Читать книгу Wer regiert die Schweiz? - Matthias Daum - Страница 21

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Der Herr Nationalrat, den wir hier Johannes Müller nennen wollen, quält sich um fünf Uhr dreissig morgens aus dem Bett. Es ist ein Dienstag im September, es läuft die zweite Woche der Session, dieses Quartalstreffens der Parlamentarier. Sein Einzelzimmer im Hotel Bern, Zeughausgasse 9, ist seit drei Legislaturperioden dasselbe, also seit seiner Wahl nach Bern, man kennt sich. Der Herr Nationalrat, der nicht zu den bekannten Gesichtern der Bundespolitik gehört, könnte, wenn er denn wollte, auch ohne Licht vom Bett ins Badezimmer finden. 63 Jahre alt ist Müller jetzt, damit liegt er gut zehn Jahre über dem Altersdurchschnitt im Parlament. Nach dieser Legislatur wird Schluss sein, das hat er sich geschworen und seiner Familie versprochen.

Im Frühstücksraum warten dieselben Menschen wie immer, seine Kollegen und Kolleginnen aus dem Rat, viele junge Frauen sind das unterdessen, denkt Müller immer mal wieder. Er setzt sich zu einem Ständerat aus der Innerschweiz, von dem er weiss, dass er ihn um diese Tageszeit ansprechen darf. Früher, da waren sie hier unter sich, unter Christdemokraten also, die Linken sassen anderswo. Das war, als die CVP noch klar bürgerlich war. Heute sind nicht einmal mehr die Hotels eine sichere Burg. Alles geht durcheinander, man verbündet sich mal mit diesen und mal mit jenen. Die Christdemokraten gefallen sich als Zünglein an der Waage, koalieren mal mit den Rechten, mal mit den Linken.

Müller und sein Kollege besprechen am Frühstückstisch das, was Männer halt besprechen, wenn ihnen nichts anderes einfällt, Dinge, die der Tag so bringen wird: die anstehenden Traktanden im Nationalrat, das neue Alkoholgesetz, die Änderung des Sanktionenrechts, das Rüstungsprogramm. Müller lebt im Wallis als Bauer, das heisst, er nennt sich noch so, es klingt so gut, so bodenständig. In Tat und Wahrheit stehen natürlich schon lange andere im Stall und auf dem Feld. Aber den Hof, den hat er immerhin noch. Die Politik, sie lässt ihm keine Zeit mehr, dem nachzugehen, was ihm sein Vater, Gott hab ihn selig, beigebracht hat. Der Beruf ist zum Hobby geworden, die Politik zum Beruf.

DIE POLITIK, SIE LÄSST
IHM KEINE ZEIT MEHR,
DEM NACHZUGEHEN,
WAS IHM SEIN VATER,
GOTT HAB IHN SELIG,
BEIGEBRACHT HAT.
DER BERUF IST ZUM
HOBBY GEWORDEN,
DIE POLITIK ZUM BERUF.

Um sieben Uhr morgens ist Müller, die schwer beladene Aktentasche in der Rechten, zu einem ersten Gespräch verabredet, im «Bellevue», The Leading Hotels of the World, ein befreundeter Bauernlobbyist wartet, man bespricht letzte Details für die Beratung des Alkoholgesetzes im Nationalrat, dem der Ständerat schon zugestimmt hat. Christdemokrat Müller ist Mitglied der vorberatenden Kommission für Wirtschaft und Abgaben, der WAK, die Allianzen mit SVPlern und Grünen sind geschmiedet, die Reihen geschlossen, man wird es schon durchbringen – auch wenn diese Totalrevision gegen viele Werte verstösst, die Müller in seinen Wahlkampfreden hochhält, zum Beispiel den freien Markt. Ja, es ist schon ein Coup, den sie hier gleich landen werden, sie haben ihn gut getarnt, mit Jugendschutz, Verkaufsverbot für Alkohol nach 22 Uhr und Mindestpreisen.

Im Wesentlichen geht es Müller und den Seinen um die sogenannte Ausbeutebesteuerung, die im Rahmen des neuen Alkoholgesetzes eingeführt werden soll. Die Abgabe will die Schweizer Schnapsproduzenten gegenüber den ausländischen Importeuren bevorteilen: Ihre Spirituosen würden nur halb so hoch besteuert wie diejenigen der Konkurrenz ennet der Grenzen, die ihre hochprozentigen Wässerchen in der Schweiz verkaufen wollen. Für den Zürcher Rechtsprofessor René Matteotti, der im Auftrag der Eidgenössischen Alkoholverwaltung ein Gutachten dazu verfasst hat, ist der Fall klar: «Das verstösst gegen die WTO-Verträge, ist völkerrechtswidrig und willkürlich.» Und seine Kollegin in der Kommission, die grünliberale Nationalrätin Kathrin Bertschy, hat in einer Zeitung gesagt: «Das ist ein Buebetrickli der Bauern.» Ansonsten aber ist das Thema völlig unter dem Radar der Medien durchgeflogen. Gut so.

Nationalrat Müller ist einerlei, wenn sich da ein paar Bedenkenträger äussern, sollen die nur reden, ihre Stimme hat ja eh kein Gewicht. Es geht um Grösseres, um das Überleben eines Schweizer Wirtschaftszweigs, der schon arg dürr ist. Der Markt, nein, er regelt nicht alles, das hat ja wohl die Vergangenheit gezeigt, es ist zu schützen, was man schützen kann. Und das ist ihm gelungen. Es war nicht einfach, das muss man sagen. Es war ein seltener Glücksfall, denkt sich Müller beim Café Crème. Sowieso ist es ungeheuer schwierig geworden, Mehrheiten zu finden. Die Dinge sind halt nicht mehr so einfach, schwarz oder weiss, es gibt wechselnde Mehrheiten, wer etwas will, muss schon Mitstreiter gefunden haben, bevor ein Geschäft in eine Kommission geht. Und da es immer öfter immer schneller gehen muss, fehlt meistens die Zeit, sich überhaupt rechtzeitig eine Meinung zu bilden, geschweige denn Kompromisse zu finden. Denn dazu braucht es eine Vertrauensbasis. Leider, denkt sich Müller, ist das Misstrauen zur Konstanten geworden, seitdem das Land so polarisiert ist in Linke und Rechte, in SP und SVP. Die Parteilinie ist, gerade bei den Polparteien, zum obersten Gebot geworden.

Nationalrat Müller macht sich auf ins Parlament, Haupteingang, die Schleuse ist schnell passiert, das Wachpersonal winkt ihn durch. Die Treppe hoch, vorbei an der Statue der drei Eidgenossen, und nach hinten durch ins Café des Alpes. Das ist der Ort, an dem sich die Parlamentarier mit den Lobbyisten treffen, den Verwaltungsbeamten und den Schülerklassen, die die Demokratie besichtigen wollen, ein schöner Ort. Das Bergpanorama grüsst durch die Fensterfront, Tische aus edlem Holz, die nach Wunsch auch weiss gedeckt werden. Der Kellner fliegt heran, noch ein Café Crème soll es sein. Dann ist es Zeit. Johannes Müller schnappt sich am Eingang zur Wandelhalle einen Apfel, den seine Berufskollegen, die Bauern, gratis zur Verfügung stellen, grüsst im Vorbeigehen ein paar Bekannte, drückt sich vorbei an den Kameras und Fotografen und setzt sich auf seinen Platz in der Mitte des Nationalratssaals. Da bimmelt schon der Nationalratspräsident mit seiner Glocke und eröffnet die Sitzung.

Vieles hat sich in den drei Legislaturen geändert, aber manches ist immer noch wie früher, denkt sich Müller. Wer etwas in diesem Parlament erreichen will, der muss sich an die Richtigen wenden. Und das sind immer noch Männer, Amstutz, Schwaller, Pfister, Levrat – oder wie die Leithammel alle heissen. Sie haben die Autorität, sich in ihrer Partei durchzusetzen, auf sie wird gehört.

Es läuft wie erwartet, die Redner zanken sich über das Offensichtliche, es geht um Glaubensfragen, Ideologie, die liebe Jugend, die man vor sich selbst schützen muss und so weiter und so fort. Die Bundesrätin hält dagegen, appelliert an die Stimme der Vernunft und an die Fakten. Jeder spielt seine Rolle. Und am Schluss wird der Kommissionsmehrheit zugestimmt, die Minderheitsanträge werden abgelehnt. Es gibt noch ein paar Abweichungen zum Ständerat, die wird man aber bereinigen können. Johannes Müller sitzt die ganze Zeit bequem in seinem Stuhl und drückt zur richtigen Zeit den richtigen Knopf. Manchmal tun ihm die jungen Menschen leid, die auf der Galerie das Geschehen verfolgen und meinen, einer richtigen demokratischen Debatte zu folgen. Sie wissen nicht, dass alles abgesprochen und vorbereitet ist, Überraschungen sind praktisch ausgeschlossen. Unvorhergesehenes kann nur bei den Bundesratswahlen passieren, weil da geheim abgestimmt wird. So haben sie den Blocher aus dem Bundesrat entfernt, unwürdig war der, einer, der sich aufführte, als sei er der Chef der Schweiz. Das aber würde der Christdemokrat Müller natürlich nie öffentlich sagen.

Zusammen mit seinen Kommissionskolleginnen und -kollegen aus der WAK geht Johannes Müller zum Mittagessen ins Restaurant Lötschberg, Zeughausgasse 16, Hochburg der welschen Parlamentarier, aber Müller kann ja gut Französisch. Auch wenn die Szene nicht mehr so ghettoisiert ist wie früher: Das «Diagonal», Amtshausgasse 18, im Schatten des Eidgenössischen Departements des Innern, gehört immer noch vornehmlich den Linken, den Grünen und den Journalisten. Das «Lorenzini», Hotelgasse 10, den Wichtigen. Das«Bellevue Palace», Kochergasse 3–5, den Bürgerlichen. Und im «Schwellenmätteli», Dalmaziquai 11, unten an der Aare, da lässt man den Tag ausklingen, vor allem im Sommer. Herr Müller hebt das Weissweinglas, es gibt etwas zu feiern. Die einheimische Schnapsbranche ist gerettet.

Nach dem Mittagessen legt sich Nationalrat Müller für ein kurzes Schläfchen hin, im Männerzimmer, oben im dritten Stock des Bundeshauses, zwei Sofas, drei Sessel, einmaliger Kostenpunkt 450 Franken, hier darf niemand rein, der nicht gewählter Bundespolitiker ist. Das haben die Männer den Frauen abgeschaut, die sich schon früher eine Rückzugsmöglichkeit geschaffen haben. Die allerdings haben eine kleine Küche, ein Bad und Designermöbel von Eileen Gray. Dann wird er von einer SMS geweckt, die ihn auf eine kurz bevorstehende Abstimmung im Ratssaal aufmerksam macht. Müller springt auf, eilt in den Saal, drückt einen Knopf – und sprintet ins Café des Alpes, wo bereits ein Mitarbeiter einer PR-Agentur, eine der grossen mit Tagesansätzen von 3000 bis 4000 Franken, auf ihn wartet. Er unterbreitet ihm ein mittels Powerpoint-Präsentation auf seinem Laptop beeindruckend aufgemachtes Argumentarium.

Das Leben als Parlamentarier ist hektisch geworden. Nicht die Anzahl offizieller Sitzungstage wurde mehr, das hat Müller mal bei einer jungen Politologin gelesen, sie blieb seit den Anfängen der Schweizerischen Bundesversammlung praktisch unverändert. Aber der ganze Zirkus drumherum. Ein gescheites Sekretariat müsste Müller aus dem eigenen Sack berappen. Vor allem diejenigen, die im medialen Rampenlicht stehen, können kaum mehr abschalten. Aber das sind nur ein paar Wenige, die Medien zerren immer wieder die Gleichen in die Arena. Manchmal wundert sich Müller über die Journalisten, die ihn, wenn überhaupt, am liebsten samstags anrufen. Dann geht es um irgendwelche Indiskretionen, zu denen er sich empören soll. Grundsätzliches will man von ihm fast nie hören, es geht eigentlich immer um sogenannte Statements, kurze, knackige Sätze. Kürzlich ist Müller ein Satz eingefallen, auf den er stolz ist: «Die Lobbyisten sind auch deshalb so stark, weil die Kritikfähigkeit der Medien so schwach geworden ist.»

Eine Grossbank hat Nationalrat Müller als WAK-Mitglied um 19 Uhr zum Stehdinner ins «Bellevue» geladen, weiss gedeckte Tischchen, erlesene Häppchen, im Hintergrund ein Pianospieler. Müller hat Dutzende von solchen Terminen während den drei Sessionswochen. Die Bank will sich bedanken, weil die Politik dem FATCA-Abkommen zugestimmt hat. Der «Foreign Account Tax Compliance Act» sieht einen, zumindest teilweise, automati schen Austausch von Kundendaten mit den US-amerikanischen Behörden vor. Das war wichtig, um die amerikanischen Steuerbehörden zu besänftigen. Der Nationalrat gönnt sich einen guten, schweren Rotwein, verabschiedet sich aber früh, er muss ja morgen wieder zeitig raus.

Im Hotelzimmer liest er noch ein paar Akten, versucht zu verstehen, was nur Experten verstehen können, und fällt um Mitternacht in sein Bett, das er auch ohne Licht gefunden hätte. Kurz vor dem Einschlafen, denkt er an die älteren Kollegen, die im Amt verstarben, die Gehetzten, die einen Herzinfarkt erlitten, oder die Jungen, die, eben noch voll im Saft, Knall auf Fall den Bettel hinschmissen, weil sie nicht mehr konnten. Vielleicht ist er wirklich langsam zu alt für dieses Geschäft, das man Politik nennt.

Johannes Müller ist eine Kunstfigur, die nach vielen Gesprächen mit Parlamentariern entstanden ist. Er ist sozusagen das goldene Mittelmass der Schweizer Bundespolitik.

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