes System aus Beziehungen, ein Ort des Ausprobierens und der Emotionen. Seit seiner Wiederentdeckung war das Pompeji der Ausgrabungen und Restaurierungen immer mit dem imaginären Pompeji verflochten, das in der Kreativität von Schriftstellern, Malern, Bildhauern und Architekten weiterlebt. Wissenschaftler und Künstler ermöglichten es uns – ja ermöglichen es uns noch –, unser eigenes Pompeji zu erleben: jeder mit seiner eigenen Präsenz, seinen Emotionen, seinem Wissen, seiner Neugierde, seinen Wahrnehmungen, seinen Empfindungen.13

Das Buch, das Sie in Händen halten, erzählt von meinem Pompeji: von der Stadt, die in den letzten Jahren dank der unermüdlichen Arbeit eines interdisziplinären Teams von Fachleuten und Mitarbeitern, das ich koordinieren durfte, die (tatsächlichen oder angeblichen) Skandale und die (von der Presse mehr oder weniger emphatisch beschriebenen) Einstürze vergessen ließ. Am Beispiel der neuesten Ausgrabungen und Entdeckungen, bei denen Denkmalschutz und Forschung sowie Forschung und Kommunikation immer Hand in Hand gingen, wird vom langen Lebenszyklus der Stadt (vom 7. vorchristlichen bis zum 1. nachchristlichen Jahrhundert), von ihren Heiligtümern, vom Stadtraum, vom Alltagsleben und von der ungebrochenen Aktivität berichtet, die für jede Stadt im Mittelmeerraum typisch ist. Zum ersten Mal werden die bedeutenden Entdeckungen der letzten Jahre, die die Grabungsarbeiten in der Regio V ans Licht brachten, ausführlich vorgestellt: vom Orion-Mosaik über die Leda mit dem Schwan bis hin zum neuen Stadtviertel. Kapitel 11 ist dem modernen Pompeji gewidmet: von den ersten Ausgrabungen im Zeitalter der Aufklärung bis heute – zum Grande Progetto Pompei.

Dieses Buch ist für all jene gedacht, die sich mit der antiken Stadt auseinandersetzen wollen, die sie lieben und die fasziniert sind von ihren zahlreichen Leben.

Pompeji, 11. Oktober 2019

Pompeji

Подняться наверх