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Der Zug hielt an dem Mittelbahnsteig, der wie eine eckige Betoninsel aus dem Schienenbett ragte. Das Namensschild, an dem das zweite L des Ortsnamens fehlte, klapperte im Wind. Auf dem Dach des Bahnsteigs türmte sich eine riesige Menge Schnee.

Das Licht der mit Fliegendreck verklebten Neonröhren vermischte sich mit der noch verbliebenen Helligkeit des Nachmittags.

Titus hatte Gregor seit fast drei Jahren nicht mehr gesehen. Für Treffen hatte einfach die Zeit gefehlt. Entweder war Gregor zu sehr beschäftigt oder Titus hatte mit einem Abgabetermin gehadert.

Gregor erwartete ihn mit einem breiten Grinsen. Er trug einen hässlich violetten Anorak. Sein Kopf bedeckte eine rote Wollmütze. Auf seiner Nase saß eine große, runde Brille. „Titus!“

Beide schüttelten sich die Hände.

„Meine Güte, Titus, du weißt gar nicht, wie schön es ist, dich endlich wieder zu sehen.“

„Du hättest sagen sollen, dass wir uns hier im Nirgendwo befinden.“

Gregor lachte auf. „Ganz der Alte, Titus. Ständig am Nörgeln. Genau das hat mir die ganzen Jahre über gefehlt.“

„Tja, auf jeden Fall gleicht es schon fast einem Wunder, dass wir uns überhaupt wieder treffen.“

Gregor stieß ihn gegen die Schulter. „Du sagst es, Titus. Und genau aus diesem Grund sollten wir feiern. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe eine Haushälterin. Sie kocht gerade das Abendessen.“

„Ich meine, bevor wir hier festfrieren, sollten wir sie aufsuchen.“

Gregor kicherte. „Deine trockene Art ist unübertrefflich, Titus. Meine Güte, es gibt so viel zu erzählen. Also, worauf warten wir noch? Nimm deinen Koffer und ab geht die Post.“

Der Zug, der etwa eine halbe Minute an dem Bahnsteig gehalten hatte, fuhr mit einem quietschenden Ruck wieder los. Das Stampfen des Triebwagens entfernte sich rasch. Nach wenigen Augenblicken verglühten auch die roten Rücklampen des letzten Wagons in der diesigen Ferne. Die ersten Schneeflocken fielen. Erst jetzt nahm Titus die schneidende Luft wahr. Er zog seinen braunen Schal fester, hob seinen Koffer an und folgte Gregor über den hölzernen Bahnübergang zu dem verlassenen Bahnhofsgebäude, dessen kaputte Fenster mit Pressspanplatten zugenagelt waren.

„Der wird schon seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt“, erklärte Gregor. „Wie ich dir schon sagte, Touristen gibt es hier nicht. Ein Kommen und Gehen suchst du hier vergeblich. Die Leute von Tiefenfall bleiben unter sich. Sie mögen keine Fremden. Das wirst du bald selbst merken.“

„Hinterwäldler“, bemerkte Titus. „Du hättest ganz einfach Hinterwäldler sagen sollen.“

Gregor deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. „Die Sicht eines Großstädters. Aber ich denke, dir wird es hier gefallen. Ich bin sogar davon überzeugt, dass du hier einen neuen Bestseller schaffen wirst.“

Titus Muskeln verkrampften sich bei dem Wort Schreiben. Eine ätzende Säure brannte in seiner Brust. Trotz der Kälte trat Schweiß auf seine Stirn.

Sie umrundeten das düstere Gebäude. Dahinter lag ein Parkplatz, auf dem nur ein einziges Auto stand. Ein schwarzer Geländewagen, auf dem sich das fahle Licht einer Straßenlaterne spiegelte.

„Ich nehme an, der gehört dir.“

Gregor schloss die Fahrertür auf. „Fast. Ich habe ihn gemietet.“

„Gemietet?“

Gregor nahm Titus den Koffer ab und verstaute ihn auf der Rückbank. „Allerdings. Von einer Autowerkstatt. Ich bin wie du mit dem Zug hierher gekommen. Die klassische Art zu reisen, wenn du so willst.“

Titus öffnete die Beifahrertür und stieg ein. „Und seit wann genau bist du in Tiefenfall?“

Gregor setzte sich hinter das Steuer. Nachdem er den Motor angelassen hatte, sagte er: „Seit Mitte Oktober. Ich ging jedes Mal zu Fuß in den Ort. Ein Spaziergang von etwa zehn Minuten. Aber ich dachte mir, ein Auto zu haben ist besser. Für den Notfall.“ Er fuhr los.

„An was für eine Art Notfall dachtest du denn?“

Gregor lenkte den Wagen vom Parkplatz auf eine schmale Straße. Der Schnee knirschte unter den Reifen. „Der Ort ist klein. Für den Fall, dass ich eine Luftveränderung brauche.“

Die Straße führte in einer langen Kurve zum Ortseingang. Im Licht der Straßenlaternen schälten sich alte Fachwerkhäuser aus der zunehmenden Dunkelheit. Mit dem Schnee auf ihren Dächern glichen sie Lebkuchenhäusern mit einer gehörigen Portion Zuckerguss. Aus der Mitte des Ortes ragte ein spitzer Kirchturm in die Höhe. Titus hatte keine Ahnung von Architektur, aber der Turm vermittelte den Eindruck tiefsten Mittelalters.

Die Straße am Ortseingang wirkte verlassen. Gregor lenkte den Wagen bei einer Kreuzung nach links.

Titus riss erstaunt die Augen auf. Die Scheinwerfer erfassten eine Gruppe Männer, die große Baumstämme auf ihren Schultern transportierten. „Was geschieht denn hier?“

Gregor zuckte mit den Schultern. „Die Leute haben vor drei Tagen damit angefangen. Sie tragen diese Stämme ans nördliche Ende von Tiefenfall. Anscheinend errichten sie dort eine Art Palisade.“

„Und sonst haben die keine Probleme?“

Als sie die Gruppe überholten, erkannte Titus skeptische Blicke, die versuchten, die Insassen des Fahrzeugs auszumachen. Die Männer trugen dicke Daunenjacken, manche von ihnen auch dunkle Wollmäntel. Ihren Gesichtern haftete eine Ernsthaftigkeit an, die beinahe ins Sakrale reichte. Titus fühlte sich wie bei der Teilnahme an einer seltsamen Prozession. Das Ganze hatte etwas Unheimliches an sich. Er erkannte, dass die Stämme an beiden Enden zugespitzt waren. Das rindenlose, glatte Holz verlieh ihnen eine gewisse Nacktheit. Titus zählte neun Männer. Jeweils drei von ihnen schleppten einen Stamm.

Als sich Titus wieder nach vorne drehte, fragte er: „Zählt diese Eigenart zu dem geheimnisvollen Brauchtum, das es nur in diesem Ort geben soll?“

Gregor zog seine Mundwinkel auseinander, was wirkte, als immitiere er eine Kröte. „Ich weiß es nicht. Die Leute reden mit mir nicht darüber. Nicht einmal der Pfarrer.“

„Und deine Haushälterin?“

„Die erst recht nicht. Eine abergläubische Frau. Ich will es einmal so ausdrücken. Seit der ersten Dezemberwoche verspüre ich in diesem Ort eine gewisse Unruhe. Das energische Schweigen der Bewohner von Tiefenfall bestärkt mich darin, dass irgendetwas vorgeht.“

„Dass etwas vorgeht, haben wir ja soeben wohl oder übel gesehen.“

Gregor nickte nachdenklich.

Den Rest der Strecke legten sie schweigend zurück.

Rauhnacht

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