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Wenn alle meine Teilchen Wollust mit Gott treiben

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Die Lebensgeschichte von Rumis Vater Baha’uddin Walad (1150–1231)

Walad (d. h. Sohn, Kind), wie im Orient jeder Bub gerufen wird, wuchs auf im Land eines goridischen Königs, am nördlichen Quellfluß des Oxus (heute: Amu Darja), stromaufwärts von Balch (im späteren Tadschikistan), sehr abgelegen, bei Wahsch (Lewkand, Sang-tuda). Als Kind hatte er zu leiden unter seiner Mutter, einer zänkischen Frau (Name nicht überliefert).

Baha’uddin wurde kein Schulhaupt, schuf weder Werke über seine theologischen noch seine juridischen Schwerpunktgebiete. Wegen Mißhelligkeiten mit dem Khwarismschah (Oberhaupt), auch wegen Mongolengefahr, reiste der eher seßhaft hinterwäldlerische Baha’uddin Walad um 1211 mit Familie durch Persien, Mesopotamien, Arabien, Syrien, Kleinasien, nach Westen, in kühnem Slalom, genauer: nach Bagdad, Kufa, Mekka, Malatya, Ersindschan, Akschehir, Samarkand und anderswohin, langjährig als Dauerflüchtling oder Völkerwanderer, um am Schluß in Konya zu landen. Befragt, von wo nach wo er reise, erwiderte er: »Von Allah nach Allah.«

In seinen Aufzeichnungen aus elf oder mehr Jahren seines Lebens – Ma’arif (Erkenntnisse) – schwadronierte Baha vor sich hin, uneinheitlich, ungeglättet, überaus locker vom Hocker. Religiöse Tagebücher und Selbstgespräche verfaßte er, Steinbrüche, von keiner Reimnot verunziert, unangekränkelt von Publikationsabsicht oder Abrundungswillen. Einfälle kollerten da, Eselsbrücken für Predigtentwürfe, Persönliches, Erinnerungen, jede Menge Hikmat (Weisheit) und Hulasa (Zusammenfassungen). Ab und zu trug er allerlei Muridan (Novizen) und Qawm (Leuten) aus seinen Ma’arif vor, dem reizvollen Provisorium. Bisweilen predigte er so ergreifend über das Jenseits, daß reihum die Zuhörer zu weinen anfingen, dank ihres Pilotschluchzers Nuruddin, bis das allgemeine Geheul auf den Prediger selber übergriff. Seine Gattin Mumine Khatun erwähnte er in diesen Notizen nie, dafür aber zwei Nebenfrauen, die ihm wiederum keine Kinder gebaren; die eine hieß Bibi Alawi. Seinen kleinen Familien-Harem, aus dem ihm etlicher zwischenmenschlicher Unbill erwuchs, tat er ab als Wollusttreiben, Frauen- und Kindersammeln, unwichtig neben Allah. Leute, die ihm lang und breit von ihren geistlichen Bemühungen erzählten, ödeten ihn an, weil sie ihm Zeit stahlen, in eigener Sache um Allah zu kreisen. Seine drei Söhne griffen seine mystischen Tendenzen überhaupt nicht auf, auch sein zweiter Sohn nicht, Muhammad Dschelaluddin Walad (der später als Rumi weltberühmt wurde).

Marktgeschrei, kursierende religiöse Lehrmeinungen, Sektenstreit, schiitisches Parteigezänk, ideologisches Hickhack der Mutakallim (Scholastiker), Wadschidun (Ekstatiker), Usuliyan (Grundlagentheoretiker, später auch »Fundamentalisten« genannt), Ibahatiyan (Libertiner), Karramiten, Schafiiten, Aschariten, Rafiditen, Zoroastrier u. v. a., inklusive x Sondergrüppchen – diese Unübersichtlichkeit und Gemengelage damaliger Ansichten und Sichtweisen, diesen haltlos spaltungsfreudigen Pluralismus mitten im allumfassenden Islam bereicherte Baha um eine weitere Variante. Zeitweise schien er am ehesten maturiditischer Hanafit zu sein, also Anhänger von Abu Hanifa, ohne sich darin zu erschöpfen. Er schwankte zudem zwischen qadaritischen und dschabritischen Tendenzen, Varianten, Theoremen und empfahl, je nach Situation das Lager zu wechseln: bei religiöser Erhitzung Qadarit, bei Gafla (religiöser Erschlaffung) Dschabrit zu sein (die er »tot und frech« nannte). Öfters disputierte Baha mit Nadsch, einem Traditionarier, über ihrer beider inhaltlicher Überlappungen. Fragte ihn ein Mulhid (Gottverächter), ein Wortverdreher, ein Ismaelit oder ein Aristoteliker, wo Gott sei, innerhalb oder außerhalb der Welt, antwortete Baha: »Weder noch« – ein anderes Mal auf dieselbe Frage: »Sowohl als auch.« Oder auch: »Diese Frage ist falsch gestellt. Ein Gott ist nur der, der über jede Unvollkommenheit, die dem Gottsein widerspräche, erhaben ist. Daß er an einem Ort sei, würde heißen, daß er an diesen Ort gebunden wäre, unfähig, diesen Ort zu schaffen. Du könntest ebenso gut fragen: ›Wie kann ein Weißsein schwarz sein?‹«

Heil- und Sternkundler kamen Baha gottlos oder unnötig vor: Krankheiten glaubte er, statt pharmazeutisch, religiös abwehren zu können. So suspekt wie die nach wie vor nicht von Allah zu überzeugenden Muschrikun (Beigeseller/Götzendiener) oder auch Butparast (Idol-Verehrer), die sich selber anders nannten, z. B. Buddhisten, und der Irrlehre der Tanasuh (Seelenwanderung) anhingen, kamen Baha die offenbar unausrottbaren Feueranbeter vor. Und obwohl er Dschubba (Kutte) und sonstige Sufi-Attribute trug und Sufi–Lieblingsthemen teilte, wie unmittelbare Gottesschau u. ä., mochte Baha nicht jenen Faulenzern und Sufis, die er sah und traf, weder strengen noch gemäßigten, zugezählt werden. Vor allem die Musik derer, die plaudernd, nutzlos, arbeitslos verwildert in ihren Sufikonventen herumhingen, herumsaßen, aßen und trommelten, bezeichnete Baha als »leeres Geschwätz«, das nur das innerliche Hören behindere. Betrunkenen Türken gegenüber, die ihm den Turban wegnehmen wollten, ihn als Ibahati (Freigeist) beschimpften, betrieb er Grußverweigerung und erschien alsbald mit extra großem Turban. Auch mit hochfahrenden Licht-Theosophen à la Schihabuddin Yahya as Suhrawardi zog Baha nicht an einem Seil. Vor allem focht Baha theoretische Differenzen mit den puristischen, dogmatischen, rationalistischen, um nicht zu sagen: hermeneutischen Mutazila (den sich Absondernden) aus, widersprach heftig deren Lehre, selbst nach dem Tod sei es unmöglich, Allah zu schauen. Namhafte Theologen sprachen den Engeln die Liebe ab; Baha hingegen gestand sogar Engeln Maza (Lust) zu; Ghazzali, vier Generationen vorher, bevorzugte das Wort Ladda (Genuß). Im theologischen Zwist, ob alle Dinge das Lob Gottes sängen (Sure 17/44) oder nur belebte Dinge (dieselbe rabulistisch-scholastische Kontroverse, ob man als Pflanze wiedergeboren werden könne, trieb buddhistische Theologen um), schloß der Theologe Fachruddin Razi, aus Gegenwehr gegen Seelenwanderung, das Unbelebte mit cartesianischer Kaltherzigkeit aus; Baha hingegen votierte sehr dafür, daß sogar die Teilchen einer Leiche Allah verherrlichen würden, ein jedes Teilchen in seiner Sprache. Kaum hatte der hanbalitische Jurist Ibn Aqil (gestorben 1119) falsifiziert, auch Steine, Tiere, Pflanzen trügen religiöse Verantwortung, dokterte Baha an der Restituierung genau jener guten schönen alten Sichtweise von der Abwesenheit von Dschamad (des Unbelebten) und Gafla (religiöser Gleichgültigkeit). Statt Kollegen oder Altvordere zu zitieren, griff er dankbar deren Begriffe auf, à la Be-ciguna (ohne wie), Quddusi (Hochheiligkeit), Sabbuhi (Unbeflecktheit), Kunandagi (Machendheit), Tasarrufat (Verfügungen), Kull (Ganzheit), oder auch Be-cigunagi (Ohne-Wieheit), und machte – fern von Nachbeterei – selber was draus, auch aus so diffizilen Termini wie Huwiyya, was versuchsweise mit Ipseität, Entitas oder auch Essentia übersetzt wurde. Das Wort Hurmat ließ sich mit Integrität übersetzen, auch »körperliche Unversehrtheit«, auch »fremde Frau«. Also als denkfreudiger Drauflosdenker, als ichbezogener bis subjektiver Selbstdenker (hwad-kar = selbsttätig) betätigte sich Baha, mit viel Gespür und Fingerspitzengefühl für Höheres, viel Verstandeskraft und Hudschdschatti (Argumentierung). Thomas von Aquino, bei Baha’uddin Walads Tod sechs Jahre alt, hantierte mit Termini wie Immerheit, Wesungsform, Gesinnbegehr, Beischaften, Entlösungen und Verstehheiten; Baha erging, vergrub, verbiß sich in Irritations-Abstrakta à la Erbarmerschaft, Gnädigkeit, Mitheit, gab aber all diesen Begriffen, Zentralbegriffen und Motiven, komisch eingehüllt in sanfte Naivität, durchweg einen Drall ins Schräge, krumm und verdreht. Oft klangen die seltsamlichen Gewichtungen, Weiterungen, eigenwilligen Aus- und Umdeutungen, die der Sonderling ins rundum Überlieferte einbaute, eher gnostisch – oder auch platonisch bis plotinisch – als islamisch.

Mit Allah auf bestem Duzfuß, schaute, sah und fühlte Baha’uddin Ihn jetzt schon und – riß mitten im Gedankengang oft das Steuer herum, segelte einem Gegengedanken in die Arme, stolperte in reizvollen Widersprüchen herum, wodurch in summa ein hochmodernes Work in progress zustandekam, tausend Jahre bevor Werkbegriffe sich modernerweise auflösten in Fragmentgeflatter und Mosaikgeschredder. Bahas Gedankenflora und Gefühlsergüsse atmeten Spontaneität, Lebensnähe, Stegreif-Frische; auch dank deftigen Ausdrücken wie »lustgefühlkauende Zähne«. Sprachlich schwamm er gern, wie persische Märchen und vor allem Nizami, in Genitivmetaphern: hingegeben »dem Antimon des Lerneifers«, jederzeit »die Beinspange der Dienstbeflissenheit« tragend und nur selten die »Kette der Gottverlassenheit«, unterwegs »in den Schuhen der Herumlauferei«, rührte er »in der Suppe der Verzückung«.

Die Berge halten sich, laut Baha’uddin, den Finger der Verblüffung an den Mund angesichts der Wunderbarkeiten ihrer Adschza (eben Teilchen, sprich: Atome, Elementarteilchen), Singular: Dschuz-i la yatagazza, kurz: Dschuz. Mit Teilchen, an denen er einen Narren fraß, jonglierte Baha derart oft und ausgiebig hingegeben herum, dachte ständig an sie, fühlte sich voll Emphase, Empathie, Enthusiasmus in sie ein, bis die Teilchen bei ihm zur Idée fixe mutierten. Er krallte sich inniglich an ihnen fest; er lud sie alchimistisch, galvanisch oder energetisch auf. Als Baha wissen wollte, wieso das Herz rot sei, schloß er die Augen und sah, wie jedes Farbteilchen sich an Allah festkrallte und seine rote Nahrung von dort bezog. Sobald Baha, als Wirt seiner Teilchen, an Allah dachte, spürte er alle seine voll und ganz und durch und durch beteiligten, hocheffektiv mitschwingenden Teilchen ebenfalls Allah verehren, sich Allah zuwenden, Allah sich huldvoll nähern. Zum Dank ergab die Summe aller Teilchen, aus denen er bestand, punktgenau ihn. Daß Mystiker um kreisende Atome kreisten, lag offenbar in der Luft: Fariduddin ’Attar aus Nischapur, vierzig Jahre älter als Baha’uddin, hob oft ein Atom als Maßeinheit hervor, um die Minimalität der Welt an ihm zu demonstrieren; Bahas Atome traten nur im Plural auf. Atome sah er als Ameisen wimmeln, als Mücken, Sperlinge und Dschanwar (Tierchen), trotz ihrer vorsokratischen Physikhaftigkeit, als innigen Verein aus Brüderchen. Er, der griechische Philosophie ablehnte, sprach ihnen sogar, im Gegensatz zu x griechischen Atomisten, Geistesgaben zu. Bahas Atome ähnelten weniger Demokrits vergleichsweise bereits arg nüchtern gebauten Atomen als vielmehr Empedokles’ liebenden und hassenden Seinsteilchen, die Baha sich anisotrop vorstellte, moderner gesagt: bilateral; die einen als weiße, wach gewordene, vorwärtsschwänzelnde Lichtpartikel oder -korpuskel, die andern als unbewußte, unerleuchtete schwarze Kaulquappensorte, alle beiden Sorten Zöglinge Allahs, gefesselt an Allahs Lebensodem. Oder auch zweigeteilt als ob- und subjektive Teilchen: Dschuz-i wudschudi (Daseinsteilchen) und Dschuz-i idrak-i man (Wahrnehmungsteilchen), zuzüglich Darra. So schmuggelte er eine feinziselierte, um nicht zu sagen: polygame, schier polymorph perverse Sprunghaftigkeit in des einzigen Gottes Homogenität ein, Schwarmintelligenz, präfraktale Selbstähnlichkeit, Mit-sich-selbst-Identität und Yaganagi (absolute Einheit). Ständig spaltete, faserte, zerspellte sich, sobald speziell Baha daran dachte, alles Mögliche auf. Wie er sich selbst in die zerfleddernde Summe und den spirituell schwirrenden Harem all seiner körperlichen, seelischen und sonstigen Teilchen zerfallen ließ, so zerfiel Gott zumindest in drei Anteile: in Taten, Wesen und Eigenschaften, die Baha einem Kranz von Großstädten rund um das Zelt Allahs verglich. Im Gewühl, Gefecht und Getrommel kursierender und sich verzettelnder Lehrmeinungen unterlag auch Bahas Ich einer Art Ichzerstäubung.

Dieser Madschdubun (ein Hinangezogener), der Allah nach verborgenen Regungen absuchte, sprach so lange von Gottes Nawazischhay (Zärtlichkeit), bis sein Gott all diese zarten Attribute, die Baha ihm zutraute, tatsächlich immer deutlicher zeigte. Die unendlich weite Entfernung zu Allah überbrückte Baha, der sich mit »einem brodelnden Kessel und weiter nichts« verglich, problemlos via Abkürzung. Man müsse den Schleier, den er als osmotisch perforierbare göttliche Haut sah, quer durchbrechen, und nicht der Länge nach drunter durchkriechen, denn Gott liege der Welt auf der ganzen Länge an und sei ihr überall unendlich nahe. Baha drang in jeden der 99 Namen Gottes liebevoll ein, verweilte darin pro Namen einige Tage, wie in einem Mantra, trank aus jedem Namen Wein, dann aber wurde er des Namens ein wenig satt, rief »Hilfe!«, auf daß ihm Gott aus diesem einen Namen Allahs heraus- und hineinhelfe in einen anderen der 99 Namen, so lange, bis er als frei und hier und da naschhaft flottierender Mystiker in einem Namen Gottes ankam, worin es ihm besser gefiel als in 98 anderen Namen. Mehrfach übertrat Baha sein eigenes Verbot, Allah andere Namen zu geben, als Gott sich selber gab.

In allen Dingen sei Gewaltsamkeit ungut; mit solch mangelnder Kampfeslust stand der liebestrunkene Baha’uddin in der hitzegegerbten, repressiven, frauenfeindlichen, waffenfetischistischen, hartgesottenen, oft arg humorlosen Hardliner- und Machogesellschaft ziemlich allein da, als wandelnde Gegenmelodie der Verinnerlichung, zartbesaitet, ein Softie, unmoderner gesagt: Memme und Weichei. Für einen Wüstensohn und Mann sprach Baha’uddin ausnehmend oft von grünen Pflanzen, sogar vom »Wandern im Grünen«. Selbst seine antiintellektualistischen Argumente gegen Verkopfung klangen bei ihm angenehm verträglich: Fausts Polemik contra Stubengelehrtheit, Lehnstuhlphilosophie, Sekundärliteratur, »Sitzt ihr nur immer, leimt zusammen, braut ein Ragout aus anderer Schmaus«, lautete bei Baha’uddin so: »Aus lauter Gier – so bist du – willst du die Bissen aller Gelehrten mit deinem Mund verschlingen: Grammatik, Lexikographie, Grundlagendogmatik, Rechtslehre und anderes. Da bist du nicht in den Banden der Wollust, sondern in den Banden des Wunsches, möglichst viele Dinge in deinen Mund und Bauch zu stopfen. Sei lieber in den Banden der Wollust!« Ungläubige, die der Islam oft bekehrte und bekämpfte, wurden von al-Ghazzali und Baha’uddin Walad verteidigt: Wenn es keine Weltmenschen gäbe, wie würde dann das Diesseits bestellt? Genauer: »Wäre nicht die Gier der Papierhersteller, ihre Ware loszuwerden, wo sollten die Frommen den Koran hinschreiben?« Rumi spitzte das später zu: Ein Stoffweber und Wäscher dürfte nicht Vorbeter werden wollen, auf daß die Menschen nicht nackt beten müßten, also sei Gott darauf bedacht, daß gewisse Menschen dem Jenseits den Rücken kehrten. Baha’uddins Gott warnte, ermahnte, maßregelte, verfluchte praktisch nie als eifernder, zornmütiger, strafender, neuzeitlich gesagt: cholerischer Gott, drohte nie vorwurfsvoll haßglühend alle Übeltäter, Ruchlose, Munafikun (Heuchler), Verworfene, Eidverletzer, Gehorsamsverweigerer, Abtrünnige ins Höllenfeuer zu verweisen; kündigte Frevlern nie an, sie würden sich aus Angst in die Hände beißen; kreiste selten um Missetaten, Sündenreinigung, Strenge, Gerechtigkeit, jenseits legislatorisch-machtpolitischer Aspekte, meilenfern von Jahwes und Dantes Sadismus, sondern machte auf dem Weg vom Propheten bis zu fast allen Sufis, z. B. auch zu Baha’uddin, dieselbe Mäßigung und Wandlung durch wie Jahwe auf dem Weg von Abraham zu Jesus: Bahas Allah bewegte sich in all seinen Aus- und Durchsagen exakt auf dem drolligen Kuriositätsniveau Bahas, so sympathisch wie poetisch. Baha und Allah – vom Sprachcode her bestens kompatibel, zugunsten beider Beteiligter, auf Gegenseitigkeit. Baha ergötzte sich besonders an Redensarten wie »O Gott, schicke seinem Staub Freuden!«, und an anthropomorphen Suren wie 21,80, wo Allah die Berge und Vögel zwingt, mit David Bußlieder zu singen, oder Sure 17,44: »Und es gibt nichts, was Ihn nicht lobpriese.«

Von der erfreulichen Beseeltheit seelenloser Steine und latent beseelter Staubkörner schloß Baha logisch auf belebte Luft. Wasser sah Baha als ein religiöseres Element denn Feuer, das nur aufgeregt herumzappelte, Wasser aber floß fromm nach unten und vollzog also in Demut einen Fußfall vor Allah.

Trauben hienieden hatten nur deshalb Haut und Kerne, damit man nicht hier schon glaube, man wäre im Paradies. Hiervon sprach Baha derart oft und euphorisch, daß ein Sufischeich ihm vorwarf: »Wenn du dich hier im Diesseits damit zu sehr beschäftigst, wirst du im Jenseits damit nicht aufhören und also nie Allah schauen!« Baha erwiderte: »Vielleicht sind ja die Schön- und Großäugigen, die Schlösser und Gärten, Salsabil und Zandschabil (zwei Paradiesquellen, die in Sure 76/17 auch mit Ingwer und Wein übersetzbar sind) nur verschiedene Zustände eben meiner Gottesschau. Denn jedesmal, wenn du Allah schaust, empfindest du ein anderes Maza. Sieh dir nur die Arten an, wie Allah dich ständig in Seiner Hand und an Seiner Brust hat! Schmiege dich an Ihn und mische dich in Ihn wie Milch und Honig sich mischen, dann erlangst du alle Schönäugigen, Schlösser und Freuden des Paradieses gleich jetzt, glaub mir … und du schaust Allah.« Paradies allein genügte nicht, sein Verstand mußte es aufsplitten in Untersektoren, Teilabschnitte und Flüsse. Von Mawaddat (Liebe) redete Baha’uddin kaum seltener als von Mahabbat (Gottesliebe). Munadschat (Zwiegesang) besang er, ebenso Hususiyyat (Verbundenheit), Tarab (freudige Erregung), Tadschalle (Selbstenthüllung), berauschte sich beglückbar und glückstrahlend an Musahabat (liebender Beigesellung), sprach von herabgemolkenem Wudschud (Dasein), Muanaqa aste (Umarmung), Hulul (Einwohnung), und nicht zuletzt von Ittihad (Vereinigung). Rabiah al-Adawiya, Bayazid al-Bastami und andere Scheiche hatten das Paradies eher als Trennwand zu Allah betrachtet, womit nur abgelenkt werde von Allah, und sich also überhaupt nicht ins Paradies gesehnt, das Abu Ala al Ma’arri bereits freigeistig durchgecheckt hatte, als wär er ein arabischer Voltaire; Lüstling Baha’uddin hingegen schwelgte ungebrochen in paradiesischen Gedanken, Vorwegnahmen und Auspinseleien, träumte – wie Assasinen im Haschrausch – von drei gleichzeitig an ihn angeschmiegten Schönäugigen, deren Verkehr mit Allah sie »so schön und fett« machte (also frönte er dem später sog. Rubens-Ideal), von schönen Knaben, traubenweise Kindern, Tauben und gefütterten Sperlingen. Huris kamen bei ihm so gehäuft vor wie im späteren Diwan von Hafiz (und Goethe) und weideten auf Allah wie auf üppiger Wirtspflanze, als elfenhaft blühendes Geflinker. Auch wenn Baha in irdischen Zusammenhängen Wollust spürte und trieb, z. B. mit der Tochter des Richters Scharaf, deren Lippen er kaute, bis sie mehrmals ausrief: »Ah, wie schön!«, und die unter ihm zitterte und Ischqnamaha guftan (Liebesgeächz) hören ließ, bis sein Geist heiter wurde, seine Glieder in Funktion setzte und alle seine Teilchen (wer sonst?), von denen er gleichfalls verlangte, sie mögen fett sein, in Bewegung gerieten, spürte er – gemäß frei ausgelegter Sure 57,4: »Und Er ist mit euch, wo immer ihr seid« – Allah vollkommen als anwesend, nicht voyeuristisch oder triolistisch, sondern konstitutionell, als Durchflutungsgeist, ohne den die Menschen nur unbelebt herumliegen müßten, und alle seine Teilchen, seine Einfälle und er, tanzten haremsartig um Allah, genossen, über Maza hinaus, Laddat-i allah (Gottesgenuß), Suhbat-i allah (innige Zwiesprache, auch Koitus mit Allah), bis hin zum totalen Be-hwadi (Außersichsein). Entweder geriet Baha leicht außer sich vor Liebestrunkenheit, moderner gesagt: Erotomania, dies auch auf irdischer Ebene, oder er war um nichts lust- und sexsüchtiger als andere Menschenkinder, und gab es nur zu, und schrieb es nur auf. Zartbesaitete Vorliebe zeigte er für Worte wie Fardscharda (schön eingeweicht), was seinen Zuhörern möglicherweise denn doch zu direkt und fleischlich wurde (Fardsch = Möse). Aber kaum ein Kritiker oder Spötter schien Bahas einzigartig distanzlosen, enormen Riecher für Gott satyrisch belächeln zu wollen. Die breitwandformatigen Verschmelzungswonnen dieses in Atom-Apotheose inadäquat zutraulich, überschwenglich sich verausgabenden, übertrieben, indiskret, intim, ja: obszön kußfreudigen, beißkußfreudigen, theologisch sexualisierten, Gottessex betreibenden Doctor ecstaticus fand keinen Gegenwind. Keiner beschimpfte ihn als »Ranschmeißer an Gottes Busen«.

Der Wind religiöser Erquickung wehte aber nicht ganz gleichmäßig durch alle Teilchen, sondern schubweise herbei, und dann auch wieder wellenweise von hinnen. Baha’uddins chronische Wadsch (Verzückung) schwoll allzu oft ab. Sein Glutkern erlosch. Baha – ehrlich genug, zuzugeben, daß sein Anschmiegen, Hineinkriechen und Einkuschelung in Allah nicht immer so richtig klappte – spürte auf Erhebungen, Erfüllungen und Erleuchtungen geistliche Niederlagen folgen, neuzeitlicher gesagt: spirituellen Frust. Zwischen die Ekstasen schob und schlich sich als Trennblende, Isolierwatte und Puffer, zwecks Kurzschlußumgehung und Erholung – Gafla (religiöse Gleichgültigkeit) ein, neuzeitlich eindeutschbar mit Sättigungsschwelle, Refraktärphase, partieller Frigidität oder auch Dopaminmangel. Der wieder zu sich Gekommene unterlag intermittierenden Kapazitäts- oder Potenzproblemen, nicht ganz so positiv ausgedrückt: intermittierender Impotenz. Dann bedauerte Baha, zu schlaff zu sein, um Gott zu schauen. Sobald er ermüdete, trat an Allahs Stelle – Leere. Oder: Sobald sein vehementer Glaube zwischendurch kurz nachließ oder aussetzte, zeigte Allah sich ihm zur Strafe nicht und verbarg sich in transzendenter Unerreichbarkeit. Sein Geschöpf Baha versuchte dann seine erloschenen Teilchen aufzutreiben, mit dem Wink eines Peitschenendes gleichsam, und wandte sich als Katalysator direkt an diese seine Teilchen, winzige Ansprechpartner, ohne Zwischenhändler: »Faulpelze und ihr Teilchen der Menschen alle, seid doch nicht wie der Staub der Erde! Der Wind der Verlebendigung, des Wunders und des Geistes berühre euch! Geht durch die Luft der Wünsche, betätigt euch, dreht euch und zeigt etwas! Sobald dieser Wind wieder von euch abläßt, werdet ihr zunichte und fallt wie Staub auf Staub.« So monotheistisch erhaben sich Baha fühlte über Feueranbeter und Götzendiener, er trieb es als Teilchenanbeter und Teilchendiener noch viel bunter und krasser. Seine unorthodoxen Inhalte, Abweichungen und Anwandlungen, mit denen er sich schier als Mubtadi (Ketzer) profilierte, hinderten Baha nicht, nach außen hin als seriöser, renommierter Theologe aufzutreten. Als Auskunftserteiler, Rechtsberater, Gutachter, Seelsorger, Wohltäter genoß er volkstümlichen Zulauf. Er kannte sich im Ackerbau aus. Bisweilen verfaßte er Bittschriften an Regierungsbeamte, zwecks Freilassung von zu Unrecht inhaftierten Zeitgenossen. Donnerstag und Freitag hielt er sich von Alltagsgeschäften frei, um in der Moschee an Tod und Jenseits zu denken. Zu bescheiden, um sich Arif (Erkenner) zu nennen, träumte er manchmal davon, Allahi (Gottmensch) zu werden, behielt das aber weitgehend für sich, bremste sich in späteren Aufzeichnungen etwas ab. Seine Eigenständigkeit verpackte er in die üblichen koranischen und sufischen Dauerthemen – die Welt als Nafs (Triebseele) und Musawwarat (Vorstellung): Nachts stand Baha in bitterer Kälte auf, zückte seinen Dolch und rief: »Triebseele, ich habe keine schlimmere Feindin auf der Welt als dich! Wenn du den Kopf aus Ichheit und Neid hervorstreckst, hau ich dir den Kopf ab!« Plötzlich doch wieder grimmig musulmanisch! Seine asketischen Anwandlungen blieben aber Randverzierungen.

Sei Sonne, sonst bleibst du Fledermaus

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