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„MEINE“ ALPEN
ОглавлениеIn die Berge bin ich schon fast immer gefahren. Das erste Mal mit sechs Jahren. Es ging nach Schladming, zu Sepp und Elsa im Untertal. Damals war das noch eine recht lange Fahrt. Ich erinnere mich noch, wie wir im Untertal ankamen und ich das erste Mal den Dachstein sah. Wir hielten an, am Rohrmoos, von wo man den riesigen Kalkstock gut sehen kann. Als Kind des Waldviertels waren mir solche Höhen bis dahin unbekannt. Die riesigen Berge stellten mein gewohntes Landschaftskonzept auf den Kopf. Ich war verzaubert. Und bin es noch heute.
Für mich war das Gebirge eine fremdartige, leere, freie, wilde, verwunschene Landschaft. Ich erfuhr von den dort lauernden Gefahren, ich erlebte mein erstes (furchterregendes) Gebirgs-Gewitter in einen Regenponcho gehüllt auf den Schultern meines Vaters. Und ich lernte, dass mit den Abgründen nicht zu spaßen ist. Es war meine erste Erfahrung mit so etwas wie „Wildnis“.
Die Alpen waren für mich ein Übergang zu einer wilderen, freieren Welt, wo es Wind und Licht, Hitze und Kälte, hartes Gestein und weiche Matten (mit stechenden Gräsern) und jede Menge frische Luft, angereichert mit dem Duft der Berge, gibt.
Ich verbrachte die meisten meiner kleinkindlichen Urlaube in den Niederen Tauern, winters wie sommers. Den Geruch des alten Holzhauses oder des heimelig flackernden Herds im Zimmer (es gab noch keine Zentralheizung) habe ich heute noch in der Nase. Die Heimfahrten waren stets von Trauer begleitet. Und ich sehnte mich nach der nächsten Alpenfahrt.
Seitdem bin ich den Alpen treu geblieben – als Gast, als Umweltschützer und als Fotograf. Im Zuge vieler familiärer Aufenthalte, Bergtouren, Skiurlaube und beruflicher Reisen konnte ich beobachten, wie sich die Alpen veränderten, und gewann Einblicke in ihr Innenleben. Als Greenpeace-Campaigner und -Aktivist erhielt ich Einsicht in die vertrackte Problematik der alpinen Verkehrsmisere. Gemeinsam mit Einheimischen organisierte ich Proteste entlang der Transitachsen. Das Problem ist längst nicht entschärft.
Für Natur-Reportagen begab ich mich auf die Suche nach den letzten ursprünglichen Winkeln in den Alpen. Und wurde fündig: In abgelegenen Hochtälern und Gebirgszonen haben Urlandschaften überlebt, die heute teilweise unter Schutz stehen. Das gilt leider nicht für alle „wilden“ Orte. Für Naturschutzfachleute gehören die Alpen zu einem der bedeutendsten Hotspots der Biodiversität in Europa. Gleichzeitig gelten sie als eines der am gefährdetsten Gebirgs-Ökosysteme der Welt.
Die Naturschätze der Alpen sind auch ein wertvolles Kapital für die hier lebenden Menschen: Dezentraler, „sanfter“ Naturtourismus ist für viele Talschaften vermutlich die einzige Chance, die Abwanderung zu bremsen.
Im Februar 2017 besuchte ich Zermatt. Das ehemalige Bergdorf unter dem Matterhorn ist nur durch eine Art Gebirgs-S-Bahn von Großparkplätzen weiter unten im Tal erreichbar. Eine Großstadtszenerie am Rande der bewohnbaren Welt. Die Gornergrat-Bahn brachte mich auf über 3000 Meter. Dort steht ein Gebäudekomplex aus Hotel, Shoppingmall und Gastronomie. Drinnen werden Messer und Uhren verkauft, im Selbstbedienungsrestaurant gibt es teuren Cappuccino (und vertrocknete Lasagne).
Draußen wehte ein Föhnsturm. Eine chinesische Touristin sprach mich an. Sie sei hier mit ihrer Familie. Für einen Tag. Um „den Berg“, das Matterhorn, zu sehen. „Der Berg“ war allerdings unter dicken Föhnwolken verborgen. Die Gruppe trug Straßenschuhe, fror und alle waren im Gesicht dick mit Sonnencreme beschmiert. Jeder im Taktverkehr eintreffende Zug spülte weitere Selfies schießende Städter auf den Gornergrat, die dann etwas verloren an diesem grandios-unwirtlichen Ort herumstanden. Rundum herrschte Pistenbetrieb. Auf etlichen Graten waren Liftstationen zu sehen.
Hier waren die Grandezza und die Crux der Alpen auf einem Bild versammelt: die an sich nutzlose Schönheit der wilden Berge und der Versuch, sie der geschäftigen Menschheit zugänglich zu machen. Die Menschen sind hier aber ganz offensichtlich nur Gäste. Wenn die Elemente hier ungnädig werden, dann ist der Spuk schnell wieder vorbei. Technische Großanlagen sind besonders verwundbar. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es hier in 30 Jahren aussehen könnte – wenn Gletscher- und Permafrostschmelze ihre unheilvollen Spuren vertieft haben werden.
Dieses Buch ist keine umfassende oder wissenschaftliche Aufarbeitung der Situation der Alpen. Vielmehr eine subjektive Zusammenstellung von aktuellen Schlaglichtern auf einige Themen, die mir wichtig erscheinen. Über Lösungen wurde viel nachgedacht und geschrieben. Die Materialien, die in Zusammenhang mit der Alpenkonvention erarbeitet wurden, bieten eine Unzahl von mehr oder weniger konkreten Ansätzen. Es gibt keine Patentlösung. Aber vielversprechende Modelle für einen besseren Umgang mit unseren Bergen und für ein gutes Leben in dieser einzigartigen Region.
Die Alpen verdienen einen radikalen Wandel in unserer Wahrnehmung und in unserem Umgang mit ihnen. Möge dieses Buch einen Anstoß dazu geben.