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Die Protagonisten des Kultes

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Als Archäologe ist man mit den gleichen Fragen konfrontiert wie jeder andere Betrachter: Welche Informationen lassen sich aus diesen so zahlreichen Inschriften über die Menschen gewinnen, die sie angefertigt haben? Was führte diese Personen zu genau diesem Heiligtum unweit des Flusshafens der Stadt Pompeji? Bevor wir versuchen, diese Fragen zu beantworten, muss angemerkt werden, dass die Schriftzeichen natürlich durchaus auch von jemand anderem als dem eigentlich an der Opferszene Beteiligten eingeritzt worden sein könnten. Tatsächlich suggeriert die auffällige Uniformität, dass womöglich andere, etwa das in der Schrift geübtere Personal des Heiligtums, die fehlende Alphabetisierung der Besucher kompensierten. Vielleicht rezitierten diejenigen, die das Ritual vollzogen, also einen Text, den sie zuvor anderen diktiert hatten? Allerdings bleibt die Funktion des Textes dieselbe, unabhängig davon, wer letztlich die Zeichen auf dem Gefäßkörper eingeritzt hat. Das Gleiche gilt für die Informationen, die wir über die mit ihrer „Unterschrift“ auf den Gefäßen erscheinenden Personen gewinnen können.

Die meisten Votive und liturgischen Objekte verweisen aufgrund der Sprache, des gewählten Alphabets und ihrer Form ohne Zweifel auf Menschen etruskischer Herkunft. Es bleibt selbstverständlich problematisch, allein aus der Sprache oder der Materialität der Objekte – oder ganz allgemein: anhand von zur Schau gestellten kulturellen Merkmalen – auf die ethnische Zugehörigkeit einer Gruppe zu schließen. Im hier behandelten Zeitfenster erweist sich Kampanien, wie wir bereits gesehen haben, als ein Territorium hybrider Kulturen, in dem sich Sprachen und Schriftformen ebenso vermischten wie Gepflogenheiten und handwerkliche Traditionen. Die Städte und Häfen im Mittelmeerraum waren damals von einer ausgeprägten Mobilität von Menschen und Objekten umspannt wie von einem großen Netz. Gruppen unterschiedlicher Herkunft und „ethnischer Zugehörigkeit“ waren aufgrund der in Süditalien bereits ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. greifenden Phänomene von Migration und Kolonisierung in permanentem Kontakt. Menschen aus dem ägäischen Raum verließen ihre Heimat, siedelten in Ischia und gründeten Cumae sowie zahlreiche andere Städte entlang der Küsten Süditaliens und Siziliens. Im Binnenland der italischen Halbinsel lassen sich diese Phänomene bereits für den Anfang des 1. vorchristlichen Jahrtausends beobachten: Volksgruppen zogen von einem Ende des Landes zum anderen, darunter beispielsweise die Etrusker, die bis nach Kampanien vorgedrungen sind.13

Die These vom „etruskischen Pompeji“ war bereits im 19. Jahrhundert Gegenstand gelehrter Dispute. Innerhalb der neueren Forschung wurde es weitgehend abgestritten.14 Jetzt taucht es dank der im Heiligtum des Fondo Iozzino entdeckten Inschriften mit Vehemenz wieder auf. Die bezeugten Familiennamen sind tatsächlich alle etruskisch, wie die Häufigkeit der typischen, auf -na endenden Gentilnamen und deren weite Verbreitung in Latium und dem südlichen Umbrien belegt. Und auch die Vornamen, die als „schwache“ Glieder der Namensformeln wohl noch mehr über den kulturellen Kontext, in dem sie gewählt wurden, aussagen, sind etruskisch: Auch Laris, Larice, Leθes, Mamarce und Venel sind typische Namen Mittelitaliens und sind archäologisch in Städten wie Cerveteri, Tarquinia, Veji und Orvieto bezeugt.

Die große Anzahl der in Pompeji überlieferten kompletten Namensformeln mit Vornamen und Gentilnamen belegt die Frequentierung des Heiligtums durch erwachsene männliche Gläubige – zumindest wissen wir dadurch von denjenigen, die ihren Namen zur zukünftigen Erinnerung hinterlassen haben. Sie zeigten damit ihre Zugehörigkeit zur pompejanischen Gemeinschaft und folglich auch die Landnahme und das daraus folgende Recht, ihren Grundbesitz weiterzuvererben. Der pater familias gab auch seinen Rechtsstatus an seine Erben weiter. Die zweigliedrige, den vererbbaren Gentilnamen beinhaltende Namensformel ist eine ausdrückliche Bezugnahme auf das Eigentumsrecht der Familie.15

In den meisten Fällen sollten wir in den Weihenden wohl eher nicht Handeltreibende sehen, als vielmehr Angehörige der städtischen Bürgerschaft, die als Besitzer von Land innerhalb einer wachsenden Gemeinschaft der sich formierenden, erst kurz zuvor an den Abhängen des Vesuvs, unweit der Sarno-Mündung gegründeten Stadt auftraten.

Insgesamt zeugen das homogene Set der Inschriften aus dem Heiligtum und das Fehlen von Textzeugnissen, die man auf die anderen demografischen Komponenten des archaischen Kampaniens – griechisch oder italisch – (wie etwa das im nahen Nuceria dokumentierte Alphabet) beziehen kann, von einer entwickelten etruskischen Gemeinschaft, die sich hier zur Verehrung ihrer Gottheiten zusammengefunden hat.16 Wir können also von einer Stadt ausgehen, die von Etruskern bevölkert war – aber nicht ausschließlich: Die heterogene Kulturlandschaft des Golfs von Neapel in archaischer Zeit lehrt uns, dass man sich keine isolierten (Stadt-)Gemeinschaften vorzustellen hat, die keine Einflüsse anderer Kulturen in ihrem Gebiet zugelassen hätten. Die damaligen Gesellschaften lebten die Mobilität von Menschen, Objekten und Wissen tagtäglich, und die zahlreichen hybriden kulturellen Ausprägungen lassen an lokale gesellschaftliche Gruppierungen denken, die einer Pluralität von Kulturen offen gegenüberstanden. Hybride Formen sind sowohl im Kontext der Inschriften belegt als auch in Architektur und Mythografie.17 Neben Menschen, die sich dauerhaft in Pompeji niedergelassen hatten, werden daher im Heiligtum des Fondo Iozzino auch „Fremde“ anzutreffen gewesen sein, etwa Bürger anderer Stadtgemeinschaften in der näheren Umgebung oder andere „Etrusker“ aus Mittelitalien, die den Hafen an der Sarno-Mündung erreicht hatten, um ihren Handelsgeschäften nachzugehen oder um Bündnisse und Gastfreundschaften zu festigen. Solche Besucher aus der Ferne könnten sich beispielsweise hinter „berühmten“ Gentilnamen, nämlich solchen bekannter und einflussreicher Familien Etruriens, verbergen, die im Fundus der Inschriften des Fondo Iozzino dokumentiert sind. Interessant ist in diesem Zusammenhang der am oberen Rand der Innenseite einer Bucchero-Schale eingeritzte Schriftzug: mi Spuriia[- - -], also „ich gehöre Spuriana“ (Abb. 34). Angegeben wurde (auch) in diesem Fall nur der Gentilname. Offensichtlich war es die Intention des Opfernden, seine Zugehörigkeit zu dieser mächtigen Familie deutlich zur Schau zu stellen. Der Gentilname ist in Kampanien sonst nicht bezeugt. Doch lässt die Inschrift an die im archaischen Italien extrem einflussreichen Spuriana aus Tarquinia denken.18

Diese „Nicht-Einwohner“, die sich zwischen Mittelitalien und Kampanien bewegten, müssen mit den Einwohnern Pompejis ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Verbundenheit gemein gehabt haben, das durch gleiche Sprache und Schrift und die Teilnahme an den gleichen Ritualen für die gleichen Götter ihrer (ursprünglichen) Heimat gefestigt wurde. Eine Reihe gemeinsamer kultureller Marker (wie etwa die lokal hergestellten, aber nahezu mit den Bucchero-Gefäßen Etruriens identischen Kelche oder die – von weiter entfernt liegenden Emporien – importierten Objekte, die genauso auch in den Heiligtümern ihrer Heimatstädte als Votive der Allgemeinheit präsentiert wurden) ermöglichten es den Pompejanern und den Fremden aus Etrurien, sich als Angehörige nicht nur ein und derselben ethnischen Gruppierung, sondern auch desselben sozialen Ranges zu fühlen.

Abb. 34 Mi Spuriia[---]. Die fragmentarische Inschrift erinnert an den Namen einer bekannten Familie tarquinischen Ursprungs, die Spuriana. Einige der Opfergaben stammten vielleicht von Reisenden, die Handel trieben und im Heiligtum Station machten. (Archiv PAP)

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