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Das Milizsystem am Anschlag

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Georges Theiler von der FDP hatte schon im Jahr 1999 einen «Vorstoss gegen die Vorstossflut» lanciert. Darin brachte der Luzerner Volksvertreter das Kernproblem in drei Sätzen auf den Punkt: «Die Anzahl der eingereichten Vorstösse beträgt pro Jahr etwa tausend. Diese Flut führt dazu, dass die Wirkung der Vorstösse gegen Null zu sinken droht. Damit raubt sich das Parlament seine eigenen Instrumente.» Ironischerweise scheiterte der Antrag daran, dass das Parlament nicht fähig war, ihn in der vorgeschriebenen Frist zu behandeln. 2009 setzte Theiler mit einer parlamentarischen Initiative nach, ein Jahr später folgte This Jenny (SVP) mit einer «Motion zur Eindämmung der Flut persönlicher Vorstösse» – alles ohne Erfolg. Die Volksvertreter dachten nicht daran, sich zu beschränken.

Was entstand, war eine gesetzgeberische Hektik, in der einerseits die Parlamentarier eifrig vorstiessen, initiierten, motionierten – sodass andererseits der Freiraum der Bürger tatsächlich enger zuparagrafiert wurde. Im Frühjahr 2014 wies die «Neue Zürcher Zeitung» nach, wie das Hüst und Hott insbesondere das Strafrecht erfasst hatte: Seit 1970 war das Strafgesetzbuch nur vereinzelt angepasst worden, ab den 1990er-Jahren jedoch häuften sich die Neuerungen. Nach 2000 gab es in fast jedem Jahr mehr als drei Revisionen, zweimal waren es sogar deren acht. «Wir bauen Gesetze in immer höherer Kadenz. Wenn wir nicht bremsen, müssen wir aufschreiben, was noch erlaubt ist», liess sich der Aargauer Nationalrat Beat Flach (Grünliberale) zitieren. Georges Theiler diagnostiziert, es fehle den Politikern der Mut zur gesetzgeberischen Lücke: «Offensichtlich herrscht die Illusion vor, man könne menschliche Fehlleistungen mit Gesetzen kontrollieren.»

Es ist kein Zufall, dass die Hektik gerade das – weitherum beachtete – Strafrecht erfasst hat. Viele erklären den gesetzgeberischen Eifer mit dem Wunsch der Volksvertreter, populistisch aufzufallen: Sie machen Parlamentsarbeit für die Schlagzeilen, Paragrafen für die Galerie. Obwohl die Medien, wie sich noch zeigen wird, gar nicht so entscheidend sind für eine Politikerkarriere, fühlen sich die Volksvertreter einem politisch-medialen Komplex zugehörig, in dem sich beide Seiten innig miteinander beschäftigen; dabei verkehrt man praktischerweise oft per Du. Der Versuchung, der Öffentlichkeit von Zeit zu Zeit eine süffige Gesetzesidee zu servieren, ganz gleich, ob diese auch wichtig ist, konnten in den letzten Jahren wenige widerstehen. Bei der Wirkung haperte es dann allerdings, wie Georges Theiler zu Recht geahnt hatte. Die Politologen Daniel Schwarz und Adrian Vatter haben errechnet, dass der überwiegende Teil der parlamentarischen Initiativen und Motionen scheiterte. Die Erfolgsquote lag irgendwo zwischen 10 und 15 Prozent.

Man kann es jedoch auch positiv formulieren: Das Parlament, die direkteste Vertretung des Volkes, erhebt heute seine Stimme gegenüber Regierung und Verwaltung um einiges lauter. Auch das trägt bei zu einer erhöhten Unruhe im Staat Schweiz – einem Phänomen, das hier noch öfters auffallen wird. Seit je pochten Schweizer Parlamentarier auf ihre Unabhängigkeit, sie waren Berufs-, Branchen-, Kantons-, Gemeinde-, Verbands-, Eigeninteressen- und Weltanschauungs-Vertreter – keineswegs nur Parteisoldaten. Fraktionsdisziplin war eher mühsam herzustellen, zumal im Vergleich mit Nachbarländern wie Deutschland oder Frankreich, wo das Regierungs-Oppositions-System an sich schon Lagerdruck ausübt. Wirklich problematisch geworden ist die Buntscheckigkeit innerhalb der Schweizer Parteien zwar nicht; im Nationalrat stimmten die Fraktionen nach 2010 sogar geschlossener als in den 1990er-Jahren. Aber zur gewohnten Eigenwilligkeit der Volksvertreter kam, dass die Teamfähigkeit der Parteien gelitten hat. Der alte bürgerliche Bundesratsblock aus FDP, CVP und SVP zerbrach nach 1992, und je nach Thema entstanden andere Parteipäckchen – Päckchen, die manchmal die Akteure selber erstaunten. SVP, CVP und FDP stimmten in der Legislatur 2011–2015 bloss noch bei einem Drittel der Nationalratsentscheide gemeinsam. In 24 Prozent der Fälle verbündeten sich FDP und CVP mit den Sozialdemokraten gegen die SVP. In 13 Prozent der Abstimmungen trat eine Mitte-Links-Verbindung (CVP plus SP) gegen eine Mitte-Rechts-Paarung (FDP plus SVP) an; dies ergaben Auswertungen der Parlaments-Watchsite «Smartmonitor».

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