Читать книгу Spätsommer - Liebe - Mathilde Berg - Страница 6

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Nach einer schlaflosen Nacht voller schlechter Träume und der Vorfreude auf die bevorstehende Reise wachte Sybille mit Verspannungskopfschmerzen auf. Sie schleppte ihren Körper unter die Dusche, während in der Küche die Kaffeemaschine fröhlich wie eine Dampflokomotive vor sich hin schnaufte.

Nach einem kurzen Frühstück, bei dem sie gedankenversunken aus dem Fenster sah, putzte sie das Bad, saugte die Wohnung noch mal durch, wusch ihre Kaffeetasse und Besteck ab und wischte noch mal die Küche und das Bad durch. Sybille schnappte sich ihren Koffer und ihre Handtasche und machte sich auf den Weg. Beim Rausgehen kam sie am Schlüsselbrett am Eingang vorbei. Sybille kam eine Idee. Wozu sollte sie mit dem Zug fahren, wenn in der Garage die geliebte Limousine ihres holden Gatten stand? Am Freitag war er ja mit seinem Sportwagen unterwegs gewesen. Kurzerhand schnappte sich Sybille den Autoschlüssel.

Es war ein komisches Gefühl, ihr Zuhause zu verlassen. Seltsamerweise mischte sich auch ein Gefühl von Befreiung mit dazu.

Mit zittrigen Händen startete sie das Fahrzeug. Sybille hatte noch nie selber mit dem Wagen fahren dürfen. „Frauen fahren besser mit Bus oder Bahn!“ war einer von Michaels Lieblingssprüchen gewesen. Genauso wie „Frauen haben im Straßenverkehr nichts zu suchen“ oder „Männer können eben besser Auto fahren. Frauen dafür besser kochen.“

Stattdessen hatte Sybille ein Hollandrad aus dem Supermarkt und eine Jahreskarte für den Bus bekommen, damit sie mobil war und er sie nicht immer fahren musste, obwohl Sybille einen Führerschein hatte und immer eines seiner Autos in der Garage stand.

Die waren allerdings seine Heiligtümer. An jedem Sonntag wurden die Autos vom Meister persönlich geputzt und poliert. Gelegentlich hatte Sybille den Fußraum aussaugen und die Fenster putzen müssen, um ihren Beitrag dafür zu leisten, in diesem Auto mitfahren zu dürfen. Außerdem hätten Frauen schmalere Hände und könnten besser in die schmalen Stellen an der Seite der Sitze zum Saubermachen greifen, wie Michael argumentiert hatte.

Sybille stellte die Automatik auf R und fuhr das Schlachtschiff von einem Auto auf die Auffahrt. Bevor Sybille ganz vom Hof fuhr, schloss sie selbstverständlich das Garagentor. Ein bisschen musste sie dabei schmunzeln. Wie gern würde sie Michaels Gesicht sehen, wenn er bemerkte, dass der Wagen nicht mehr an seinem Platz stand.

Nun war es so weit. Sybille trat vorsichtig aufs Gas, der Wagen rollte. Allerdings nicht vorwärts, sondern immer noch rückwärts in die Blumenrabatte.

„Ups!“, entfleuchte es Sybille. Schnell schaltete sie auf D, und nun rollte der Wagen, diesmal in ihre gewünschte Richtung, vom Hof runter. Im Rückspiegel konnte sie im Wendehammer ihr altes Zuhause sehen, wie es immer kleiner wurde, bis es an der Wegbiegung ganz aus ihrem Blickfeld entschwand.

Nach drei Stunden hielt sie vor dem Haus ihrer Tante. Sie fühlte sich gleich wie zu Hause. Irgendwie hatte sich nichts verändert. Hildegard war die junge Schwester ihrer Mutter gewesen. Sie war schon siebzehn Jahre alt gewesen, als Hildegard geboren worden war.

Sybilles Mutter hatte sie mit siebenunddreißig bekommen – für die damalige Zeit eigentlich schon zu alt, um Mutter zu werden. Da war es für Sybille immer eine willkommene Abwechslung gewesen, wenn sie in den Ferien zu ihrer Tante Hilde gedurft hatte.

Wie schön diese Zeit doch gewesen war. Sie erinnerte sich zu gern daran. Ihre Eltern waren nicht nur wesentlich älter als die Eltern ihrer Freundinnen gewesen, sondern hatten von der Einstellung und den Erziehungsmethoden her regelrecht aus dem letzten Jahrhundert gestammt. Sie waren sehr streng gewesen, besonders, was die Moral angegangen war.

Bei ihrer Tante war sie regelrecht aufgeblüht. Sie hatte im Garten toben und sich schmutzig machen dürfen wie sie wollte. Es war viel gelacht und gesungen worden. Tante Hilde hatte mit ihr Verstecken oder Fangen gespielt und war für jeden Schabernack zu haben gewesen. Am Abend oder bei schlechtem Wetter hatten sie gern eine Partie Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt. Hier war sie schon immer frei gewesen!

Kaum zu glauben, dass Tante Hilde und ihre Mutter Schwestern gewesen waren. Irgendwie schlug sie aus der Art. Vielleicht hatte Hildegard ihre kleine Nichte deswegen immer so gut verstehen und sich in ihre Lage versetzen können, da sie selbst als Nachzügler bei ihren kaisertreuen Eltern aufgewachsen war.

Als Sybille ihr Gepäck aus dem Kofferraum hievte, öffnete sich schon die Haustür. Mit ausgebreiteten Armen und einem herzlichen Lächeln stand Tante Hilde in der Tür. So hatten ihre Eltern sie nie begrüßt. Dort ging es immer um Respekt und Anstand.

Hilde hatte ihre schneeweißen Haare zu einem Dutt am Hinterkopf zusammengesteckt. Früher hatte sie eine freche Bubikopf-Frisur getragen.

Sybille erschrak. Ihre Tante sah, obwohl sie erst siebzig war, sehr alt, blass und ausgemergelt aus. Sie hatte sie auch viel größer in Erinnerung. Bei der Umarmung merkte sie, dass ihre Tante nur noch Haut und Knochen war, dennoch steckte nach wie vor viel Energie in ihrem gebrechlichen Körper.

„Willkommen. Schön, dass du da bist!“

„Tante Hildegard!“

Sybille atmete tief den vertrauten Geruch nach Tosca und Lavendelseife ein. Aus der Küche wehte ein leckerer Duft durch den kleinen Hausflur.

„Komm rein, mein Kind. Das Essen ist gleich fertig! Ich habe dir dein Lieblingsessen gekocht.“

„Hefekloß mit Birnen?“

„Ja, aus der eigenen Ernte. Der alte Baum war dieses Jahr voll mit Früchten. Ich komme gar nicht nach mit dem Einwecken. Zum Nachtisch habe ich dir einen Schokoladenpudding gekocht. Den mochtest du doch früher immer so gern.“

„Ja, den mag ich heute auch noch. Zu gern, wie man sehn kann!“

„Och, die paar Pfunde! Der Körper braucht doch etwas, woran er in schlechten Zeiten zehren kann.“ Hilde machte eine wegwerfende Handbewegung. „Bring deine Sachen schon mal nach oben. Du kennst dich ja aus.“ Sybille nickte. „Die Jacke gibst du mir, die hänge ich an der Garderobe auf, und wenn du dich oben eingerichtet hast, gibt es erstmal was zu essen. Dabei können wir in aller Ruhe reden.“

„Ja, das ist eine gute Idee.“

Als Sybille die knarzigen Stufen der Holztreppe hochstieg, fühlte sie sich um Jahrzehnte zurückversetzt. An der Wand hingen wie eh und je die Jahreszeitenbilder – Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Oben im kleinen Flur gingen vier Türen zu den Zimmern. Gleich zur Rechten, an der Treppe, das Badezimmer, gegenüber der Treppe das Schlafzimmer ihre Tante. Daneben ihr Zimmer, und gegenüber von ihrem war das Gästezimmer, was eigentlich eher als Wäsche- und Bügelzimmer diente. Denn außer ihr hatte ihre Tante nie Gäste gehabt. Der Geruch von gestärkter Wäsche schwebte im Flur.

Sybille betrat ihr Zimmer. Es war anders eingerichtet als früher. Viel moderner. In der hinteren Ecke stand ein breites, rotes Boxspringbett. Kissen und Decke waren mit einem weißen Bettbezug aus Leinen bezogen. Das Kopfkissen zierte Lochstickerei in einem kunstvollen Blütenmuster. Am Fußende lag noch eine farblich passende Wolldecke. In der Ecke stand eine geschwungene Stehlampe im gleichen Farbton. Ein grauer Ohrensessel, ein weißer Schrank und ein Schminktisch mit Spiegel rundeten das Zimmer ab. Am Fenster stand ein weißer Schreibtisch mit Bildern von Hilde und ihr. Über dem Bett, an der weißen Wand, hing Sybilles Lieblingsbild – sechs junge Mädchen in fließend langen Gewändern hielten sich an den Händen und liefen im Kreis. Für Sybille waren es immer tanzende Elfen gewesen. Je länger sie auf das Bild schaute, desto mehr bildete sie sich ein, dass sie das Lachen der Mädchen hören konnte.

Es war ein wahrgewordener Traum, aus einer Schöner-Wohnen-Zeitschrift.

Sie räumte ihren Koffer aus und hängte ihre Sachen in den Schrank. Ihren Kulturbeutel brachte sie ins Badezimmer. Auch hier gab es eine Überraschung. Das alte, in die Jahre gekommene Bad mit den gelbbraunen Fliesen war einem modernen, hellen Badetempel mit Wohlfühlambiente gewichen. Es roch unverkennbar nach Tante Hildes Lavendelseife.

Sybille kam in die Küche und nahm auf der Eckbank Platz. Ihr Magen knurrte. Sie hatte vorher nicht bemerkt, wie hungrig sie war.

Hildegard ließ ihrer Nichte Zeit. Außer Belangloses wurde nichts besprochen, dafür war später noch genügend Zeit.

Sybille nahm einen großen Löffel Schokoladenpudding in den Mund. Er schmolz auf der Zunge. „Hmmmm, köstlich, Tante Hilde. Deinen Schokoladenpudding habe ich echt vermisst. Ich glaube, keiner kann den so gut kochen wie du.“

„Weil der selbstgemacht ist und nicht aus der Tüte. Das ist das Geheimnis. Wenn du magst, zeige ich dir, wie das geht.“

„Ja, gern.“ Sybille schwelgte mit dem Geschmack an die glückliche Zeit ihrer Kindheit in ihren Erinnerungen. Sybille öffnete plötzlich die Augen, als ob ihr etwas Wichtiges eingefallen war. „Sag, mal, was ist denn oben mit den Zimmern passiert? Ich hätte meins nicht wiedererkannt, wenn die Bilder nicht dagewesen wären.“

„Gefällt’s dir?“

„Ja, sieht aus wie aus der Zeitschrift ‚Schöner-Wohnen‘!“

„Du warst auch schon lange nicht hier.“

Das schlechte Gewissen meldete sich bei Sybille. „Tu mir leid …“

„Ich weiß, Sybille, ich weiß. Man kann nicht immer so, wie man möchte. Ich habe angefangen, das Haus zu renovieren. Wenn du das Haus später bekommst, soll es doch schön sein. Aber dann kam mir was dazwischen, und ich bin hier unten nicht weitergekommen.“

„Es ist schön bei dir! Versteh mich nicht falsch, die Räume oben sind toll, aber hier unten ist es urgemütlich. Außerdem hast du doch Zeit genug. Du bist doch noch nicht alt.“

„Sag das mal meinem Körper!“ Hildegard schlug die Augen nieder. „Hast du schon darüber nachgedacht, wie es mit dir und …“

„Michael?“

Hilde nickte. „Was wirst du machen? Ihm verzeihen?“

Sybille knetete unruhig ihre Hände unter dem Tisch, bis sie sich haltsuchend an der Sitzbank festkrallte. „Weiß nicht! Im Moment jedenfalls nicht. Er hat mich zutiefst gekränkt. Meine ganze Welt, mein ganzes bisheriges Leben ist zusammengebrochen. Ich weiß nicht, ob ich ihm verzeihen kann. Ob ich das überhaupt will.“

„Hmmm, hört sich eher nach verletztem Stolz an.“

„Tante Hilde! Ich …“

„Ich weiß, du liebst deinen Michael.“

„Ja, genau!“

„Hast du denn gar nichts bemerkt?“

„Nein … ja … nein. Also, er hat vor einiger Zeit angefangen, sich anders zu kleiden. Na, moderner, jugendlicher halt. Aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Ich dachte, er will mit Alex und seinen Kumpels mithalten. War dann wohl nicht so. Er wollte wohl eher dieser Daniela Meyer imponieren. Dieser hohlbirnigen Nuss. Ich habe mich von Anfang an gefragt, warum er die überhaupt eingestellt hat. Na, vielleicht ist das der Grund, warum er nicht mehr mit mir … Er hat mir doch tatsächlich vorgeworfen, ich wäre zu dick!“ Sybille schlug die Faust auf den Tisch. Ihre Tante zuckte ein bisschen zusammen. „Okay, ein bisschen aus dem Leim gekommen bin ich schon. Aber das ist doch noch lange kein Grund, mich gegen ein dürres Huhn auszutauschen. Immerhin habe ich alles für ihn getan!“

„… und hast dich dabei im Laufe der Jahre vergessen!“

Sybille nickte traurig. „Ich hatte aber auch immer so viel zu tun und daher auch gar keine Zeit für … Sport … und … finanziell ging es uns auch lange nicht gut. Jeder Cent floss in die Firma. Da konnte ich mir auch nicht alle Nase lang neue Sachen kaufen.“

„Er konnte es doch auch.“

„Aber er hat ja auch Umgang mit den Kunden, da musste er schließlich gut aussehen. Im Büro hat mich ja sonst keiner gesehen.“

„Versteckt hast du dich! Anstatt Präsenz an der Seite deines Mannes zu zeigen.“

„Bin ich jetzt auch noch selbst schuld? Willst du das etwa sagen?“ Heiße Tränen liefen Sybille die Wangen runter.

„Ich meine, du hast dich die ganzen Jahre über in deiner Komfortzone versteckt. Meiner Meinung nach hast du viel zu früh geheiratet. Du warst zu jung. Michael war nicht der Richtige für dich!“

„Tante Hilde“, schluchzte Sybille. „Du weißt doch, wie meine Eltern waren! Ich durfte mich nicht mit einem Jungen treffen, nach Hause bringen sowieso nicht. Eine eigene Wohnung – o Gott! Vater hätte fast einen Herzinfarkt bekommen, und Mutter wäre fast in Ohnmacht gefallen. Das spießige Großbürgergetue hatte ich echt satt!“

„Ich weiß, wie meine Schwester war. Gott hab sie selig. Ich habe dieselbe Erziehung genossen.“ Hildegard stand auf und begann den Tisch abzuräumen.

„Und dann kam Michael und …“

„… und du hast alles getan, damit er glücklich ist und du nicht mehr unter der Fuchtel deiner Eltern stehst.“

„Ja!“

„Könnte es sein, dass du ihn nur benutzt hast, um aus deinem Elternhaus zu kommen?“

„Ich war sehr verliebt. Damals.“

„Ich war auch mal verliebt, sehr sogar.“ Hildegard schaute beim Abwaschen versonnen gegen die gelblichen Fliesen vor ihr an der Wand.

„Du? Was ist passiert?“

Hildegards Gedanken sausten in einem rasend schnellen Abwärtsloop in die Gegenwart zurück. Das Bild vor ihrem inneren Auge zerplatzte wie eine Seifenblase. Sie seufzte schwermütig. „Er ist gestorben! Mit seinem Tod ist etwas in mir zerbrochen. Es folgte viel Leid. Darum, Sybille, weiß ich, wie du dich fühlst. Du musst dich entscheiden, ob du kämpfen oder deiner Nebenbuhlerin das Feld überlassen willst.“ Hildegard schaute dabei mit ihren glasklaren, blauen Augen Sybille an.

„Ich … ich … Tante Hilde, ich weiß nicht, was ich tun soll!“

„Dann, mein liebes Kind, brauchst du einen Anwalt, und zwar den besten, den es gibt! Ich rufe nachher Dr. Stövner an.“

Sybille schniefte, ehe sich sie umständlich zwischen Bank und Tisch hervorquälte, um ihrer Tante beim Abwasch behilflich zu sein.

Spätsommer - Liebe

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