Читать книгу Rauhnacht - Max Pechmann - Страница 11
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ОглавлениеDas Essen hatte seine Erwartungen bei weitem übertroffen. Lisa hatte Lammbraten mit Champignonsauce zubereitet. Dazu gab es Kartoffeln und gedünstetes Gemüse. Der Braten war auf der Zunge zergangen. Obwohl Titus Saucen nicht mochte, hatte er den Teller blitzblank gelöffelt. Sowohl die Kartoffeln als auch das Gemüse besaßen einen Geschmack, den Titus bei solch gewöhnlichen Beilagen nicht für möglich gehalten hatte. Er fand es überaus schade, dass Lisa nicht anwesend war. Ihre Kochkünste hatten ein eindeutiges Lob verdient.
Nachdem sie den Abend vor dem Kamin bei einer Tasse Kaffee hatten ausklingen lassen, hatte sich Titus wieder zurück in sein Zimmer begeben. Inzwischen zeigte die Wanduhr kurz nach zwei. Titus fühlte sich alles andere als müde. Er hatte versucht, zu lesen, doch die Buchstaben waren vor seinen Augen zu sinnlosen Mustern verschwommen. Seine Gedanken kehrten immer wieder auf das Gespräch mit dem Pfarrer zurück. Die Erinnerung an das Verhalten der Kellnerin ließ ihn nicht los.
Für ihn ergab das alles keinen Sinn. Obwohl er von Gregor und Theresa ein paar Dinge über die Wilde Jagd erfahren hatte, konnte er sich nicht vorstellen, dass es Menschen gab, die vor diesen abergläubischen Ideen wirkliche Angst empfanden. Bestand die Möglichkeit, dass es sich hierbei um eine Massenhysterie handelte? Titus war kein Psychologe, doch diese Erklärung erschien ihm näher liegend als die Angst auf das Vorhandensein übernatürlicher Wesen zurückzuführen.
Aus einem der Zimmer drang Theresas lautes Stöhnen. Gregor und seine Assistentin trieben es bereits zum dritten Mal. Alle Achtung. In dieser Hinsicht hatte er Gregor völlig unterschätzt.
Titus öffnete die Balkontür und trat hinaus. Er zog eine Zigarette aus seiner Schachtel und zündete sie an. Vielleicht verhalf ihm dies dazu, seinen Kopf leer zu bekommen. Aus der Ferne hallte auch jetzt noch das emsige Hämmern. Der Zaun schien demnach immer noch nicht fertig zu sein. Der Wind hatte zugenommen. Teils kräftige Böen wirbelten den Schnee auf. Das Licht des Vollmonds ließ die kleinsten Kristalle erkennen, die durch die Luft fegten. Die Kälte tat gut. Er schaute hinüber zum Friedhof.
Und erstarrte.
Zwei Schatten bewegten sich zwischen den Gräbern. Titus konnte es nicht schwören, aber er glaubte, dass sich die beiden Gestalten vor den Grabsteinen aufhielten, in die das Todesjahr 1981 eingraviert war. Obwohl der Mond genug Licht spendete, um einen Faden in eine hauchdünne Nadel einfädeln zu können, leuchtete einer von ihnen mit einer Taschenlampe. Sie schlichen von einem Grab zum nächsten. Vor jedem Grabstein blieben sie ein paar Minuten stehen. Es sah aus, als würde einer von ihnen etwas auf einem Schreibblock notieren. Danach zuckte das Blitzlicht eines Fotoapparats auf. Titus lehnte sich über das Geländer, um besser sehen zu können. Die Gesichter der beiden Gestalten verbargen sich in den hochgezogenen Kapuzen ihrer Daunenjacken. Wieso trieben sie sich mitten in der Nacht auf dem Friedhof herum? Wie Grabschänder sahen sie nicht aus. Ihr Verhalten erinnerte eher an das von Archäologen oder Historikern, die an einer neuen Fundstelle Daten sammelten.
Titus drückte die Zigarette aus und warf sie über den Balkon. An Schlaf war nun sowieso nicht mehr zu denken. Er ging zurück ins Zimmer, schloss die Glastür und lief hinunter in die Eingangshalle. Dort griff er sich seinen Mantel und verließ das Haus. Er wusste selbst nicht, aus welchem Grund er sich plötzlich in diese Angelegenheit hineinsteigerte. Er war nach Tiefenfall gekommen, in der Hoffnung, einen schriftstellerischen Neuanfang zu starten, und nicht, um sich mit nächtlichen Herumtreibern, abergläubischen Alpenbewohnern und den gewagten Theorien seines Freundes herumzuplagen.
Vielleicht bewirkte ja auch Lisas Essen seinen ungewohnten Tatendrang. Wenn er es genau bedachte, fühlte er sich nach jedem Verzehr ihrer Kochkünste regelrecht aufgemuntert. So kannte er sich gar nicht. Essen hatte bisher auf ihn noch nie eine psychische Auswirkung gehabt. Wie dem auch sei. Er hatte sich plötzlich in den Kopf gesetzt, zu ergründen, was auf dem Friedhof vor sich ging.
Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Zusammen mit dem Hämmern, das kontinuierlich durch die Nacht hallte, ergab sich daraus ein ungewöhnlicher Rhythmus. Er schaute zwischen den Gitterstäben des Friedhofstors hindurch, um zu ermitteln, wo sich die beiden Personen aufhielten. Enttäuscht stellte er fest, dass er sie nirgendwo sah.
Er öffnete das Tor.
Der Friedhof lag still und friedlich vor ihm. Keine Schatten huschten zwischen den Gräbern umher. Hatten die beiden Besucher ihn bemerkt und sich aus dem Staub gemacht? Das Geräusch, das seine Schuhe im Schnee verursachten, war laut genug gewesen, um sie vor seiner Ankunft zu warnen.
Titus ging an den Grabsteinen vorbei, bis er zu der Reihe aus dem Jahr 1981. Der Schnee wies an dieser Stelle mehrere Spuren auf. Er erkannte die Abdrücke schwerer Schuhe und schmaler Stiefel. Ein Mann und eine Frau?
Aus der Kapelle drang auf einmal ein gedämpftes Niesen. Soviel zum Thema Versteckkunst. Titus schritt auf das schiefe Tor zu, an dem der eisige Wind rüttelte.
„Ist da jemand?“ Eine tiefe Stille folgte seiner Frage.
Er legte seine rechte Handfläche gegen die Tür und drückte sie auf. Die untere Kante schabte über den grauen Steinboden. Das Licht des Mondes fiel schräg in den Eingangsbereich. „Sind Sie hier drin?“
Die Bewegung eines Armes lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Plötzlich blendete ihn das grelle Licht einer Taschenlampe. Schritte hinter ihm. Etwas Hartes knallte gegen seinen Hinterkopf. Dann fühlte er nichts mehr.
Mit heftigen Kopfschmerzen kam Titus wieder zu sich. Ihn fröstelte. Der Geruch nach feuchtem Holz und altem Gemäuer drang in seine Nase. Das Mondlicht sickerte in schmalen Streifen durch die Türritzen.
Er lag ausgestreckt auf einer der Holzbänke. Vorsichtig richtete er sich auf. Die Schmerzen in seinem Kopf nahmen zu. Mit was hatte dieser Jemand auf ihn eingeschlagen? Mit einer Stahlstange?
Die Antwort darauf konnte warten. Was er benötigte, war eine Tasse heißen Kaffee, um sich aufzuwärmen. Die Kälte war tief in seinen Körper eingedrungen. Arme und Beine fühlten sich starr an. Er rieb an seinen Gelenken, um sie wieder einigermaßen bewegen zu können.
Er tastete sich die Kirchenbank entlang. Kaum hatte er das Ende der Bank erreicht, als er ein seltsames Gurgeln vernahm. Dem folgte ein gespenstisches Ächzen.
„Bist du das?“, ertönte eine raue Stimme.
Titus blieb mucksmäuschenstill.
„Bist du das, Lisa?“
Er blieb wie festgewurzelt am Ende der Bank stehen. Wer war dieser Mensch? Einer der beiden Friedhofsbesucher? Das Mondlicht reichte nicht dazu aus, um die gesamte Kapelle in Augenschein zu nehmen. Titus sah sich einem undurchdringlichen Schatten gegenüber.
„Du bist es doch, Lisa. Nicht wahr? Ich kann dich doch riechen.“
Ein Verrückter? Die Stimme hatte etwas Bedrohliches an sich. Schlurfende Schritte bewegten sich direkt in seine Richtung.
„Du bist es, Lisa. Nicht wahr?“, wiederholte der Mann.
Titus wich zurück. In seiner Aufregung hatte er völlig die Orientierung verloren. Was wollte dieser Mann von ihm? Wieso hielt er ihn für Lisa?
Sein Rücken berührte die Wand der Kapelle. Die Schritte kamen näher.
„Lisa? Du bist es doch, nicht wahr?“
Titus brachte keinen Laut hervor. Vermutlich hätte es überhaupt nichts gebracht, die Vermutung des Mannes zu dementieren. Der Stimme zufolge war dieser entweder völlig betrunken oder wahnsinnig.
„Lisa?“
Die Schritte hörten nur wenige Zentimeter vor ihm auf. Danach herrschte Stille. Trotzdem verspürte Titus weiterhin die Präsenz des Unbekannten. Aus welchem Grund bewegte er sich nicht mehr?
Vorsichtig griff Titus in seine Manteltasche. Seine Hand umfasste das Feuerzeug, das ihm vor langer Zeit seine Muse geschenkt hatte. Es besaß die Form eines Kugelschreibers, und Elvira hatte es ihm zum Erfolg eines seiner Bücher gegeben. Er zog seine Hand behutsam wieder heraus und streckte sie in Kopfhöhe von sich, sodass sein Arm weiterhin angewinkelt blieb. Mit dem Daumen betätigte er den Zünder. Kleine Funken sprühten. Als die Flamme seine Umgebung erhellte, hätte er vor Schreck das Feuerzeug beinahe fallen gelassen.
Titus blickte in das verzerrte Gesicht eines Mannes, dessen Augen wie milchigweiße Marmorkugeln auf ihn starrten. Aus seinem offenen Mund ragten verfaulte Zahnstummel.
„Lisa?“
Er stieß den Mann von sich und sprang auf die Tür zu. Riss sie auf und rannte über den Friedhof. Er wagte nicht, zurückzuschauen. Das entstellte Gesicht des Mannes hatte etwas Grauenhaftes an sich. Er schlüpfte durch das Eisentor, hetzte über die Straße und warf sich wie ein erschöpfter Marathonläufer gegen die Haustür. Natürlich hatte er keinen Schlüssel dabei. Hektisch betätigte er die Klingel und klopfte gleichzeitig gegen die Tür. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. War ihm der Mann etwa gefolgt? Stand er gerade hinter ihm? Titus wagte nicht, sich umzudrehen. Er klingelte und klopfte unermüdlich weiter. Wieso brauchte Gregor so lange? Trieb er es bereits zum vierten Mal? Endlich wurde die Tür geöffnet. Titus sprang hindurch, warf sie hinter sich zu und schob die sieben Riegel vor.