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Die Heiligtümer in der frühen italischen Periode

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Die beiden Heiligtümer überdauerten sowohl die hellenistische Phase Pompejis zwischen dem 4. und dem 1. Jahrhundert v. Chr. als auch die römische Zeit. Es ist anzunehmen, dass die Heiligtümer – anders als in der archaischen Zeit, in der sie wohl auch als Orte des überregionalen Austauschs unter sakralem Schutz dienten – in der samnitischen Zeit als „lokale“, von der indigenen Bevölkerung frequentierte Kultstätten fungierten. Trotz der Zäsur des 5. Jahrhunderts v. Chr. (die auch die Heiligtümer betraf, wie wir aus dem Fehlen von dieser Epoche zugehörigem Fundmaterial schließen können) blieb die Erinnerung an die Sakralität dieser beiden Orte bestehen.34 Die Heiligtümer Pompejis wurden ab dem späten 4. Jahrhundert v. Chr. wieder instand gesetzt, ohne dass es dabei zu einer topografischen Veränderung gekommen wäre: Als die neue Gemeinschaft begann, die Auswirkungen der Krise des 5. Jahrhunderts v. Chr. zu überwinden,35 stellte sie die Stadt erneut unter den Schutz der Gottheiten Apollo und Minerva, und die Kultaktivitäten wurden wieder aufgenommen.

Abb. 9 In der Grabungskampagne von 2017 wurden zwei natürliche Hohlräume an der Südseite des Heiligtums entdeckt. Diese grottenartigen Öffnungen wurden zu rituellen Zwecken genutzt. Sie waren über in den Fels gehauene Stufen zugänglich. Um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. wurden sie aufgegeben und mit Votivmaterial sowie Bauschutt verfüllt.

Die Architektur des Minervatempels wurde erneuert. Die Arbeiten betrafen das Dach und wohl auch das aufgehende Mauerwerk. Die Zuschreibung des Heiligtums an Minerva ist in dieser Phase durch zahlreiche Befunde gestützt (Abb. 10). Das Votivmaterial und die Bauornamentik der samnitischen Zeit zeigen wiederholt das Bildnis der Göttin, häufig zusammen mit Herkules. Das göttliche Paar erscheint auf Antefixen, die die Öffnungen der Deckziegel an der untersten Dachziegellage des neuen Tempels verschlossen: und zwar im Wechsel das behelmte Haupt der Minerva und der Heros mit dem Löwenfell. Dieses Dekorationsschema ist auch aus anderen Stätten Kampaniens – Capua, Cumae, Pithecusae, Stabiae, Punta della Campanella und Fratte – bekannt.36 Im Fall von Pompeji kann der Aufbau des Dekorationssystems rekonstruiert werden, von den Rankensimen mit dem Haupt der Minerva über einen Anthemienfries mit Sphingen bis zu den Antefixen und Traufziegeln.37 In Cumae scheint das System sehr bald eingeführt worden zu sein, zeitlich nah an der Eroberung Kampaniens.

Die Ikonografie geht auf ältere Vorläufer zurück und ist sowohl aus dem Rom der Tarquinier als auch aus Capua bekannt. Dort ist auf spätarchaischen Verkleidungsplatten aus Terrakotta einer weiblichen Gottheit ein bartloser Jüngling mit Löwenfell, Herkules, beiseitegestellt, wie man es auch für die ältere Phase des pompejanischen Tempels annehmen kann. Diese Verbindung ist dann im Kampanien des 4. Jahrhunderts v. Chr, ausgehend von Cumae, überall am Golf von Neapel belegt, wobei sich die Ikonografie der trojanischen Athena durchgesetzt hat, die Rom, der neuen geopolitischen Protagonistin Italiens, in seiner Propaganda lieb und teuer war. Es handelt sich um ein Repertoire, das eine neue Identität zu markieren scheint, es betont gewissermaßen den Unterschied zwischen den neuen italischen Generationen und den althergebrachten Strukturen.

Es spiegelt sich in diesem neuen System eine spezifisch kampanische Identität, und in einigen Fällen setzte man eine Bildsprache ein, die im Kontrast stand zu derjenigen der römischen Macht. Die Göttin erscheint auch auf einer Metope aus Tuff, einem seltenen Beispiel italischer Bauornamentik (Abb. 11). Diese Metope muss Teil einer Serie gewesen sein, von der bisher keine weiteren Stücke bekannt sind. Dargestellt ist die bewaffnete Göttin zusammen mit zwei weiteren Figuren. Womöglich sehen wir hier eine Szene aus dem griechischen Mythos: die Folter des Ixion.38 Es ist eine Geschichte der Auflehnung und des Überschreitens korrekten Verhaltens, und sie lässt an die Initiationspraktiken von jungen Männern und Frauen denken, ihre Überführung in den rechtmäßigen Status der Ehe, womit Aspekte der Verehrung der Göttin innerhalb des sozialen Bedeutungsgeflechts der pompejanischen Kulte anklingen.39

Abb. 10 In der Grabungskampagne 2019 kam ein hervorragend erhaltenes Antefix aus samnitischer Zeit (Ende 4./Anfang 3. Jahrhundert v. Chr.) ans Licht, das oberhalb einer Votiv- und Bauschuttgrube niedergelegt worden war. Für diese Epoche kann der Dekor des Daches rekonstruiert werden: Antefixe mit dem Haupt der Minerva wechselten sich mit solchen, auf denen das Haupt des Herkules dargestellt war, ab. Die Ikonografie Minervas mit phrygischem Helm war in der gesamten Region Kampanien weit verbreitet und somit ein typisches, ja unverwechselbar kampanisches Element.

Abb. 11 Metope aus Tuff. Dargestellt ist der griechische Mythos um Ixion: Der König der Lapithen hat in seinem Heim seinen Schwiegervater ermordet und somit das heilige Gastrecht gebrochen. Doch Zeus vergibt ihm und überführt ihn in den Olymp – wo Ixion aber Hera bedrängt. Zur Strafe wird er an ein sich ewig drehendes Feuerrad gebunden. Es geht in dem Mythos also um eine Figur, die sich den Regeln des zivilen Zusammenlebens nicht unterordnen kann, und diese Geschichte diente der Ermahnung an die Jugend, die im Heiligtum rituell den Übergang ins Erwachsenenalter vollzog. (Archiv PAP.)

Die bewaffnete Göttin, deren Schild neben dem linken Bein auf dem Boden abgestellt ist und deren im Opfergestus ausgestreckte Hand eine Patera (also eine flache Trinkschale, die für rituelle Zwecke verwendet wurde) hält, ist auch in einer Reihe von gleichzeitigen Statuetten aus anderen Heiligtümern der näheren Umgebung bezeugt.40 Von der Umgebung von Nuceria über Pompeji und Stabiae, San Francesco und den Pass bei Alberi bis in die Senke bei Sorrent und bis hin zur südlichsten Spitze der sorrentinischen Halbinsel, der Punta Campanella mit seinem Athenaion (für das ein weiteres, dem des pompejanischen Minervatempels vergleichbares Dach dokumentiert ist), begegnet man dieser Ikonografie immer wieder.

Wenn auch der Tempel renoviert wurde, so blieb die umgebende Landschaft unverändert. Sie war weiterhin stark geprägt durch den natürlichen, felsigen Abhang. Erst um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. fand eine umfassende Transformation des Heiligtums statt, die die damit verbundenen Räume und Kulte revolutionierte. Diese Phase der Erneuerung betraf nicht nur das Heiligtum der Athena, sondern die ganze Stadt: Im 2. Jahrhundert v. Chr, der Blütezeit Pompejis, wurden in unmittelbarer Nähe des Foro Triangolare zwei neue heilige Bezirke, der Isistempel und der Tempel des Äskulap,41 gegründet, und die monumentale Sakralarchitektur des Stadtareals wurde insgesamt erneuert, einem neuen Gesamtprogramm folgend. Das Heiligtum des Apollo wurde nun als ein von einer Säulenhalle umgebener Podiumstempel gestaltet (Abb. 12);42 am Forum entstand der große Tempel des Jupiter, der später der kapitolinischen Trias geweiht wurde;43 der Forumsplatz selbst wurde teilweise von Säulen gesäumt und von einer monumentalen Tribüne mit Portikus begrenzt, die auf der Westseite vielleicht terrassenförmig angelegt war und die früheren tabernae (Ladenreihen) ersetzte.

Im Einklang mit diesen beeindruckenden Veränderungen wurde auch das Heiligtum der Minerva beträchtlich erweitert. Nach Osten, in Richtung des Theaters, wurde eine massive Aufschüttung vorgenommen, die die grottenartigen Höhlungen und die natürliche Formation des Felsabhangs verschwinden ließ. Als Substruktionen, um das Gewicht dieser Aufschüttung aufzufangen, dienten zwei unterschiedliche Strukturen: auf höherem Niveau eine große, in Nord-Süd-Richtung verlaufende Zisterne; und auf tieferem Niveau die Cavea des großen Theaters (Abb. 13). Hier wie auch im Heiligtum des Apollo waren Wasserreservoirs offenbar ein wichtiger Bestandteil, denn in beiden Heiligtümern gab es große Regenwasserzisternen (Abb. 14).44

Abb. 12 Das Heiligtum des Apollo und der gesamte Forumsbereich wurden im 2. Jahrhundert v. Chr. umfassend verändert. Es entstanden ein Podiumstempel und eine umgebende Portikus.

Am Foro Triangolare wurden mehrere lange, schmale und mit Tonnengewölben gedeckte Zisternen angelegt. Diese Reservoirs dienten dem Heiligtum und rituellen Zwecken, sie konnten aber auch von der Stadtgemeinschaft genutzt werden. Die Heiligtümer in ihrer Funktion als öffentlich zugängliche Räume dienten durch solche Einrichtungen de facto dem Gemeinwohl.

Abb. 13 In der neuen Bauphase des Heiligtums der Minerva wurden ältere Strukturen zum Teil aufgegeben. Das Bauprojekt umfasste die Anlage eines weiten Zisternensystems, dessen Ausdehnung im Laufe der jüngeren Untersuchungen weitgehend erforscht und dokumentiert werden konnte. (Archiv PAP.)

In den verschiedenen Schichten der großen Aufschüttung wurden große Mengen Material gefunden, das als Bauschutt interpretiert werden kann. Darin fanden sich eine hohe Konzentration fragmentarisch erhaltener Baukeramik und andere Überreste des sogenannten „samnitischen“ Dachs des großen Tempels.45 In dieser Phase wurde im Süden eine Begrenzungsmauer errichtet, im Norden hingegen entstanden Strukturen, die funktional auf den Besuch des Heiligtums bezogen werden können: eine Reihe viereckiger Räume. Derjenige unmittelbar südlich des Eingangsportals wurde vollständig dokumentiert. Im Inneren dieses Raumes wurde die ellipsenförmige Öffnung eines Schachts freigelegt, der wiederum durch einen unterirdischen Tunnel mit dem Zisternensystem auf der Ostseite des Heiligtums verbunden ist (Abb. 15).

Abb. 14 Blick in eine der schmalen, tunnelartigen Zisternen mit Tonnengewölbe, die in Verbindung mit der Umgestaltung des Foro Triangolare im 2. Jahrhundert v. Chr. angelegt wurden. Die Wasserreservoirs sind gut erhalten und mit wasserdichtem Verputz ausgekleidet. (Foto: F. Giletti.)

Im Westen wurde das Heiligtum durch eine in Nord-Süd-Richtung verlaufende Mauer in Opus incertum aus Lava begrenzt. Sie schließt im Süden an die Umfassungsmauer, im Norden an die nordwestliche Ecke der Propyläen an. Hier befand sich auf der Höhe des sogenannten Vicolo della Regina Carolina ein Durchgang, der als Nebeneingang des heiligen Bezirks fungierte. Auf der gegenüberliegenden Seite wurde das nun trapezförmige, gegenüber dem Zustand der archaischen Vorzeit völlig veränderte Areal wohl von einer ebenfalls in Opus incertum aus Lava errichteten Mauer begrenzt (sie ist noch heute zu sehen). Diese Mauer wird gewöhnlich als die Grenze eines Xystus, einer Laufbahn, also eines den sportlichen Aktivitäten gewidmeten Raums interpretiert, der eng mit dem Heiligtum verbunden war.46

Abb. 15 Blick in den Schacht, der mit der Zisterne im nordwestlichen Bereich des Foro Triangolare in Verbindung steht und einen neuen Einblick in das „unterirdische“ Pompeji ermöglicht.

In dieser Bauphase, also im Zusammenhang mit der Erweiterung und Aufschüttung des Geländes, entstand auf der Rückseite des großen dorischen Tempels ein kleiner Sakralbau (Abb. 16). Im Zuge der neuen Ausgrabungen wurden die Fundamentgräben erneut untersucht: Das kostbare Steinmaterial der Mauer war abgetragen und wiederverwendet worden, aber dank der Mauernegative wissen wir, dass in der Mitte des Platzes ein kleiner, rechteckiger Tempel gestanden hat. Anders als das große Tempelgebäude, dessen Vorderseite nach Süden, auf die Ebene und den Hafen, weist, war dieses Tempelchen nach Osten ausgerichtet. Es wurde über den aufgegebenen grottenartigen Höhlungen errichtet und hat deren Funktion möglicherweise übernommen. Vielleicht hat man hier Herkules oder einen anderen Heros, von dessen Kult kein Zeugnis erhalten ist, verehrt, vielleicht stellte man sich hier aber auch die Präsenz der Nymphen vor – die Funde im Heiligtum liefern viele potenzielle Hinweise auf diese Gottheiten.47

Für das Heiligtum des Apollo fehlten bislang Daten, die es erlaubt hätten, seine Gestalt und Geschichte in frühhellenistischer Zeit zu rekonstruieren. Es wurde allgemein angenommen, das archaische Heiligtum habe bis in den späten Hellenismus fortbestanden, bis zur Neugestaltung des Forumsplatzes im Laufe des 2. Jahrhunderts v. Chr. Die neue, monumentale Gestaltung des Heiligtums umfasste eine Grenzmauer mit Portikus, deren doppelte Funktion es war, das Heiligtum in das neue Stadtbild einzugliedern und seine hierarchische Stellung in einer Stadt neu zu definieren, die im Begriff war, die Welt ihrer Götter umgreifend zu verändern (Farbtafel 6).

Die jüngsten Ausgrabungen liefern neue Informationen: Das im Fundzusammenhang mit archaischer Bauornamentik entdeckte Votivmaterial des frühen Hellenismus könnte ein Beleg dafür sein, dass das archaische Tempeldach noch vor der späthellenistischen Neugestaltung des Heiligtums entfernt wurde.48 In diese Phase könnten auch wenige, fragmentarisch erhaltene Bauelemente aus Stein zurückgehen, die in den Fundamenten des späteren Tempels verbaut waren. Zudem lassen die neu entdeckten Mauerreste vermuten, dass spätestens im 2. Jahrhundert v. Chr. bereits ein (anderes) monumentales Bauwerk existierte. Beim aktuellen Kenntnisstand ist es allerdings unmöglich, die Nutzung des Areals oder weitere architektonische Eingriffe im Detail zu beschreiben, da der neue, monumentale Baukörper alles überdeckt.

Abb. 16 Die Ausgrabungen brachten in der Mitte des Foro Triangolare, in der Nähe der nordöstlichen Ecke des archaischen Tempels, die Fundamentgräben eines kleineren Sakralbaus ans Licht. Der Bau erhob sich über der Stelle der grottenartigen und vormals zu rituellen Zwecken genutzten natürlichen Höhlungen. Möglicherweise diente er der Verehrung der Nymphen, die traditionell mit Grotten in Verbindung gebracht wurden. (Archiv PAP.)

Auch die Kultstätte am Forum erfuhr eine Monumentalisierung, aber über ihr Aussehen wissen wir wenig. Aus dieser Phase ist ein Podium bekannt, möglicherweise ein Altar, der vielleicht mit einem Vorgänger des zukünftigen Capitolium in Verbindung stand.49 Wenn auch nur sehr wenige architektonische Elemente erhalten sind, um die Bauphasen des Apollotempels zu rekonstruieren, so zeugen die uns bekannten Votivgaben doch von einer Vitalität des Heiligtums auch in frühhellenistischer Zeit.

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