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Im Ozean der Parabelströme

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Was steht im Mathnawi?

Das indische Sprichwort »Alles, was es gibt, steht im Mahhabharata. Alles, was nicht im Mahhabharata steht, gibt es nicht« könnte auch auf Rumis Mathnawi zutreffen. Alle können untertauchen im Fluß ohne Ufer, im Meer der Seele, in seines Liedes Riesenteppich, im bodenlosen Wildwuchs, im Kompendium und Sammelbecken orientalischer Parabeln, von Legenden, Schnurren, Schwänken, Witzen, Geschichten, Einsichten, wundersam verschachtelt und verschlungen, in der Gedankenflora, im prismatisch sich drehenden, irisierenden Formulierungsdschungel mit aufgehenden Knoten, Ebenenwechseln (sprach Rumi von plätscherndem Wasser, forderte er seine Zuhörer auf, einzutauchen in die Bedeutung dieser Worte, statt ins Plätschern), ständigem Rauf- und Runterzooming ineinandergespiegelter Dinge, Holzkisten, die zwischen Hausrat und dem Käfig des Körpers oszillieren, von der Mücke zum Elefanten, vom Weltbrandstifter Pharao zum Geistentzünder Musa (Moses), von der Fledermaus zur Sonne, vom Stein bis zu Allah, und zurück zu Elefant und Stein, ein Geschlingere zwischen zwei, drei, vier Ebenen, nimmermüdem Dualismus, der in Facetten und Nuancen schillert und zerfasert, Wahnwitz und Wahrheit, die ständig ineinander umschlagen. Engelsfedern band Rumi an Eselsschwänze, auf daß der Esel aufglänze und vielleicht zum Engel werde. Allerschönste Aufschwünge und Hinwärtsbewegungen, vom Schlamm, aus dem keiner einen Fuß ziehen kann, bis zur Himmelsdurchquerung unter Beiseitelassung dann sogar des Himmels! Vorformen von »Sechse kommen durch die ganze Welt« blühten. Einem Jüngling, der durch sechshundert Schleier eine Antwort Gottes gehört zu haben glaubte, platzte vor Aufregung fast die Gallenblase. Spötter bellten als Hunde den Mond an. Gottesbeweise schwammen obenauf im Sturzbach der Gleichnisse: Unsichtbar blieb Allah nur, weil auch Wind nur ablesbar wird am herumgewirbelten Dreck. Kaum begab Rumi sich in Badestuben, sah er Leiber als Kleider, die man auch noch ablegen müßte, um wirklich nackt zu sein, Leiber und Leichen als Kleider. Imposant – und schier unwiderleglich – des Metaphernspenders und -speiers Maulana Dschelaluddin Rumis Darlegung, das Existente, genau wie in Hindustan, sei bloß Schaum und Garnichts, also doch wohl Samsara, und umgekehrt: das scheinbar Nichtexistente das einzig wirklich Vorhandene – alles Metaphern- und Parabelfluten, die weniger nach Koran klingen als Bhagavatgita, Manichäismus und Gnosis. Vollsaftige, quicklebendige, improvisatorische Verse, wahnwitzig, obszön, dämonisch, verrückt, orientalisch undiszipliniert, redundant, geschwätzig, nervend, Themen totreitend. Bettler, denen weder Brot noch Fett noch Mehl noch Wasser gegeben wurde, hoben im Mathnawi sofort den Rock, um dem Geizhals ins Haus zu kacken. Ozean multiphon gequirlter Märchenströme: Suleiman (Salomo) forderte die Königin von Saba auf, nicht länger die Sonne anzubeten, so als wäre Rumi nie in dieser Richtung schwach geworden. Ein beim Seitensprung ertappter Richter versteckte sich in einer Holzkiste, so als wenn Rumi bereits Giovanni Boccaccio wär (geboren dreißig Jahre nach Rumi).

Erquickliche Animismen prasseln unablässig; herzerhebender Panpsychismus floriert – Salomo sprach mit Pflanzen; und alle Dinge gewannen im Mathnawi Stimme: Erde sprach zum Körper: »Kehr zurück zu mir!« Licht sprach zur Maus: »Hier kommst du nicht rein!« Tag und Nacht befaßten sich mit Wahrheit. Der Hals der Leute war zu eng, Wahrheit zu schlucken; aber das Meer vermochte Moses’ Worte zu verstehen. Wasser fragte nach seinem Trinker. Sogar Abstrakta, wie zuvor in Fariduddin ’Attars Musibatname (Buch des Leidens), erhoben jederzeit das Wort: »Wudschud (Sein) sprach: ›Komm, ich bin köstlich!‹ Verderbnis sprach: ›Geh, ich bin nichts.‹« Bei der Auferstehung würde nicht nur die Zunge sprechen, sondern jedes einzelne Glied, also der Fuß z. B. sich bezichtigen, den Weg der Lust gegangen zu sein, oder die Rute, unkeusch gewesen zu sein. All diese Unendlichkeiten hingen nur als ein Atom neben Allahs Unendlichkeit, und nur als ein Krümel neben Rumis Reservoir an weiteren Geschichten, die, wenn er sie alle auch noch diktiert hätte, keine vierzig Kamele hätten abtransportieren können. Rumi sah sowohl sich wie jeden Sufi und Menschen als importierten Elefanten, der vom Mutterland Indien träumt, und als heimwehverzehrten Papageien in einem Käfig für Torkelnde.

Die Welt – ein Brunnenschacht, und ich darin ein Eimer, der im Tod raufgezogen wird ans Tageslicht. Den Elefanten erwähnt Rumi im Mathnawi 95mal, die Ameise 45mal, das Atom 109mal, den Mond 427mal, Engel 166mal, Esel 545mal.

Sei Sonne, sonst bleibst du Fledermaus

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