Читать книгу Spätsommer - Liebe - Mathilde Berg - Страница 3

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Frau Specht, Sie kommen zu spät zu Ihrem Termin!“

„Ich weiß. Aber das ist ein sehr wichtiger Auftrag. Die Auftragsbestätigung muss heute unbedingt noch raus und …“

„Das kann ich doch auch machen! Ich wurde schließlich eingestellt, um Sie zu entlasten, Frau Specht.“

Resigniert schaute Sybille in das Gesicht der jungen Frau, die vor ihrem Schreibtisch stand.

Wie hatte Michael nur diese Person einstellen können? Was war bloß in ihn gefahren? Bei dem Vorstellungsgespräch muss er wohl unter geistiger Umnachtung glitten haben, dachte sich Sybille. Wie sonst hätte ihr Mann dieses unfähige Mädel einstellen können?

Darüber würde sie sich nachher beziehungsweise gleich beim Abendessen mit Michael ernsthaft unterhalten müssen. Ihr mir nichts, dir nichts dieses langhaarige, junge Ding vor die Nase zu setzen! Ihren Kopf schien sie nur zum Haare kämmen zu haben, und sie war so langsam, dass man beim Laufen ihre scheinbar endlos hohen High Heels besohlen könnte, wenn man sie überhaupt mal beim Gehen ertappte. Hatte sie sich erst einmal in Bewegung gesetzt, glich es eher einem Schreiten, bei dem sie ihre Hüften weit nach rechts und nach links schwang in ihrem, wie Sybille fand, viel zu kurzen Rock. Ihr puppenhaftes Gesicht lag unter einer dicken Schicht Make-up mit grell geschminkten Augenlidern und Lippen in einem knalligen Pink. Ihre Kulleraugen wurden von langen, falschen Wimpern eingerahmt.

Sybille war noch bei ihrem letzten Gedanken, da beugte sich die neue Kollegin über den Schreibtisch zu Sybille und nahm die Papiere, die vor ihr lagen, in die Hand. Sybille griff schnell zu und für einen Moment befürchtete sie, dass die riesigen, zusammengequetschten Brüste der fähigen Mitarbeiterin aus dem tiefen Dekolleté auf ihren Schreibtisch plumpsen würden. „Frau Meyer, ich bin sehr wohl in der Lage, meine Arbeit selbst zu erledigen! Schließlich habe ich diese Firma zusammen mit meinem Mann gegründet und aufgebaut.“

Daniela Meyer verzog ihren Mund zu einem beleidigten Schnütchen. „Na, wenn Sie meinen!“

„Ja, das meine ich!“

„Ihr Mann hat mir aber ausdrücklich aufgetragen, dass Sie pünktlich zu dem Termin heute Abend kommen sollen. ‚Frau Meyer‘, hat er gesagt, ‚sorgen Sie persönlich dafür, dass meine Frau pünktlich das Büro verlässt‘.“

„Sie sollten sich angewöhnen, zwischen den Zeilen zu lesen.“

„Hä? Wie meinen Sie das? Er hat mir das doch am Telefon gesagt. Da kann ich doch nur zuhören! Oder hätte ich mir das aufschreiben sollen?“

Sybille atmete hörbar laut ein und aus. So viel Blödheit auf zwei Beinen! „Wie dem auch sei. Ich würde pünktlich aus dem Büro kommen, wenn ich nicht auch noch Ihre Arbeit machen müsste!“

„Also, das finde ich jetzt voll unfair von Ihnen!“

„Sehen Sie, da sind wir ja immerhin zum ersten Mal einer Meinung.“

Daniela lächelte stolz. Um sie loszuwerden, griff Sybille nach einem Stapel unwichtiger Papiere und reichte in ihr. „Diese Unterlagen können Sie bitte zwei Mal kopieren, zusammentackern und lochen. Dann unter P oder Ablage rund ablegen.“

Siegessicher schnappte sich Daniela Meyer den Stapel und schlenderte mit wackelndem Hinterteil zum Kopierer am Ende des Flurs.

Mein Gott, ist dieses Mädchen dumm! Sybille wandte sich wieder ihren Unterlagen zu.

Vor ihr lag eine Auftragsbestätigung für eine Küche, adressiert an Phillip und Maren Wiesner, Mühltal bei Nußdorf am Inn.

Versonnen dachte Sie an den Zeitungsartikel in dem Hannoverischen Sonntagsblatt ‚Hallo Wochenende‘. Vor zwei Jahren war dort die Überschrift Die Frau, die sich was traut zu lesen gewesen. Maren Förster, die Tochter einer Freundin ihrer Freundin, hatte kurzerhand ihren damaligen Freund nebst Spielgefährtin kurzerhand vor die Tür gesetzt, nachdem sie die beiden in unmissverständlicher Zweisamkeit vorgefunden hatte. Anschließend hatte sie deren Habseligkeiten über den Balkon ihrer Dachwohnung im fünften Stock auf die Straße geworfen.

Auf der Titelseite war ein Bild zu sehen gewesen, auf dem ein Mann, nur in Micky Maus-Shorts bekleidet, seinen Hintern einer Handykamera entgegenstreck und eilig einige Kleidungsstücke vom Bürgersteig zusammengerafft hatte. Seine Begleitung hatte versucht, mit einem kurzen Hemdchen und einem peinlich berührten Gesichtsausdruck das Nötigste von ihrem nackten Körper zu verdecken. Eine Menschenmasse hatte das groteske Schauspiel verfolgt. Maren Förster hatte danach eine Reise mit ihren Eltern nach Süddeutschland angetreten und dort die Liebe ihres Lebens gefunden. Nun wohnte sie zusammen mit ihrem Mann in Mühltal bei Nußdorf am Inn.

Sybille war stolz, dass ihre Küchenmöbel, die unten in der Werkstatt in Handarbeit angefertigt wurden, in ganz Deutschland ihren Platz fanden.

Akribisch arbeitete sie weiter. Bei jedem Blick auf die Bahnhofsuhr über ihrer Bürotür zog der große Zeiger mit riesigen Schritten weiter. Die Zeit verging wie im Flug. Ausgerechnet heute stapelten sich die Aufträge auf ihrem Schreibtisch. Sybille war natürlich froh über die hohe Auftragslage. Es war zum größten Teil ihr Verdienst, dass es so war. Aber ausgerechnet heute, am Freitag, dem letzten Tag vor den zweiwöchigen Betriebsferien und ihrem fünfzigsten Geburtstag, wäre eine helfende Hand nützlich gewesen.

Sybille schaute zu Daniela Meyer am Ende des Flures, wie sie fragend das Kopiergerät anschaute, der verzweifelt mit akustischen Signalen darauf aufmerksam machte, dass der Papiervorrat alle war. Daniela drückte immer wieder auf die Starttaste, klappte den Deckel, unter der die Kopiervorlage lag, auf und zu.

„Frau Specht? Ich glaube, der Kopierer ist kaputt!“

„Vielleicht liegt es am Papier?“

„Nö, glaube ich nicht. Es ist ganz dünn, und gestaut ist, glaube ich, auch nichts.“

„Offenbar ist der Papierschacht leer. Sie müssen neues einfüllen!“

„Meinen Sie? O ja, tatsächlich! Ach, das muss man ja erst mal wissen. Ich bin schließlich noch nicht so lange hier.“

Sybille griff sich an die Schläfe. Ein leichter Druckschmerz breitete sich aus.

Michael hatte Sybille heute zum Abendessen eingeladen, wobei sie schon gedacht hatte, er hätte ihren Geburtstag, wie schon so häufig, vergessen. Immerhin war er die ganze letzte Woche im Außendienst gewesen, um eine neue Küche aufzubauen. Das Ausliefern und Aufbauen war Chefsache. Das ließ sich Michael nicht nehmen.

Viertel vor fünf!, erkannte Sybille. O mein Gott, ich muss los! Dann muss das Mädel eben doch den Rest machen. Wenn das mal gut geht. Aber ich habe keine Wahl, wenn ich nicht zu spät sein will.

Schnell und mit geübten Handgriffen räumte Sybille ihren Schreibtisch auf, schloss ordnungsgemäß die Schubladen ab und schob ihren Bürostuhl unter die Arbeitsplatte. Der Rechner fuhr gerade runter.

Welch himmlische Ruhe, dachte Sybille.

An einem Arm baumelte die große Handtasche, unter dem anderen klemmte ein Stapel Unterlagen. So eilte sie in Richtung Ausgang. Im Vorbeigehen legte sie mit etwas Schwung die Unterlagen, die noch bearbeitet werden sollten, auf den Schreibtisch der jungen Kollegin.

Dabei rutschte die Schreibtischunterlage ein wenig zur Seite und gab den Blick auf zwei Flugtickets frei. Sybille verdrehte neugierig ihren Kopf, damit sie besser lesen konnte. Kuba, First-Class, Abflug 21. Oktober stand dort in schwarzen Buchstaben. Sybilles Herz machte einen Hüpfer.

21. Oktober? Das ist ja schon morgen. Ach herrje! Und ich muss noch packen. Er hat tatsächlich meinen fünfzigsten Geburtstag nicht vergessen.

Wie ein Teenager fühlte Sybille Liebe in sich aufsteigen. Sie dachte an ihren Mann Michael. Ihre erste große Liebe.

Ein gemeinsamer Urlaub mit ihrem Mann war schon lange ihr sehnlichster Wunsch. Eine Hochzeitsreise hatten sie damals nicht machen können. Ein Baby war unterwegs gewesen, und sie hatten jeden Cent für das Haus gebraucht, das Michael für seine Familie hatte bauen wollen.

Als ihr Sohn Alexander auf die Welt gekommen war, hatte das Geld sowieso gefehlt, und seit sie gemeinsam die Möbeltischlerei aufgebaut hatten, fehlte nicht nur das nötige Kleingeld gehabt, sondern auch die Zeit. Die ersten Jahre der Selbstständigkeit waren hart und beschwerlich gewesen.

Sybille hatte sich um ihren gemeinsamen Sohn gekümmert und Haus und Garten in Schuss gehalten. Abends, wenn Michael müde von seinem langen Arbeitstag nach dem Abendessen, das sie liebevoll für ihn gekocht hatte, auf dem Sofa Fußball geschaut oder sich mit seinen Freunden zum Männerabend getroffen hatte, hatte sie oft bis spät in die Nacht dagesessen und für die Firma die Buchhaltung und den ganzen Papierkram erledigt. Erst als Alexander in der sechsten Klasse gewesen war, hatte sie angefangen, halbtags im Büro der Tischlerei an zu arbeiten. Nach und nach hatten sich die Auftragsbücher gefüllt. Besonders, seit sie sich auf Sybilles Anraten auf maßgeschneiderte Küchenmöbel spezialisiert hatten. Nachmittags hatte sie das Haus geschrubbt, das tägliche Chaos beseitigt, Unkraut im Garten gezupft, den Rasen gemäht, die Wände tapeziert, Decken gestrichen und Alexanders Fahrrad repariert.

Sie hatte jeden Abend ein ordentliches Abendessen gekocht und später, vor dem Fernseher, Socken gestopft oder Hosen geflickt. An Samstagen hatte sie das Büro geputzt und die Werkstatt gefegt, um keine Reinigungskraft einstellen zu müssen.

Sybille hatte in all den Jahren immer den Rücken ihres Mannes gestärkt. Lieber zum Wohl der Familie und der Firma entbehrt, als dass sie sich etwas gegönnt hatte.

Bei der vielen stillen Hausarbeit hatte sie oftmals von fernen Ländern wie Kuba geträumt, wo sie ein Café eröffnen wollte. Dass es nur ein Traum war, war ihr wohl bewusst, aber irgendwann würde es soweit sein, dass sie wenigstens dorthin in den Urlaub fahren würde. Dafür sparte sie seit Jahren und zwackte monatlich ein bisschen vom Haushaltsgeld ab.

Jetzt, wo sie die Tickets auf dem Schreibtisch liegen sah, konnte sie es nicht fassen. Fast ein bisschen geschockt war Sybille. Hatte sie ihrem Mann versehentlich die Überraschung verdorben?

Wenn sie Michael gleich im Restaurant traf, er ihr feierlich zu ihrem fünfzigsten Geburtstag bei einem Glas Champagner gratulierte und ihr zum Dessert die Jubelbotschaft überbrachte, wollte sie überrascht tun. So nahm sie es sich vor.

Schnell schob Sybille die Tickets wieder unter die Schreibtischunterlage, als ob nichts gewesen wäre. Da kam auch schon Daniela Meyer zurückgestöckelt.

„Ach, Frau Specht! Sie sind ja immer noch hier. Wollten Sie nicht längst weg sein?“

„Schon, aber die Auftragsbestätigungen müssen noch raus. Gerade jetzt vor den Betriebsferien! Die können schließlich nicht zwei Wochen hier rumliegen.“

„Hmm.“ Daniela grinste dümmlich.

„Was ich nicht geschafft habe, habe ich auf Ihren Tisch gelegt. Bitte seien Sie so gut und machen den Rest fertig. Es ist auch nicht mehr viel. Nur noch eintüten und in die Post geben. Schaffen Sie das?“

Danielas Miene erhellte sich. „Na klar schaff ich das!“

„Nun gut. Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Feierabend und ein schönes Wochenende.“

Sybille hatte sich inzwischen ihren Anorak angezogen und sich mit dem Kamm ihren schulerlangen Bob gekämmt. In dem Spiegel bemerkte sie die ersten silbernen Haare in ihrem dunklen Haar. Schnell schminkte sie ihre Lippen mit dem eigens für diesen Anlass gekauften dunkelroten Lippenstift.

„Ja, danke, und einen schönen Urlaub wünsche ich Ihnen.“

Sybille stutzte. „Ach ja, genau. Ich wünsche Ihnen auch einen schönen Urlaub. Und vergessen Sie nicht, nachher alles auszumachen und abzuschließen.“

„Nein, nein, Frau Specht. Ich mache das schon. Sieht übrigens voll süß aus, Ihr Lippenstift, meine ich. Steht Ihnen gut. Sollten Sie öfters tragen.“

Wenn ich das nur glauben könnte, dachte sich Sybille und drehte sich zum Ausgang. „Danke.“

„Oh! Frau Specht?“

„Ja, Frau Meyer, was ist denn noch?“

„Ähm … könnten Sie mir noch sagen, wo ich den runden Ordner P finde? Ich kenne mich doch noch nicht überall so genau aus.“

Sybille klappte die Kinnlade runter. Ihre Hände umklammerten mit aller Kraft die Henkel ihrer Handtasche, sonst hätte sie dort reingebissen und ein bizarres Muster mit ihren Zähnen auf den Henkeln hinterlassen.

„Den was?“

„Na, den Dings … den runden Ordner P. Frau Specht, ich sollte doch den Stapel hier kopieren, tackern und lochen und dann ablegen … in diesem komischen Ordner. Ich weiß nicht, wo der ist.“

Sybille schüttelte den Kopf und drehte sich um. „Denken Sie mal nach mit Ihrem hübschen Köpfchen. Sie werden schon darauf kommen. Dafür wurden Sie doch angestellt. Oder?“

Auf dem Weg zum Fahrradstand wünschte sie allen Mitarbeitern, die ihr begegneten, einen schönen, erholsamen Urlaub. Sie sog noch einmal die Luft ein und nahm eine Nase von dem wunderbaren Geruch nach frischem Holz mit. Sybille liebte diesen Geruch. Dann stand sie auch schon draußen.

Spätsommer - Liebe

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