Читать книгу Spätsommer - Liebe - Mathilde Berg - Страница 10
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ОглавлениеAm nächsten Morgen erwachte Sybille aus einem wunderschönen Traum. Beschwingt stand sie auf.
Auf der Treppe nach unten merkte sie, dass irgendetwas anders war als sonst. Kein geschäftiges Klappern war aus der Küche zu hören, kein Kaffeegeruch strömte durchs Haus. Ihr Verdacht bestätigte sich, als Sybille in die Küche kam. Die Tür, die zur davorliegenden Veranda und dann in den Garten führte, war auch verschlossen. Also war ihre Tante Hilde auch nicht bei den Hühnern.
Sichtlich beunruhigt ging sie nach oben und klopfte an ihre Tür. Vorsichtig wollte sie ihre Tante wecken. „Guten Morgen, du Langschläfer. Der Hahn hat schon gekräht!“
Nichts passierte.
Vorsichtig öffnete Sybille die Schlafzimmertür, spähte ins Innere und erschrak. „Tante Hilde, was ist passiert?“
Hilde lag mit schmerzverzerrtem Gesicht in ihrem Bett. Ihr blasses Gesicht war fast so weiß wie die Bettwäsche.
Mit wenigen Schritten war Sybille bei ihr. „Was hast du? Wo tut es dir weh?“
Hilde zeigte unter Wimmern auf den Nachtschrank.
„Brauchst du deine Tabletten? Die hier? O Gott, das ist ja Morphium. Ich rufe den Krankenwagen!“
„Nein!“ Hilde schüttelte den Kopf. Ihre Stimme war leise und gebrochen. „Kein Arzt! Ich will nicht ins Krankenhaus.“
„Aber du hast offensichtlich starke Schmerzen! Du brauchst einen Arzt.“
„Der kann mir nicht mehr helfen. Bitte, gib mir eine Tablette.“
Sichtlich beunruhigt tat Sybille, was Hilde von ihr verlangte. „Wie meinst du das? Natürlich kann ein Arzt dir helfen. Sobald das Medikament wirkt, bringe ich dich wenigstens zu Dr. Weber.“
„Ich habe Krebs.“
„W–was? Seit wann?“ Sybilles Kreislauf sackte zusammen. Kreidebleich setzte sie sich auf den Rand des Bettes. Ihre Beine zitterten. Tausend Gedanken zogen plötzlich durch ihren Kopf. Gleichzeitig fühlte sie eine ohnmächtige Leere in sich. Die Zeit schien still zu stehen. Sybille rang um Fassung.
„Schon länger. Ich bin im Endstadium. Für eine Operation war es schon zu spät. Ich wollte nicht in einem miefigen Krankenhauszimmer dahinsiechen. Es war mein Wunsch, hier zu Hause zu bleiben.“
„Tante Hilde, das kann doch nicht möglich sein!“ Sybilles Augen füllten sich mit Tränen. Hilflos und mit einem unendlich schlechten Gewissen, dass sie einen so schönen Abend gehabt hatte, während ihre Tante todkrank im Bett lag.
„Doch, mein Kind. Es ist Zeit für mich, zu gehen.“
„Nein, Tante Hilde! Ich brauche dich doch. Sag mir nur, was ich für dich tun kann.“
„Du hast schon genug für mich getan. Es ist für mich eine große Freude, dass du hier bei mir bist. Das gibt mir die Kraft, auch das letzte Stück Weg zu gehen.“
„Warum hast du denn nicht schon früher was gesagt?“
„Anfangs hatte ich Angst, dass du nicht kommen beziehungsweise nicht bleiben würdest. Später hatte ich einfach nicht mehr den Mut dazu. Du warst doch selbst so unglücklich, da wollte ich dich nicht zusätzlich mit meinem Dilemma belasten.“
„Das hast du gemerkt?“
„Ach, Kindchen, so wie du immer am Telefon herumgedruckst und nicht auf meine Anrufe reagiert hast, war mir klar, dass Michael etwas damit zu tun hatte.“
„Oh, das wusste ich nicht. Das mit den Anrufen, meine ich. Ich hatte ja keine Ahnung und dachte, du hättest dich zurückgezogen oder … ach, ich weiß auch nicht! Tante Hilde, es tut mir ja so leid.“
Hilde hob schwach ihre Hand. Ein leichtes Lächeln huschte über ihre fahlen Lippen. „Ach, lass gut sein.“
„Nichts ist gut! Wie soll es denn jetzt weitergehen?“
„Es ist alles vorbereitet. Wenn es so weit ist, wende dich an Dr. Stövner. Er wird alles andere arrangieren. Unten in der Schublade der Kommode auf dem Flur liegen eine Bankvollmacht und noch ein paar andere wichtige Dokumente.“
Sybille schob alle aufkommenden Gedanken beiseite. Sie rückte näher an ihre Tante, strich ihr liebevoll das Haar aus der Stirn und nahm ihre faltige Hand in die ihre. „Mach dir keine Gedanken. Ich bin ja jetzt da. Wir werden das schon schaffen.“ Sybilles Stimme klang gepresst. Auf gar keinen Fall wollte sie den aufkommenden Tränen eine Chance geben, nach außen zu treten. Für Hilde waren ihre Worte trotzdem ein Trost.
Sie atmete schwer. Das Reden hatte sie angestrengt. Erschöpft lag sie in den Kissen.
Sybille hielt ihre Hand, bis sie eingeschlafen war.
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Später am Vormittag, nachdem sie die Hühner versorgt, sich um ihre Tante gekümmert und gefrühstückt hatte, telefonierte Sybille mit Dr. Weber, dem langjährigen Hausarzt ihrer Tante.
Er versprach, nach der Sprechstunde zu ihr zu kommen und nach Hilde zu sehen. In der Mittagszeit besuchte er sie schließlich.
Hilde schlief. Dr. Weber gab ihr noch eine Spritze.
„Es gibt eine Patientenverfügung, Frau Specht. Das müssen wir respektieren.“
„Aber wir müssen doch irgendetwas tun können.“
„Uns sind die Hände gebunden. Frau Schäfer hat ihre Entscheidung getroffen. Als die Diagnose feststand, war es schon nicht mehr operabel. Eine Chemotherapie hat sie abgelehnt. Es ist sowieso fraglich, ob die Behandlung überhaupt etwas an ihrem Zustand geändert hätte. Das Einzige, was wir für Frau Schäfer tun können, ist, ihr die Schmerzen so gut wie möglich zu nehmen.“
Sybille legte schützend ihre Hände vors Gesicht. „Ich kann das alles nicht glauben. Das darf einfach nicht wahr sein! Wie kann ich ihr helfen?“
„Indem Sie für sie da sind. Ich weiß, dass es ihr größter Wunsch war, dass Sie hier bei ihr sind. Frau Schäfer hat oft davon gesprochen. Es schien ihr sehr wichtig zu sein.
Geben Sie ihr die schmerzstillenden Tabletten so oft sie es braucht. Sie können nichts verkehrt machen oder ihr nachhaltig schaden. Wenn Sie ein neues Rezept brauchen, rufen Sie an. Sie bekommen sofort ein neues. Sonst können wir nichts mehr für Frau Schäfer tun.“
„Wie lange muss sie noch leiden?“
„Schwer zu sagen. Wochen, vielleicht ein paar Monate. Frau Specht, ich wünsche Ihnen viel Kraft. Wenn Sie etwas brauchen, melden Sie sich.“ Der Arzt legte ihr die Hand auf die Schulter und verließ das Haus.
Sybille zog sich Tante Hildes Gartenjacke an und ging nach draußen. Sie hatte das Bedürfnis nach frischer Luft und Weite. Im Haus hatte sie das Gefühl, zu ersticken. Sie bekam Beklemmungen wie in einem engen Fahrstuhl.
Es war ein grauer, kalter Novembertag. Die Luft tat ihr jetzt gut. Am Wochenende war der erste Advent.
Der Garten lag still und brach, beinah wie tot da. Je genauer sie alles betrachtete, umso mehr fiel ihr auf, wie verwildert der Garten war. Der Rasen im hinteren Bereich war kniehoch. Die Beete waren verkrautet, die Büsche und Hecken wucherten um die Wette. Von der einstigen Schönheit war nichts mehr zu sehen. Alles war verkommen und marode.
Gedankenverloren stand sie einsam und verlassen unter dem Rosenbogen, der den vorderen Teil vom hinteren trennte. Auf der linken Seite stand eine mannshohe Buchsbaumhecke, die von einer Clematis als Kletterhilfe benutzt wurde. Dahinter lag verborgen der barocke Bauerngarten in seinem Dornröschenschlaf. Rechts von ihr war ein riesiges Gebüsch, das über und über von Efeu überwuchert war. Von zwei Seiten wurde das Dickicht von einer hohen Thuja-Hecke umrandet, die mehr als dringend einen Gesundheitsschnitt benötigte. Auf den Gemüsebeeten im hinteren Teil standen noch die ungeernteten Gemüsepflanzen und moderten vor sich hin.
„Wird auch Zeit, dass Hilde endlich Hilfe bekommt. Die arme Frau kam ja gar nicht mehr zurecht.“
Sybille schreckte aus ihren Gedanken auf. Verärgert schaute sie sich um. Das konnte sie jetzt gerade gebrauchen. Schuldzuweisungen von den Nachbarn. Durch eine Lücke in der Hecke entdeckte sie die Nachbarin Edda Schulz. Schon früher war sie ihr unheimlich gewesen. Stets miesepetrig und nie ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Mit ihren verbiesterten Gesichtszügen und dem Kopftuch erinnerte die altersgebeugte Frau an eine Hexe aus dem Märchenbuch, aus dem ihr Hilde immer vorgelesen hatte, als sie noch klein gewesen war.
„Wohnen Sie jetzt hier?“
„Frau Schulz! Ja, ich wohne jetzt hier.“
„Ich habe Hilde schon länger nicht gesehen. Ist sie krank?“
„Ja, ist sie.“ Sybilles Stimme war starr, klang etwas gepresst. Eigentlich wollte sie lieber allein sein, um ihre Gedanken zu ordnen. Wollte aber nicht unhöflich gegenüber der Nachbarin sein.
„Mir geht es auch nicht gut. Bei der Kälte tun mir immer die Knochen weh. Aber mir hilft ja niemand. Ich muss alles allein machen.“
„Das tut mir sehr leid, Frau Schulz. Entschuldigen Sie mich. Ich muss wieder rein.“ Auf dieses Gespräch hatte Sybille nun wirklich keine Lust.
Zu allem Überfluss gesellte sich ein weiterer Nachbar dazu, diesmal von der Rasenfläche vor der Veranda, die aus als Wäscheplatz diente. „Guten Tag, junge Frau. Ganz schön kalt geworden, was? Ich glaube, wir bekommen bald Schnee. Mein Knie schmerzt. Eine Kriegsverletzung, wissen Sie?“
Sybille schaute in den Himmel. „Aha, wenn Sie meinen!“
„Wie geht es denn meiner alten Freundin Hilde? Ich habe sie schon länger nicht gesehen. Geht es ihr gut? In unserem Alter weiß man ja nie …“
„Es geht ihr, ehrlich gesagt, im Moment überhaupt nicht gut.“
„So, so. Nun ja, die Grippewelle geht ja wieder los.“
Sybille nickte.
„Die Obstbäume müssten dieses Jahr dringend geschnitten werden.“ Der Nachbar zeigte auf die verkommenen Kronen der Obstgehölze.
Sybille schaute zu den Bäumen und dann zum Nachbarn. „Herr Gundermann, die Obstbäume sind mir im Moment so was von scheißegal! Ich habe, weiß Gott, andere Sorgen.“
„Nun werden Sie doch nicht gleich hysterisch, junge Frau!“
„Ich bin nicht hysterisch!“, schrie Sybille.
„Was hat sie denn, Gunter?“, rief die Nachbarin von der anderen Seite.
„Hallo, Edda, weiß nicht. Wie geht es dir?“
„Mein Rheuma. Von der Kälte tun mir die Knochen weh.“
„Ja, ja, mein Knie tut mir auch weh. Wir bekommen wohl bald Schnee.“
Das war zu viel für Sybille. Sie lief ins Haus und knallte die Tür hinter sich zu.
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Sybille kümmerte sich aufopfernd um Hilde. Diese wurde von Tag zu Tag schwächer. Die Adventszeit gestaltete sie für ihre Tante so schön wie möglich. Sie las ihr vor, kochte ihr Lieblingsessen. Wenn Hilde einen guten Tag hatte, sangen sie Weihnachtslieder. Den Weihnachtsabend wollte Hilde unbedingt unten im Wohnzimmer verbringen. Ihr neues Kleid hing schon seit Wochen am Schrank. Glücklich und zufrieden, aber körperlich sehr erschöpft saß sie in ihrem Sessel. Nach wenigen Stunden brachte Sybille sie wieder in ihr Bett zurück.
„Danke, Sybille. Das war ein sehr schöner Abend.“ Zufrieden schlief Hilde ein. Dieser Abend hatte sie sehr viel Kraft gekostet.
Die Silvesterraketen betrachteten sie gemeinsam durch das weit geöffnete Schlafzimmerfenster.
Mit vielen Kissen im Rücken saß Hilde, unter vielen Decken eingemummelt, im Bett und schaute sich den farbenprächtigen Glitzerregen der Feuerwerkskörper an. „In letzter Zeit träume ich viel von meinem Kurt. Ich glaube, er wartet auf mich und will mich abholen. Wir waren heimlich verlobt, Kurt und ich. Ich war damals so glücklich. Meine Eltern waren dagegen, dass ich mich mit ihm traf, darum durfte es noch niemand wissen. Als er mich fragte, schenkte er mir eine rote Rose. Er war so der James-Dean-Typ. Die längeren Haare hingen ihm stets im Gesicht, und er trug immer seine Lederjacke. Er liebte es, mit seiner Vespa zu fahren. Als wir uns verabschiedeten, war es das letzte Mal, dass wir uns sahen. Ein Laster übersah ihn, als er zu schnell in einer Kurve fuhr und auf die Gegenfahrbahn kam.
Letzte Nacht habe ich geträumt, dass er um mein Bett ganz viele Rosen gestellt hat. Das Blumenmeer war die reinste Pracht.“
Sybille wusste darauf nicht viel zu antworten. „Kurt muss noch eine Weile warten. Ich bin nicht bereit, dich schon gehen zu lassen.“
Ein Lächeln breitete sich auf Hildes Gesicht aus. Sie nahm Sybilles Hand zwischen ihre kraftlosen, faltigen Finger. „Aber ich vermisse ihn so. Du hättest ihn auch sehr gemocht, wenn du ihn gekannt hättest.“
Am frühen Morgen des zweiten Januars des neuen Jahres hauchte Hilde ihren letzten Atem aus. Sybille war bei ihr und hielt ihre Hand. Sie schauten sich in die Augen, bis der Glanz aus Hildes Augen für immer verblasste. Ihre Lippen umspielte ein Lächeln. Die Uhr im Wohnzimmer blieb auf fünf Uhr dreiundzwanzig stehen.