Читать книгу Schwarzbuch Alpen - Matthias Schickhofer - Страница 9
DIE ALPEN IM KLIMASTRESS
ОглавлениеAm stärksten sind die Veränderungen dort sichtbar, wo es am kältesten ist: beim Eis. Die Gletscher sind daher eine Art Klima-Alarmanlage. Gletscher sind fremdartige Zonen, eine Welt aus Kälte, Eis, Schutt, Lawinen, Moränenseen, reißenden Bächen und heimtückischen Spalten. Gletscher werden im Schnee geboren: Unter den meterhohen Schneeauflagen in ihren am höchsten gelegenen Bereichen verwandeln sich die Schneekristalle unter Druck in körnigen Firn, der allmählich zu Eis verdichtet wird. Aus 80 Zentimeter Schnee wird etwa ein Zentimeter Eis. Das gewaltige Eigengewicht lässt das Eis langsam abwärts gleiten. Wenn ausreichend viel Eis ausreichend schnell von oben nachschiebt, können Gletscher bis tief in die grünen Talzonen hinabreichen. Früher stießen einige der größten Alpengletscher bis in die Bergwaldzone vor. Doch dieses Phänomen ist heute auf nicht einmal eine Handvoll Gletscher beschränkt, wie den sich ausdünnenden Aletsch- und den Morteratschgletscher in der Schweiz oder das französische Mer de Glace am Mont Blanc.
So bedrohlich Gletscher wirken mögen, haben sie doch stets hilfreiche Dienste für die Bewohner der tiefer gelegenen Bereiche der Alpen geleistet. Ihr wichtigster Beitrag: Oben, in ihrem „Nährgebiet“, nehmen sie Wasser in Form von Eis auf und geben es nach vielen Jahren unten, im „Zehrgebiet“, wieder ab. Gletscher sind also gigantische Pufferspeicher, die den Winterniederschlag verzögert im Sommer in die Flüsse speisen. Diese sogenannte „Gletscherspende“ garantiert auch im Sommer eine reichliche Wasserführung in vielen großen Alpenflüssen. In heißen, trockenen Sommern, wenn der Winterschnee auf den Bergen fast vollständig verschwindet, fällt diese Wasserzufuhr dank Schmelzwasser besonders groß aus. Noch. Denn die Alpengletscher schwinden seit mehreren Jahrzehnten kontinuierlich dahin.
Bedingungen wie im extremen Hitzesommer 2003 könnten in wenigen Jahrzehnten der Normalfall sein. Dann wird der sommerliche Wassersegen der Gletscher nicht mehr für eine Linderung der Wassernot sorgen, weil die Gletscher weitgehend abgeschmolzen sein werden. Die Alpenflüsse könnten dann im Hochsommer extremes Niedrigwasser führen – bedingt durch das Ausbleiben der Gletscherspende in Kombination mit früher Schneeschmelze in den Bergen und fehlenden Niederschlägen. „Mit den versiegenden Bächen und Flüssen sinken auch See- und Grundwasserspiegel im Unterland und die erhöhte Verdunstung trocknet die Böden aus. Der Bedarf an Wasser für die Landwirtschaft steigt, aber um die Nutzung des verbleibenden Wassers entstehen ernste Konflikte.“7 Wasser werde ja auch gebraucht als Trink- und Brauchwasser, ist lebensnotwendig für Fische in Gewässern, für die Stromerzeugung und die Kühlung von Kernkraftwerken oder für das Löschen von (in Zukunft wahrscheinlich häufigeren) Waldbränden.
Der Bericht „Klimaänderung und die Schweiz 2050“ des „Beratenden Organs für Fragen der Klimaänderung“ OcCC nennt beunruhigende Zahlen: „Drei Viertel der Wasservorräte, welche in den Gletschern langfristig gebunden sind, werden alleine bis 2050 wahrscheinlich verschwinden: Dies sind etwa 40 Kubikkilometer Wasser.“8 Es sei daher zu erwarten, dass während Trockenperioden eine stärkere Konkurrenz ums Wasser entsteht.
Das Schmelzwasser aus dem vereisten Hochgebirge hat noch einen anderen Effekt: Es ist kälter und wird von entsprechend angepassten Arten bewohnt. Gletscherbäche transportieren außerdem Unmengen an Gesteinsmehl, das die zig Tonnen schweren Gletscher im Zuge ihrer Abwärtsbewegung an ihrer Unterseite vom Fels abschleifen. Diese „Gletschermilch“ setzt sich als Sediment im Flachland ab.
Gletscher und gefrorene Schutthalden (Blockgletscher) bewegen große Gesteinsmassen. Aber sie tun das langsam und meistens berechenbar. Steinschlag, Bergstürze, Lawinen, Muren und Hochwässer bedrohen Siedlungsräume stärker. „Seit der historischen Besiedlung der Gebirgsräume hat der Mensch versucht, mit diesem Risiko sinnvoll umzugehen. Er ist dabei davon ausgegangen, dass Klima und Natur in engen Grenzen relativ konstant bleiben – eine Annahme, die für die kommenden Jahrzehnte kaum mehr gelten kann.“9
Die Gletscher sind aber auch abseits ihrer technischen „Funktion“ von Bedeutung. Sie sind die weiße Krone der Alpen. Ihr Anblick lockt jedes Jahr Hunderttausende Touristen in das Gebirge. Besucher-Hotspots wie die Franz-JosefsHöhe beim österreichischen Paradegipfel Großglockner oder der Gornergrat bei Zermatt sind Schlüssel-Attraktionen. Der Pasterze-Gletscher unter den Wänden des Großglockners löst sich jedoch zusehends auf: Der kilometerlange Talgletscher ist bereits weitgehend von seinem Nährgebiet abgeschnitten. Im „Hufeisenbruch“, wo noch vor einigen Jahren bizarre Eisgebilde die steilen Talflanken überzogen, klafft jetzt eine offene Wunde aus Stein. Der Großteil des Eisbruchs ist weg. Wissenschaftler geben der unteren Pasterze nicht mehr viele Jahre; in Zukunft wird es dort nur mehr schuttbedecktes „Toteis“ geben.
In den letzten 150 Jahren haben die Alpengletscher bereits mehr als die Hälfte ihrer früheren Ausdehnung eingebüßt. In höheren Lagen, wo Felswände das Eis beschatten oder Lawinen für ausreichend Nachschub sorgen, wird sich das Eis länger halten. Aber auch hier schmilzt in heißen Sommern fast der ganze „Altschnee“ ab und das Eis ist der Sonne ausgesetzt. Wird der stolze „Glockner“, Österreichs höchster Gipfel, in ein paar Jahrzehnten ein kahler Steinberg sein?
Viele kleinere Gletscher hat dieses Schicksal schon ereilt. In Hitzesommern reicht die Auftauzone bis ganz hinauf in die Gipfelregion, unzählige Wasserfälle rauschen zu Tal. Auch in den Sommerskigebieten und an den „Gletscherstraßen“ bietet sich ein deprimierendes Bild: graues bis schwarzes Eis, unterbrochen von Plastikmatten, die wie riesige Pflaster Teile der sterbenden Gletscher länger am Leben erhalten sollen. Dazu noch die im Winter angehäuften Schneelager, die über den Sommer unter weißen Planen gebunkert werden. Im Rekord-Sommer 2003 haben die Alpengletscher 5 bis 10 Prozent ihres Volumens verloren.
Die siechen Gletscher bergen auch neue Gefahren für Bergsteiger: Spalten entstehen. Vor allem da, wo das Eis auf den benachbarten Fels trifft, tun sich meterbreite Rand-Klüfte auf. Alpine Wege müssen gesperrt oder mit Leitern versichert werden.
Der Klimaforscher Herbert Formayer vom Institut für Meteorologie an der Universität für Bodenkultur Wien bestätigt die traurige Perspektive für die alpinen Eiswelten10: „Die Gletscher sind nicht im Gleichgewicht. Auch wenn jetzt gar kein weiterer Anstieg der Emissionen mehr erfolgt, werden die Gletscherzungen ziemlich bald weg sein.“ Die Zerfallserscheinungen seien bereits überall zu sehen. Natürlich dauere es einige Zeit, bis diese 20 bis 30 Meter dicken Eismassen ganz weg sind. In den nächsten zehn bis 15 Jahren werden die großen Gletscherzungen aber weitgehend verschwunden sein, erklärt Formayer. „Ende des Jahrhunderts wird es zwar noch Gletscher geben, aber nur mehr kleine Flächen in nordseitigen Karen über 3500 Meter Höhe, die dann eher wie Schneefelder aussehen werden. Die Bilder der großen Gletscher werden wir sehr bald verlieren.“
Dass sich die Alpengletscher in einem massiven Ausmaß zurückziehen, belegt der Bildband „Gletscher im Treibhaus“ von Sylvia Hamberger und Wolfgang Zängl11 eindrucksvoll. Die Autoren haben dafür Gletscher im Sommer 2003 neu fotografiert und alten Postkarten gegenübergestellt. Die Website www.gletscherarchiv.de zeigt auch aktuellere Vergleichsfotos. Die deprimierende Bildersammlung beweist, dass sich die Gletscher der Alpen in fortschreitender Auflösung befinden, und straft all jene Lügen, die den Klimawandel als Erfindung oder Panikmache abtun.
Die Gletscherschmelze bringt noch eine weitere Gefahr mit sich: Die Hänge im Gletscherumfeld werden instabil. Noch vor 150 Jahren reichte die Gletscherzunge des Unteren Grindelwaldgletschers, die sich östlich der 3870 Meter hohen Schweizer Berg-Prominenz Eiger ins Tal bewegt, bis auf eine Seehöhe von 1000 Meter hinab. Der Ort verdankte dieser atemberaubenden Kulisse seine Popularität als Urlaubsort. Der Gletscher ist heute nur mehr ein Abklatsch seiner einstigen Pracht: Mehr als die Hälfte des Eisvolumens ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den Lütschi-Bach hinuntergegangen. Statt wilder Eisbrüche ist heute ein schuttbedecktes Gletschervorfeld zu sehen. Der obere Gletscher ist in zwei Teile zerfallen, die untere Eismasse ist vom Eisnachschub abgeschnitten und dämmert als schmutziges „Toteis“ dahin.
Im Juni 2006 tat sich ein großer Spalt in einem Felsabbruch an der Ostflanke des Eigers oberhalb des Grindelwaldgletschers auf. Der Riss vergrößerte sich rasch und ein Teil der Wand löste sich vom Berg. Am 13. Juli stürzten 600.000 Kubikmeter Fels auf den darunter liegenden Rest des Gletschers. Der zurückweichende Grindelwaldgletscher hatte den Felswänden ihre Stabilität genommen. Früher fixierten die Eismassen die Felspartien als eine Art Widerlager. Durch den Rückzug des Eises kommt es zu einer „Entspannung im Fels und Druckentlastungsklüfte tun sich auf“, erklärt Gletscherforscher Wilfried Haeberli.12 In die Risse eindringendes Schmelz- und Regenwasser kann das Gestein sprengen, wenn es wieder friert.
Mit Vor-Ort-Messungen, Fernerkundungstechniken und Modellrechnungen haben Michael Zemp, Wilfried Haeberli und ihre Kollegen von der Universität Zürich die jüngere Geschichte und die Zukunft der Alpengletscher analysiert. Ihre Berechnungen haben ergeben, dass die Alpen bis zum Ende des Jahrhunderts fast völlig eisfrei sein könnten.13 Eine durchschnittliche Erwärmung der Sommertemperaturen um drei Grad könnte die heute noch bestehende alpine Gletscherdecke bis auf 10 Prozent der Gletscherausdehnung von 1850 reduzieren. Bei einer Temperaturerhöhung von fünf Grad würden die Alpen fast vollständig eisfrei sein. Nur jenseits der 4000-Meter-Marke könnten Eisreste der zunehmenden Hitze trotzen.
Nachdem 90 Prozent aller Alpengletscher kleiner als einen Quadratkilometer sind, werden die meisten Gletscher in den europäischen Alpen wohl bereits in den kommenden Jahrzehnten verschwinden. Auch kleine Gletscher und Eisfelder können Probleme verursachen, wenn sie sich auflösen: Zieht sich das Eis zurück, legt es große Mengen Schutt frei, die bei starken Niederschlägen als Muren zu Tal gehen können.