Читать книгу Spätsommer - Liebe - Mathilde Berg - Страница 11

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Ein eisiger Wind wehte auf dem Friedhof. Als Sybille nach dem Trauergottesdienst hinter dem Sarg nach draußen getreten war, hatte es angefangen, zu schneien. Nun verwandelte sich der Schnee gerade in einen unangenehmen Schneeregen. Die eiskalten Flocken stachen Sybille wie spitze Nadeln ins Gesicht. Neben ihr lief ihr Sohn Alexander.

Ein paar Nachbarn ihrer Tante waren gekommen und trauerten mit ernsten Mienen neben ihnen an der Grabstelle. Etwas abseits stand ein unbekannter Mann im mittleren Alter und in einem langen, pelzbesetzten Ledermantel. Auf dem Kopf trug er eine Fellmütze mit hochgeklappten Ohrenschützern.

Vor Sybille tat sich die tiefe Grube auf, die an den Seiten mit grünem Kunstteppich ausgelegt war. Wie durch Watte drangen die Worte des Pastors an ihr Ohr. „Voll Trauer stehen wir an diesem Grab, das für uns Ausdruck der Vergänglichkeit des irdischen Lebens ist. Doch durch Jesus Christus ist es auch zum Zeichen der Hoffnung geworden. So verbindet sich nun der Schmerz des Abschieds mit der Hoffnung auf eine ewige Heimat, die Gott unseren lieben Verstorbenen schenkt.“

Die beiden Bretter wurden gerade von einem Sargträger entfernt. Der helle Eichensarg wurde mit zwei Seilen von den anderen gehalten.

„Wir lassen dich nun los. In die ewige Heimat mögen Engel dich geleiten; die Chöre der Engel mögen dich empfangen und Gott möge seine Arme weit ausbreiten, dich bei deinem Namen nennen und dir zurufen: Komm wieder, Menschenkind. Wir lassen dich nun los.“

Jemand schniefte laut ins Taschentuch.

Langsam und behutsam wurde der messinggriffbeschlagene Sarg nach unten in die Tiefe hinabgelassen.

„Von Erde bist du genommen; zu Erde wirst du wieder werden. Gott selbst wird dich auferwecken am jüngsten Tag.

Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.“

Bei den letzten Sätzen warf der Pastor mit einer Schippe Sand ins offene Grab. Das fast gefrorene Erdreich kam hart auf das Eichenholz auf. Dieser Ton ging Sybille durch Mark und Bein.

Nun war sie an der Reihe, als letzten Gruß Sand in die Tiefe zu werfen. Die anderen Beerdigungsgäste schlossen sich ihr schweigend an.

Alexander stand während der Beileidsbekundungen neben seiner Mutter. Seine Nähe war ihr eine große Unterstützung.

Als Letztes kam der mysteriöse Mann. Er reichte ihr die Hand. „Mein herzliches Beileid.“ Er hatte einen sehr starken Händedruck. Ihr Ring an der rechten Hand quetschte unangenehm die beiden danebenliegenden Finger. Der Schmerz war überdeutlich in den kalt gefrorenen Gliedern zu spüren. Er hatte nun Sybilles volle Aufmerksamkeit.

„Ich bin Dmitri.“ Sein russischer Akzent war unüberhörbar. „Ich hatte Sie angerufen.“

„Ach, tut mir leid! Ich dachte, Sie hätten sich verwählt.“

Sie erinnerte sich daran. Die Anrufe hatten an Hildes Todestag angefangen. Sie hatte immer wieder aufgelegt, wenn er sich gemeldet hatte. Sybille hatte keine Verbindung mit einem Dmitri und ihrer Tante herstellen können. Hilde hatte ihn nie erwähnt.

Die Ereignisse an diesem Tag hatten sich überschlagen. Nachdem ihre Tante eingeschlafen war, saß Sybille noch ein paar Stunden an ihrem Bett, hielt ihre Hand und nahm Abschied. Dann musste sie wohl oder übel Dr. Weber anrufen. Der Totenschein musste ja ausgestellt werden. Das Beerdigungsinstitut musste informiert werden.

Als der ausgemergelte Körper ihrer Tante in den Zinksarg gelegt wurde, hatte Sybille das Gefühl, dass ihre Seele aus dem Körper getreten war. Sybille schaute dem Leichenwagen winkend hinterher, bis er um die nächste Kurve aus ihrem Sichtfeld verschwand.

Von ihrem Pflichtbewusstsein angetrieben, informierte sie die Nachbarn, die mit größter Bestürzung die Nachricht aufnahmen. Sie benachrichtigte, so wie es Hilde gewünscht hatte, ihren Anwalt Dr. Stövner, der Wort hielt und sich um den Papierkram und alles Weitere kümmerte. Zum Schluss teilte sie Alexander die traurige Nachricht mit.

Er war wie alle anderen sehr bestürzt. „Mama, ich komme zu dir!“

„Aber dein Studium!“

„Das ist jetzt Nebensache. Ein paar Tage kann ich aussetzen. Außerdem kann ich vieles online erledigen.“

„Ach, Junge, das würdest du tun?“

„Na klar, mach kein Ding draus. Morgen Nachmittag bin ich da.“

Für Sybille war es ein großer Trost, jetzt nicht ganz allein vor dieser Sache zu stehen.

Sybille hatte gerade aufgelegt, da klingelte es. Sie öffnete die Tür mit dem Gedanken, es könnte ein Kondolenzbesuch oder Ähnliches sein.

Weit gefehlt. Vor ihr stand, Kaugummi kauend, Michael. Sein Arm ruhte lässig auf einem Bein, das auf der ersten Stufe stand. Das hellblaue Basecap trug er tief ins Gesicht gezogen. „Hallo, Billy, alles gut bei dir?“

„Nicht wirklich.“

„Na, wird schon werden. Du nimmst die Sache viel zu schwer. Sieh es einfach als Chance.“

„So, so. Was willst du?“ Eiseskälte klang aus ihrer Stimme.

„Ja … also … ich … Weißt du … es ist so, dass …“

„Nun drucks nicht so rum und komm auf den Punkt. Ich habe weder die Zeit noch die Lust hier rumzustehen und deinem Gelaber zuzuhören.“

Vor Schreck, solche Töne von Sybille zu hören, verschluckte er sein Kaugummi. Seine Augen wurden für einen Moment ganz groß. Sybille befürchtete schon das Schlimmste. Sie sah sich schon, wie sie den Heimlich-Handgriff anwandte, während Daniela hysterisch herumschrie.

„Okay!“ Ein umständliches Räuspern war zu hören. „Hör zu. Es geht um den Wagen, den du mitgenommen hast. Er ist auf die Firma zugelassen und, na ja, du gehörst ja nicht mehr dazu. Darum muss ich den Wagen wiederhaben. Aus versicherungstechnischen Gründen, natürlich. Du verstehst?“

„Natürlich! Er steht in der Garage.“ Sybille nahm den Schlüssel vom Schlüsselbrett und warf ihn Michael zu, der ihn gerade noch auffangen konnte. „Sonst noch was?“

„Sollte ich nicht reinkommen und wenigstens Guten Tag sagen? Immerhin weiß ich ja, was sich gehört! Oder ist der alte Drachen nicht da?“ Er lachte sich schlapp über seinen eigenen Witz.

„Nein, ist sie nicht!“

„Ups, noch mal Glück gehabt.“ Michael lachte gekünstelt.

„Bärli?“ Daniela Meyer stieg aus dem Sportwagen, der am Straßenrand geparkt war und den Sybille bisher nicht beachtet hatte. „Scha-hatz? Huhu, Frau Spe-hecht!“

„Was macht die denn hier?“

„Einer muss ja den Wagen – also, den anderen Wagen – zurückfahren!“

„Schon klar.“ Sybille ging voraus und öffnete das Garagentor. Michael stieg in das Auto, fuhr ihn nach vorn und überreichte Daniela die Schlüssel. Vor Freude sprang sie von einem Bein auf das andere und klatschte dabei in die Hände.

„Oh, Bärli, danke, danke, danke. Du bist der Beste!“ Sie knutschte Michaels Gesicht ab.

Hundewelpe, schoss es Sybille durch den Kopf, als sie das Gartentor verschloss. So viel Albernheit war im Moment unerträglich für sie.

„Grüß mir den Drachen!“ Michael hob zum Abschied die Hand.

„Kann ich nicht. Siegfried ist dir zuvorgekommen.“

„Siegfried? Welcher Siegfried? Dani, nun lass doch mal.“

Daniela verzog beleidigt das Gesicht.

„Sie ist tot! Tante Hilde ist heute Morgen gestorben.“

Mit dümmlich dreinschauenden Mienen ließ sie Michael und sein Hundebaby stehen und knallte die Haustür zu.

„Grrrr.“ Mit vor Zorn geballten Fäusten stand sie im Hausflur, als das Telefon klingelte. „Hallo?“

„Hier ist Dmitri, der nächste Liefertermin …“

„Sorry, falsch verbunden!“

Noch immer verspürte sie die Wut auf Michaels Überraschungsbesuch und warf den Hörer des orangefarbenen Telefons auf die Gabel, sodass die Wählscheibe wackelte.

Die nächsten Tage verliefen ähnlich anstrengend. Der Pastor, die Frau vom Beerdigungsinstitut und einige Kondolenzbesucher gaben sich die Klinke in die Hand.

So viele Dinge mussten entschieden und organisiert werden. Sybille war froh, dass Alexander an ihrer Seite war und sie so gut wie möglich unterstützte. Immer wieder kamen zwischendurch diese ominösen Telefonanrufe von diesem merkwürdigen Dmitri.

Jetzt stand er vor ihr. Sybilles Gedanken kamen blitzschnell in die Gegenwart zurück. „Sie kannten meine Tante?“

„Nur geschäftlich. Ich habe sie sehr geschätzt. Madam, hier eine kleine Aufmerksamkeit. Wir hören voneinander, hoffentlich. Ich melde mich in den nächsten Tagen. Bitte legen Sie nicht gleich wieder auf. Wir haben etwas zu besprechen.“ Er reichte ihr einen Umschlag. Verbeugte sich und ging.

Sybille schaute auf das Kuvert in ihrer Hand und dann zu Alexander. Der zuckte mit den Achseln. „Was denn für Geschäfte? Ob er ein früherer Kollege war?“

„Keine Ahnung, Mama. Der erinnert mich eher an einen militärischen Offizier oder an einen Mafiaboss.“

„Ach, Alex, du schaust zu viele Filme! Mafiaboss. Ausgerechnet Tante Hilde.“

„Ich habe ja nur gesagt, an wen oder was dieser Mann mich erinnert.“

Sie schüttelte ungläubig den Kopf, doch bevor sie etwas erwidern konnte, ergriff jemand anderes das Wort.

„Frau Specht?“ Edda Schulz stand vor Sybille.

„Frau Schulz?“

„Die Nachbarn fragen, wo der Leichenschmaus stattfindet. Eine Tasse Kaffee könnten wir jetzt alle gebrauchen. Bei dem Wetter. Mein Rheuma plagt mich heute ungemein.“

Der Beerdigungskaffee! Sybille hätte sich beinah die Hand auf die Stirn geschlagen. Das hatte sie total vergessen. „Ja, also … ich hatte mir gedacht, dass wir bei uns zu Hause noch zusammensitzen könnten. Das ist für alle auch viel bequemer, wenn keiner mehr bei diesem furchtbaren Wetter noch sonst wohin fahren muss.“

Zum Glück hatte sie am Vortag eine Hühnersuppe gekocht. Die konnte sie gleich ihren Gästen reichen. Improvisieren war schon immer ihre Stärke gewesen. Ihre Tante hatte immer gesagt: „Man kann ja dumm sein, aber man muss sich immer zu helfen wissen.“

Für ihren spontanen Einfall hätte sich Sybille auf die Schulter klopfen können.

Um den Esstisch im Wohnzimmer saßen die direkten Nachbarn Edda Schulz und Gunter Gundermann. Von gegenüber Lotti Jakobsen und Agnes Fröhlich und von hinten der Gartennachbar Jan Korfhage sowie Sybille und Alexander. Leise klapperten die Löffel in den Suppentassen, während der Kaffee in der Küche in dem Automaten vor sich hin prudelte. Ein angenehmer Geruch strömte durchs Haus und verteilte Normalität.

„Sie war ja viel zu jung“, sagte Lotti, während sie ihren Kaffee rührte.

Edda nickte. „Die Guten gehen immer zuerst.“

„Das hat man ja gar nicht geahnt, dass es ihr so schlecht ging“, warf Gunter ein. „Aber das war ja typisch für Hilde. Diese Geheimniskrämerin.“

„Ich habe sie den ganzen Sommer schon nicht so viel zu Gesicht bekommen“, kam der Kommentar von Jan.

„Gewicht?“, fragte Agnes. „Hatte sie so viel zugenommen?“

„Nein“, kam es von mehreren Seiten.

„Wir haben Hilde schon länger nicht gesehen“, antwortete Jan.

„Oh, sie konnte nicht mehr sehen? Trug sie denn überhaupt eine Brille?“

Edda rollte mit den Augen. „Agnes, kauf dir endlich ein Hörgerät! Wir …“, Edda zeigte in die Runde, „… haben Hilde schon lange nicht …“, dabei wackelte sie mit dem Zeigefinger vor ihren Augen hin und her, „… mehr gesehen!“

„Ihr habt sie immer gesehen? Na toll! Und mir habt ihr nicht gesagt, dass es ihr so schlecht geht. Feine Freunde seid ihr.“ Agnes war beleidigt.

Edda wandte sich entschuldigend an Alexander. „Sie ist neben einem Sägewerk aufgewachsen, wissen Sie?“

Er seufzte und verabschiedete sich aus der Runde mit der Entschuldigung, er müsse noch für sein Studium lernen. Zuerst ging er aber zu seiner Mutter in die Küche, die gerade auf allen vieren in den Schränken nach Keksen kramte. „Mama, ich halte das nicht aus mit den älteren Herrschaften. Ich ziehe mich zurück. Da musst du bitte allein klarkommen.“

„Ich mache das schon. Nur … wo sind die Kekse? Ich weiß, dass Hilde immer welche gebacken hat. Irgendwo müssen die doch sein. Ah, da sind sie ja!“ Unter dem Küchenbuffet, in einer großen Blechkiste, wurde sie fündig.

Alexander ging nach oben und Sybille mit einem Teller voll Kekse zurück ins Wohnzimmer zu ihren Gästen. Sie bot ihnen noch ein Likörchen an, das sie dankend annahmen.

Alexander saß währenddessen oben im Gästezimmer und versuchte wirklich, zu lernen. Immerhin stand sein Abschlussexamen unmittelbar bevor. Damit er sich besser konzentrieren konnte, hatte er sich seine In-Ear-Kopfhörer in die Ohren gesteckt. Das hatte er sich in seiner WG in Münster angewöhnt. Doch heute schien es nicht zu klappen. Von unten kam ein ungewohnter Lärm. Wenn man bedachte, dass unten eine Trauergesellschaft beim Kaffee zusammensaß, klang es dafür ungewöhnlich heiter.

Er nahm seine Kopfhörer aus den Ohren. Tatsächlich! Es schallte Gelächter noch oben. Irgendetwas schien furchtbar komisch zu sein. Zuerst vermutete er dass sich die Nachbarn an schöne Zeiten mit der Verstorbenen erinnerten. Doch das Gelächter schien gar nicht abzunehmen. Alexander ging nach unten. Er musste dem auf den Grund gehen.

Im Wohnzimmer traute er seinen Augen nicht. Die älteren Herrschaften und seine Mutter bogen sich vor Lachen. Die Tränen liefen ihnen die Wangen runter, und sie hielten sich die Bäuche. „Was ist denn hier los?“

Seine Mutter war gerade dabei, sich zu fangen. „Keine Ahnung, Alex! Es ist nur gerade alles so saukomisch.“ Wieder prustete sie los.

„Junger Mann, möchten Sie auch einen Keks? Die sind von Hilde!“ Plötzlich fing Jan Korfhage an, zu weinen, was bei den anderen wieder eine Lachsalve auslöste.

Alex schnupperte an den Keksen. „Habt ihr alle davon gegessen?“ Die Frage erübrigte sich. Er schaute von einem zum anderen und sah die geweiteten Pupillen. „Ach, du meine Güte! Seid ihr verrückt geworden? Man kann euch ja keine fünf Minuten allein lassen. Okay, ich werde jetzt jeden nach Hause bringen. Es wäre besser, wenn Sie sich jetzt ins Bett legen und schlafen.“

„Sie Spielverderber!“, kam es von Edda.

„Sie Wüstling!“, schimpfte Agnes. „Sie kommen nicht in mein Bett!“

Alexander seufzte. Konnte aber die gemütliche Runde mit einigen Überredungskünsten auflösen und brachte dann jeden der Nachbarn wohlbehalten nach Hause.

Erschöpft sank er in einen Sessel. Er hatte das Gefühl, mit einer Horde Elefanten gerungen zu haben. Es war gar nicht so leicht gewesen, die Herrschaften dazu zu bewegen, die richtige Richtung einzuschlagen. Seine Mutter hatte schon mit dem Kopf auf dem Esszimmertisch geschlafen, als er von seiner Verteiltour zurückgekommen war. Er hatte ihr nur eine Decke umgelegt und sie schlafen gelassen.

„Je oller, desto doller!“

Spätsommer - Liebe

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