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Sybille war tatsächlich am Sonntagmittag wieder in Oldenburg bei ihrer Tante. Nach einem deftigen Essen mit Schweinebraten, selbstgemachten Klößen, Gemüse aus dem eigenen Garten und als eingemachtem Birnenkompott als Nachtisch legte sich Hilde erschöpft ins Bett. Auch ihr tat jetzt die Ruhe der Mittagspause gut.

Sie hatte es genossen, sich mal bekochen zu lassen, anstatt schon am frühen Sonntagvormittag, wenn der Rest der Familie noch mit dem Hintern im Bett gelegen hatte, mit den Töpfen zu jonglieren. Nach dem Essen waren die Herren gern ins Wohnzimmer gewandert, während sie mit dem Abwasch allein in der Küche zurückgeblieben war, und hatten bis zum Abend den Sportübertragungen im Fernsehen gefrönt.

Bei schönem Wetter hatte sich Sybille dann gern in den Garten verzogen und vor sich hin geprudelt. Dort hatte sie Ruhe und Zeit zum Nachdenken gehabt. Bei schlechtem Wetter hatte sie nach dem Mittagessen oft einen Kuchen gebacken. Danach war ihr nichts anderes übrig geblieben, als sich zu ihrem Mann und Sohn aufs Sofa zu gesellen.

Michael hatte diese Sonntage genossen, an denen er gemütlich auf der Couch gefläzt, Sport bis zum Abwinken geschaut und dabei mit seinem Sohn gefachsimpelt hatte, während er von seiner Frau von vorn bis hinten bedient und verwöhnt worden war. Er wäre ja schließlich derjenige, der die Kohle für die Brötchen nach Hause brachte und die ganze Woche von früh bis spät malochte und sich für die Familie krumm machte. Am Montag, nach der Arbeit, hatte Sybille leise murrend das Chaos des Sonntagsszenarios beseitig, das ihr Göttergatte hinterlassen hatte. Er hatte davon ja nichts mitbekommen, wenn er auf Montage oder im Büro gewesen war.

Am Donnerstag der vorherigen Woche war Sybille am späten Nachmittag bei ihrem alten Zuhause in Hannover angekommen. Das Haus stand einsam und verlassen in der Dunkelheit. Laubberge hatten sich vor der Haustür und in der Blumenrabatte vor dem Haus angesammelt. Dieser verkommene Anblick tat ihr in der Seele weh. Dabei war sie gerade mal eine gute Woche weg gewesen. Die Luft im Haus roch abgestanden, und es war eiskalt. Auch die Blumen auf der Fensterbank hatten schon bessere Tage erlebt. Mit hängenden Blüten und Blättern fristeten sie ihrem sicheren Tod entgegen. Erste-Hilfe-Maßnahmen mit Wasser kamen für einige ihrer geliebten Pflanzen schon zu spät.

In ihrer dicken Winterjacke ging Sybille durch das Haus und drehte die Thermostate der Heizkörper auf volle Pulle, nachdem sie kurz durchgelüftet hatte.

Auf dem Dachboden standen noch ein paar Umzugskartons. Mühselig transportierte Sybille die Kartons auf der schmalen Leiter durch die Luke. Fast verlor sie das Gleichgewicht auf der Schmalen stiege, als ein riesiges Exemplar von Winkelspinne auf der Hinterseite eines Kartons hervorkrabbelte. Mit einem verächtlichen Schreckensschrei warf sie den Karton so weit weg wie möglich.

Das arme Tierchen starb entweder am Schock durch den herumwirbelnden Untergrund oder an dem Karton, der direkt auf es fiel. Kreidebleich und mit zittrigen Beinen erreichte Sybille den sicheren Boden. Mit vor Ekel verzerrtem Gesicht stupste sie den Karton mit einem Besen an, mit dem sie sich vorher bewaffnet hatte. Ihr tat es schon irgendwie leid, dass das kleine Spinnentier sein Leben verloren hatte, anderseits war sie froh, dass sie sich nicht mehr mit ihm auseinandersetzen musste. Gegen ihre Angst vor Krabbeltieren, insbesondere Spinnen, kam sie nicht an.

Hilflos stand Sybille vor dem großen Kleiderschrank. Was sollte sie einpacken? Was konnte weg? Von Gefühlen überwältigt, fing sie an, zu weinen. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass diese Situation eintreffen würde. Sie schleppte sich in die Küche und suchte sich halbherzig etwas zum Abendbrot. Mit einem gesättigten Bauchwürde die Aufgabe besser zu bewältigen sein.

Zwei Scheiben Brot, das sich schon an beiden Seiten wölbte, und ein Stück Käse war alles, was noch halbwegs essbar war. Die Salami und den Kochschinken hatte sie gleich entsorgen müssen. Das karge Abendbrot spülte Sybille mit mehreren Gläsern koffeinhaltiger Limonade runter.

Sybille machte sich selber Mut, schnappte sich die Rolle mit den Müllsäcken und machte sich daran, ihre Kleidung auszusortieren. Anfangs eher halbherzig schob sie die Kleidungsstücke von rechts nach links. Danach wurde rigoros alles weggeworfen, was seit Jahrzehnten im Schrank vor sich hinschlummerte, in der Hoffnung, dass es irgendwann doch noch mal passen könnte.

Nach anderthalb Stunden belohnte sich Sybille mit ihrer Lieblingsserie im Fernsehen, einer Tafel Trauben-Nuss-Schokolade und einer Tüte Chips. Der Rest der Limonade musste auch noch daran glauben. Mit einem flauen Gefühl im Magen und aufkommendem schlechten Gewissen fiel Sybille gegen Mitternacht in einen unruhigen Schlaf.

Der Besuch beim Arbeitsamt am nächsten Tag trug auch nicht dazu bei, dass sie sich besser fühlte. Nachdem Sybille eine Stunde auf dem Flur gewartet hatte, machte ein anderer Antragsteller sie darauf aufmerksam, dass sie eine Nummer aus dem Automaten am Ende des Gangs ziehen musste. Der mitgeteilte Termin legte nur den Tag fest und ob man am Vor- oder Nachmittag vorstellig werden sollte, teilte ihr der nette Mann im gebrochenen Deutsch mit. Verärgert schaute sie auf die Uhr. Halb zehn. Es nützte ja nichts, wenn sie heute noch jemals drankommen wollte. Also zog Sybille eine Nummer, und zwei Stunden später saß sie auch schon im Büro der Sachbearbeiterin, die gestresst von der Frühstückspause und einer Geburtstagsfeier im Nachbarbüro im Akkord auf ihrer Tastatur herumhackte. Ihre Mittagspause um zwölf rückte näher und bis dahin mussten die bestellten Antragssteller auf dem Flur abgearbeitet sein. Überminuten wollte die junge Sachbearbeiterin nicht machen. Ohne von ihrem Bildschirm aufzuschauen, sprach sie Sybille an. „Setzen Sie sich. Legen Sie Ihre Unterlagen bitte auf den Tisch. Den Personalausweis dabei?“

„Äh … ja.“ Sybille kramte in ihrer Tasche. Ihr Brief mit der heutigen Einladung segelte zu Boden.

„Bewerbungsunterlagen? Wo sind Ihre Bewerbungsunterlagen?“

„Wie … was? Hab’ ich nicht dabei. Ich wollte mich …“

„Gute Frau, wir benötigen Ihre vollständigen Bewerbungsunterlagen, damit wir Sie weitervermitteln können. Wo ist Ihr Formular BA II 2?“

„Mein was?“

„Ihre Arbeitslosenbescheinigung!“

Sybille zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. „Hab’ ich nicht!“

Die Sachbearbeiterin rollte mit den Augen und zog ein Schnütchen. „Also, so geht das nicht. Sie müssen schon mitarbeiten. Sonst wird das nichts.“ Sie knallte Sybille das Blanko-Formular der Arbeitslosenbescheinigung nebst Merkblatt auf den Schreibtisch. „Haben Sie Ihre Kündigung dabei?“

„Nein, habe ich nicht. Es ist so, dass mein Mann mich vor circa zwei Wochen sitzen gelassen hat und …“

„Das tut hier nichts zur Sache. Privates gehört hier nicht her.“

„… hat mich auch gleich aus unserer Firma entlassen, weil …“

„Haben Sie einen Arbeitsvertrag? Gehaltsbescheinigung? Irgendwas in der Richtung?“

„Nein.“ Sybille wurde mulmig zumute. Kleinlaut sprach sie weiter: „Nein, hab’ ich nicht. Wir hielten es nicht nötig, einen Arbeitsvertrag zu machen. Also, Micha … mein Mann fand das für unnötig, und ich habe ihm vertraut. Ich habe schließlich die Firma gemeinsam mit meinem Mann – meinem Exmann – aufgebaut. Das Gehalt ging in einer Summe auf unser Konto, als Privatentnahme, verstehen Sie? Ich habe auch nie gedacht, dass sich daran je was ändern oder dass das noch mal so wichtig für mich werden könnte.“

Ungerührt fuhr die Sachbearbeiterin fort, ohne sie dabei anzusehen. „Füllen Sie zum nächsten Termin diese Bescheinigung aus. Wir benötigen die Kündigung und Ihre vollständige Bewerbung. Sie können mir auch alles per Mail zusenden. Aber so, wie ich das jetzt schon beurteilen kann, werden Sie kein Arbeitslosengeld bekommen. Sie waren wahrscheinlich überhaupt nicht richtig als Arbeitnehmer angemeldet. Privat krankenversichert?“ Ein bestätigendes Kopfnicken kam von Sybille. „Ist häufig so, wenn die Ehefrau im eigenen Unternehmen mitarbeitet. Steuergründe, verstehen Sie? Ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich Sie jemals vermitteln soll. Sie sind ja auch nicht mehr die Jüngste!“

„Also, ich bitte Sie!“, widersprach Sybille. „Ich bin gerade erst fünfzig geworden.“

„Sage ich doch! In dem Alter ist der berufliche Zug meistens abgefahren. Sie müssen nicht glauben, dass der demografische Wandel bei Ihnen eine Ausnahme macht. Die Medien berichten gern etwas anderes, aber die Realität sieht nun mal anders aus.“

„Das ist doch nicht möglich! Wovon soll ich denn leben?“

„Nun, Sie bekommen sicherlich Unterhalt von Ihrem Mann. Haben Sie Besitz?“

„Wir haben ein Haus.“

„Na bitte. Das müssen Sie sowieso verkaufen oder sich von Ihrem Mann auszahlen lassen. Wenn Sie keine Rücklagen mehr haben sollten, können Sie das Arbeitslosengeld II beantragen.“

Sybille war kreidebleich geworden. „Hartz 4? Ich? Das ist doch nicht möglich! Ich habe immer gearbeitet. War nie krank, jedenfalls nicht offiziell. Da muss doch was möglich sein?“

Die Sachbearbeiterin schaute ungeduldig auf die Uhr. Die Mittagspause rückte näher. Sie wollte es keinesfalls verpassen, mit ihren Kollegen zusammen in die Kantine zu gehen. „Tja, Sie können sich ja selbstständig machen. Sie haben schließlich Erfahrung in solchen Dingen.“ Der Drucker rappelte. „Ich drucke Ihnen die Informationen zur Existenzgründung aus. Legen Sie uns einen gut ausgearbeiteten Businessplan vor, und wir werden prüfen, ob bei Ihnen eine Förderung zum Tragen kommt.“

Sprachlos und völlig frustriert ging Sybille mit einem Stapel Papier in der Hand zu ihrem Auto. Wie in Trance fuhr sie nach Hause. Vorher fuhr sie noch am Supermarkt vorbei, um sich das Nötigste für die nächsten beiden Tage einzukaufen.

In ihrem Korb lagen neben Tiefkühlpizza, Brot und Aufschnitt eine Familienpackung Fürst-Pückler-Eis, drei Tafeln Schokolade, eine Tüte Gummibären, Salzstangen, Chips-Tüten und zwei Flaschen Rotwein. Beim Bäcker kaufte sie sich noch ein Creme-Törtchen und ein Marzipanhörnchen für den Nachmittag. Das würde sie nach diesem unerfreulichen Gespräch mit der reservierten Dame vom Arbeitsamt dringend benötigen.

Der angestaute Frust verhalf Sybille zu einem ungeahnten Energieschub. Sie krempelte ihre Ärmel hoch und sortierte in Rekordzeit den Rest ihrer Kleidung aus. Dabei heulte sie Rotz und Wasser und beschimpfte Michael aufs Übelste.

Die fünf gefüllten Müllsäcke brachte sie gleich zum Altkleidercontainer.

Zur Belohnung verspeiste sie ihr Kuchenpaket. Danach fühlte sie sich leer und ausgelaugt.

In eine Wolldecke gehüllt verbrachte sie den Abend mit Schokolade, Chips und einer Flasche Rotwein auf dem Sofa und schaute eine Liebesschnulze.

Am nächsten Tag wachte Sybille am späten Vormittag auf. Der Wein hatte es in sich gehabt. Ein Pochen an den Schläfen verriet ihr, dass es ein Fehler gewesen war, die zweite Flasche auch noch anzubrechen, nachdem die erste leer gewesen war.

Mit einem Stöhnen wuchtete sie sich aus dem Bett und schlurfte ins Bad. Ein knautschiger Strubbelkopf mit einem runden Gesicht und Doppelkinn sah ihr aus dem Spiegel entgegen. Wenig hilfreich für diesen Morgen.

„O Gott!“ Mühselig wusch sich Sybille das Gesicht, zog ihren Morgenmantel an und machte sich auf den Weg in die Küche. Ein starker Kaffee und eine Aspirin würden gegen diese rasenden Kopfschmerzen helfen.

Es war einer der letzten schönen Spätherbsttage vor dem Winter. Die Sonne schien, und es versprach, ein schöner Tag zu werden. Als ob das Universum Sybille zeigen wollte, dass nach schlechten Zeiten gute folgten. Sie beseitigte die Spuren ihres nächtlichen Gelages. Dabei schimpfte sie mit sich selber, dass sie so blöd gewesen war, wieder so viel in sich hineinzustopfen.

„Es ist ja kein Wunder, dass sich Michael nach einer anderen umgesehen hat. Sieh dich doch an, du blöde Kuh!“ Dabei kullerten wieder heiße Tränen ihre runden Wangen hinab.

Den Nachmittag nutzte Sybille, um ihre persönlichen Dinge einzupacken. Fotoalben, Filme, Bücher. Ihren hart erkämpften Thermomix, die Krups-Küchenmaschine sowie einige Pflanzen von der Blumenbank, die wie durch ein Wunder noch nicht dem Tod durch Vertrocknung zum Opfer gefallen waren, fanden gut gewässert den Weg in einen der Kartons.

Am Abend knabberte sie noch ein paar Salzstangen und trank ein Glas Wein. Den Rest der Flasche schüttete sie in den Abfluss.

Der Sonntag brach an, und nach einer heißen Dusche fühlte sie sich gut und gewappnet für den Tag. Bevor Sybille das Haus für immer verließ, saugte sie noch mal durch und räumte alles auf.

Ein seltsames Gefühl beschlich sie, als sie die Tür hinter sich zuzog und den Schlüssel im Schloss umdrehte. Noch konnte sie nicht sagen, was es war. Zum einen überfiel sie Wehmut und Traurigkeit, zum anderen war dieses Gefühl wunderbar und berauschend. Aus Gewohnheit wollte sie den Schlüssel in ihrer Tasche an seinem altbekannten Platz verstauen, verharrte aber in der Bewegung. Dann drehte sie sich um und warf ihn entschlossen in den Briefkasten.

Sybille atmete auf. Sie war erleichtert. Jetzt wusste sie auch, ihren Gefühlszustand zu beschreiben.

Frei! Sie fühlte sich endlich frei.

Und als ob es der Himmel gehört hatte, brach durch die Wolken die Sonne durch und umhüllte die Luft mit einem goldenen Schimmer.

Befreit von einer Last fuhr Sybille zurück zu ihrer Tante nach Oldenburg und ihrer neuen Zukunft entgegen.

Nun saß sie auf ihrem Bett und genoss die heimelige Atmosphäre. Ihre Gedanken gingen auf Reisen. Wie sollte es mit ihr weitergehen? Wovon sollte sie leben? Auf jeden Fall wollte sich Sybille am nächsten Tag ummelden und die Stellenbörse nach einem Job durchsuchen. Selbstständig machen? Womit sollte sie sich denn selbstständig machen? Die Worte der Sachbearbeiterin im Arbeitsamt schossen ihr wieder durch den Kopf, und ein dringendes Verlangen nach einer Tafel Schokolade überkam sie.

Es musste doch irgendwo Arbeit zu finden sein, und wenn sie im Supermarkt an der Kasse sitzen oder Putzen gehen musste. Davon war sie felsenfest überzeugt.

„Und wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtchen her.“ Seufzend sank sie in die flauschigen Kissen, bevor sie einnickte.

Am Nachmittag saß Sybille zusammen mit ihrer Tante Hilde auf der Veranda bei einem frischen Stück Kirschstreuselkuchen.

„Also, dein Kuchen, Tante Hilde, ist spitzenmäßig!“

„Danke, die Kirschen sind natürlich aus dem eigenen Garten. Gut, dass du hier bist, dann kommt wenigstens was weg. Ich habe so viel, ich könnte einen Laden aufmachen.“

Sybille wurde hellhörig. „Echt! So viel? Das wäre die Lösung in meiner momentanen Lage, da ich in nächster Zukunft ja kein Geld zu erwarten habe.“

„Ja, da kommt schon was zusammen. Die ganzen Obstbäume, Marillen, Pflaumen, Kirschen, Äpfel und Birnen. Alles in Gläsern eingelegt oder zu Marmelade oder Gelee eingekocht. Die Brombeeren habe ich ja noch vergessen. Dann das Gemüse – die Erbsen, Bohnen, Wurzeln, Radieschen, Zwiebeln, der Rettich und der Salat. Die Gurken. Im Mai kommt noch der Spargel dazu. Ich brauch so gut wie nichts einzukaufen. Im Gegenteil, vieles kann ich gar nicht aufessen. Es verkommt, und ich muss es auf den Komposthaufen werfen. Der Kürbis, der darauf wächst, freut sich.“

Sybilles Gedanken fingen an, zu rattern. „Und wenn wir tatsächlich einen Laden aufmachen würden?“

„Die Idee hatte ich auch schon. Aber auf meine alten Tage, und jetzt im Moment … Jedoch bekäme ich dann endlich wieder Platz im Keller. Ich kann ja kaum noch etwas einlagern, so voll ist es dort.“

„Wo könnte man denn hier – also, rein theoretisch – einen Ladenraum mieten?“

„Mieten? Da bräuchtest du nichts zu mieten. Die alte Garage steht leer. Regale sind schnell angeschafft, und ein Tresen mit Kasse dürfte auch nicht allzu viel kosten. Vorn an der Straße wird ein Klappschild aufgestellt, fertig. Und beim Friseur und dem Bäcker hier in der Gegend müsste man Handzettel auslegen. Das könnte man ganz ohne großen Aufwand machen. Und wenn keiner kommt, dann muss ich das sowieso alles entsorgen.“

„Tante Hilde, du bist ein Genie!“ Sybille war sofort Feuer und Flamme. Der blöden Ziege vom Arbeitsamt würde sie es zeigen!

Der Hofladen entstand schon vor ihrem geistigen Auge. Es kribbelte ihr so in den Fingern, dass sie sofort in die Garage gehen musste. Hilde lächelte beruhigt in sich hinein.

Die Remise hatte an beiden Seiten große Flügeltüren, sodass man mit dem Auto direkt in den Garten durchfahren könnte. Früher hatte dort das Automobil von ihren Großeltern gestanden. Leider hatte sie an die beiden Herrschaften so gut wie keine Erinnerung mehr. Irgendwann hatte Hilde das Auto verkauft, das in den Dreißigern ein Straßenflitzer gewesen war. Seitdem stand die Garage leer. Nur ihr altes Damenfahrrad stand dort ,mit Spinnennetzen verwoben und platten Reifen, einsam und verlassen an der Wand.

Danach machte sich Sybille auf den Weg in den Keller. „Ach, du liebe Güte!“ Sie traute ihren Augen nicht und schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

Das kleine Siedlungshaus war voll unterkellert und platzte fast aus allen Nähten. An den Wänden standen Regale, und einige standen auch quer in den Raum hinein. Auf dem Boden reihten sich unzählige Steinguttöpfe aneinander.

„Tante Hilde, das grenzt ja an einem Messi-Syndrom!“

Auch Hilde war langsam rückwärts die steile Holztreppe runtergestiegen. Außer Atem kam sie unten an. „Ich kann doch die schönen Sachen nicht einfach wegwerfen!“

„Was ist denn hier drin?“ Sybille zeigte auf einen der Töpfe am Boden.

„Dillgurken.“ Stolz glänzte in ihren Augen.

„Und hier?“

„Sauerkraut und daneben der Rumtopf von diesem Jahr neben dem vom letzten Jahr!“

„Und daneben der vom Jahr davor, nehme ich an.“

Die Bretter der Regale bogen sich bedenklich. Dicht an dicht standen die Einmachgläser mit Inhalt aus dem Garten jeglicher Art gefüllt. Auf einem langen Bord reihten sich dicht an dicht die Marmeladengläser.

„Wer soll das denn alles essen? Das schaffst du allein ja niemals!“

„Das ist ja mein Problem!“

Sybille las die säuberlich aufgeklebten Zettelchen an den Gläsern.

„Pflaumen 1976? Das ist doch nicht dein Ernst!“

Hilde zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Ich weiß! Die Idee mit dem Hofladen habe ich ja schon seit Langem, aber an die Umsetzung habe ich mich noch nicht getraut. Vor allem jetzt, wo ich so schlapp bin. Aber nun bist du ja da. Morgen fahren wir in den Baumarkt und kaufen Farbe. Und Regale bekommen wir im Möbelhaus. Das wäre doch gelacht, wenn wir beide das nicht schaffen würden, was?“

„Tante Hilde, mit Farbe und Regalen ist das nicht so einfach erledigt! Wir brauchen eine Genehmigung vom Finanzamt. Wir verkaufen Lebensmittel, da brauchen wir sicherlich auch eine Genehmigung vom Gesundheitsamt.“

„Gut, du gehst morgen gleich zum Finanzamt und beantragst so eine Verkaufserlaubnis.“

„Gewerbeschein heißt das.“

„Wie auch immer, und ich telefoniere mit dem Gesundheitsamt und erfrage, welche Kriterien wir erfüllen müssen.“

„Auf jeden Fall müssen wir alles Alte entsorgen. Das können wir nicht verkaufen. Höchstens zwei Jahrgänge. Alles, was drei oder vier Jahre alt ist, können wir für den eigenen Bedarf verwenden, wenn es noch haltbar ist. Darüber hinaus müssen wir sowieso alles wegwerfen. Man kann ja hier keinen Schritt machen, ohne dass etwas umfällt! Was ist das denn für ein Blechding da hinten in der Ecke?“

„Das? Das ist … Na ja, damit kann man Schnaps brennen. Einen recht guten, möchte ich meinen. Hier müsste auch noch irgendwo welcher stehen. Ah, hier. Kirschbrand!“

„Kannst du das noch?“

„Ja, das ist gar nicht so schwer. Ich hab’s für die Nachwelt aufgeschrieben.“ Flüsternd fuhr sie fort: „Ich brenn mir gelegentlich ein Fläschchen.“

„Ist das legal?“

„Als Hobby, für den Eigenbedarf? Bestimmt! Wenn wir den Schnaps in kleinen Fläschchen abfüllen und es nicht an die große Glocke hängen? Dann merkt es ja keiner. Das geht bestimmt. So als Geheimtipp, sozusagen!“

„Ich glaube, da kommen wir nicht mit durch. Das muss ich mit dem Zoll klären. Immerhin gibt es das Brandweinmonopolgesetz!“

„Ach, wenn keiner das weiß?“

„Und wie stellst du dir vor, sollen wir den Schnaps abrechnen?“

„Na, gar nicht! Braucht doch keiner zu wissen.“

„Hmm, das ist mir zu unsicher, den Schnaps so unter dem Ladentisch schwarz zu verkaufen. Das grenzt doch an Kriminalität!“

„Ach was! Das bisschen Schnaps. Bisher hat das auch keiner gemerkt. Habe gar nicht gewusst, dass du so anständig bist.“

„Und ich nicht, dass du so draufgängerisch bist, liebe Tante. Könnte man das Obst aus den alten Gläsern dazu verwenden?“

„Ja klar. Das geht prima.“

„Perfekt, dann müssen wir nicht so viel wegschmeißen. Wenn wir den Schnaps in kleine Flaschen füllen und hübsch verzieren, können wir den auch noch verkaufen, wenn ich das mit dem Zoll geklärt habe!“ Sybille schaute sich um. „Und das hast du alles selber eingeweckt? Mann, was für eine Arbeit!“

„Das kannst du wohl sagen. So ein großer Garten macht schon ordentlich Arbeit. Aber sie ist auch schön. Ich liebe meinen Garten über alles. Nur in diesem Jahr habe ich ihn etwas vernachlässigt. Na ja … das wird wohl nächstes Jahr anders werden.“

Hilde lächelte ihre Nichte geheimnisvoll an. Sybille lächelte zurück.

„Wenn das klappen würde, wäre das echt toll! Ich frage Alexander, ob er uns bei den Handzetteln behilflich sein kann. Er kennt sich mit Computern gut aus und hat sicherlich noch eine gute Idee.“

Sybille richtete im Kopf schon ihren Hofladen ein, machte eine Checkliste, was sie alles besorgen und erfragen musste. Seit Langem hatte sie das Gefühl, dass es wieder bergauf ging.

Spätsommer - Liebe

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