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HEILE, ROMANTISCHE ALPEN-WELT
ОглавлениеDie einsetzende Natur- und Alpenbegeisterung in den urbanen Zentren wurde auch genährt durch Veröffentlichungen wie jene des Schweizer Naturforschers Horace-Bénédict de Saussure, der als Pionier der Alpenforschung und Wegbereiter des Alpinismus gilt: Er bestieg als Erster das Klein Matterhorn und führte eine erste wissenschaftliche Besteigung des Mont Blanc durch, bei der er den Berg als höchsten Gipfel Europas vermaß.
Der frühromantische Bestseller „Julie oder Die neue Heloise“3 des Genfer Schriftstellers, Naturliebhabers und Gesellschaftskritikers Jean-Jacques Rousseau spielte eine wichtige Rolle in der Verbreitung eines neuen, naturaffinen Alpenbildes: Natur und Ursprünglichkeit als Gegenentwurf zur städtischen Welt.
Die ersten Pioniere des Tourismus kamen vor allem aus England. Die meisten Alpen-Bewohner werden das Eintreffen der ersten Touristen mit Kopfschütteln quittiert haben. Doch das neue Phänomen bot auch wirtschaftliche Chancen: Quartiergeber, Gastronomen, Bergführer, Transporteure usw. konnten damit Geld verdienen; die Tourismusindustrie entstand. Die Alpen wurden zur Projektionsfläche für das Geschäft mit der (Wochenend- und Ferien-)Massenflucht aus dem naturfernen, ungesunden, städtischen Alltag. Dabei geht das Substrat der Sehnsucht – die unversehrte Landschaft – zusehends verloren. Die heile Alpenwelt wird gerade dort, wo sie besonders wirkungsvoll ihre Anziehungskraft entfaltet, Opfer derselben.
Im späten 19. Jahrhundert entstand der Begriff der Heimatliteratur. Diese Gegenbewegung zum Naturalismus stellte der um sich greifenden Modernisierung eine heile Welt des ländlichen Raums, der Natur und der Berge mit traditionellen, moralischen Menschen gegenüber. Besonders erfolgreich war Ludwig Ganghofer, dessen Bücher Millionenauflagen erzielten, und die fortan als Modelle für unzählige, mehr oder weniger kitschige Nachahmungen dienten.
Ganghofers narrative Elemente fanden auch Eingang in „Heimatfilme“, die ab 1910 produziert wurden. Die Filme von Arnold Franck („Die weiße Hölle vom Piz Palü“, 1929) lieferten wichtige Impulse. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Heimat-Sujets in der Blut-und-Boden-Literatur und in zahlreichen Filmen ideologisch missbraucht. Die Nationalsozialisten förderten die Naturverklärung in ihrer kulturpolitischen Propaganda. Allen voran der Südtiroler Luis Trenker wurde berühmt dafür, Heimat und erhabene Bergwelt als idealisierte Projektionsfläche mit der Dekadenz des Stadtlebens zu kontrastieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam in Deutschland eine Welle an meist recht schlicht gestrickten Heimatfilmen auf, die den noch mit den Folgeschäden des Krieges kämpfenden Menschen ein wohliges, stereotypes Bild von vertrauter Heimat präsentierten.
Im Alpinismus entwickelte sich zwischen den beiden Weltkriegen ein „heroisches“ Zeitalter. In den italienischen Dolomiten wurden sehr schwierige Erstbegehungen im VI. Grad frei geklettert. Herausragend war die Besteigung der bis dahin als unbegehbar eingestuften überhängenden Nordwand der Großen Zinne im Jahr 1933. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen Trend zur technischen Erschließung vieler Alpenwände (mit viel Eisen versicherte Routen), der in den späten Sechzigerjahren durch ein Revival des Freikletterns abgelöst wurde. Reinhold Messner und sein Bruder Günther knüpften an die Tradition der Dreißigerjahre an und eröffneten neue Schwierigkeitsgrade, etwa am Heiligkreuzkofel in den Dolomiten (1968).