Читать книгу Rauhnacht - Max Pechmann - Страница 14
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Оглавление„Unser Abenteurer weilt wieder unter den Lebenden?“, rief Gregor.
Titus setzte sich zu ihm und Theresa an den Tisch im Esszimmer.
Sein Freund faltete die Zeitung zusammen und legte sie neben den Teller, auf dem sich Brotkrumen mit Marmeladenklecksen vermischten.
Theresa kaute noch an ihrem letzten Stück Brot. „Was macht Ihre Beule?“
Titus berührte seinen Hinterkopf. Die Stelle, an der ihn der Knüppel oder die Stange oder was auch immer getroffen hatte, schmerzte nicht mehr. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er keine Kopfschmerzen mehr hatte. „Es geht.“
Gregor beugte sich leicht über den Tisch und flüsterte: „Was hat Lisa mit dir getrieben?“
Titus wandte seinen Kopf zur Küchentür. Sie war geschlossen. Kein Laut drang dahinter hervor. „Sie wollte mich über den Mann ausfragen.“
„Und?“
„Nichts und. Sie hüllt sich in Schweigen, was ihre Beziehung zu diesem Kerl anbelangt.“
Gregor grinste. „Aus Lisa ist nichts herauszubekommen. Das hätte ich dir schon früher sagen können. Aber vielleicht weiß Walter Dorn ja über diesen Mann Bescheid. Ich möchte ihm heute einen Besuch abstatten. Vielleicht können wir schon heute ein paar der Dokumente durchgehen.“
„Und du hast mir versprochen, dass wir bei dem Antiquariat vorbeischauen“, fügte Theresa hinzu.
„Gut, dann komme ich mit“, sagte Titus.
„Sie fühlen sich wirklich dazu in der Lage?“, sorgte sich Gregors Assistentin. Erneut machten sie ihr dunkler Lidschatten und ihre kirschroten Lippen äußerst reizvoll.
„Wieso nicht?“
„Wolltest du nicht schreiben?“
„Keine Ideen.“
„Dann halten wir uns hier nicht länger auf.“
Das Antiquariat hatte geöffnet.
Die Besitzerin entpuppte sich als eine Frau von Anfang Vierzig mit roter Strickjacke und brauner Kordhose. Sie hatte kurze blonde Haare und einen humorlosen Gesichtsausdruck. Statt Schuhen trug sie graue Filzpantoffeln. Sie beobachtete Titus, Gregor und Theresa mit missmutigen Blicken, während diese die Regale durchstöberten.
Theresa und Gregor wurden sofort fündig und hatten im Nu einen ganzen Stapel Abhandlungen über Geister, Dämonen und andere nächtliche Kreaturen zusammengetragen.
Titus sprach die Auswahl der Bücher weniger an. Es gab kaum Romane. Allerdings entdeckte er unter dem Buchstaben H tatsächlich ein zerlesenes Exemplar eines seiner Lesbenthriller mit dem Titel Stadt am Meer. Es ging darin um zwei Studentinnen, die einem düsteren Geheimnis auf die Spur kamen. Titus hielt es für eines seiner besten Romane, auch wenn Kritiker behauptet hatten, dass die Leser dieses Buch vor allem wegen der deftigen Sexszenen kaufen würden. Vielleicht taten sie das. Ihm war es eigentlich egal. Die Hauptsache bestand darin, dass seine Geschichten Anklang fanden.
Eine dunkle Wolke trübte plötzlich seine Erinnerungen. War sein Können tatsächlich mit seiner Muse verschwunden? Resigniert stellte er den Roman zurück und setzte seine Suche nach brauchbarer Literatur fort. Schließlich nahm er ein Buch über Untote.
Die Verkäuferin, welche die ganze Zeit über hinter der Theke gestanden hatte, tippte den Preis in die altertümliche Kasse ein. „Gehören Sie zu den anderen Touristen?“, wollte sie wissen.
Titus horchte auf. „Welche anderen Touristen?“
„Vor Ihnen kamen ein Mann und eine Frau herein. Kauften allerdings nichts.“
„Ein Mann und eine Frau?“, fragte nun Gregor.
„So ein bulliger Typ mit Schnauzbart und dicker Nase …“
Gregor fielen beinahe die Bücher aus den Händen. „Mohn.“
„Wie bitte?“
„Der Name des Mannes lautet Mohn.“
„Sie gehören also zusammen?“
Gregor gab ein höhnisches Lachen von sich. „Um Gotteswillen! Mit diesem Mann möchte ich nichts zu tun haben.“
„Und wer war die Frau?“, fragte Titus.
„Bestimmt seine Assistentin“, behauptete Gregor. „Dann war er es, der dich gestern niedergeschlagen hat.“
Titus bezahlte sein Buch.
„Sie wurden niedergeschlagen?“, wollte die Besitzerin wissen.
„Am Friedhof.“
Die Antiquarin wich erschrocken zurück. „Was suchen Sie auf dem Friedhof?“
„Es geht um die Gräber …“
Gregor stieß Titus in den Rücken.
„Sie wollen also auch hier herumschnüffeln?“
„Wir schnüffeln nicht herum“, erwiderte Theresa ernst. „Wir sind Wissenschaftler.“
„Sie mischen sich in unsere Angelegenheiten ein“, gab die Frau zurück. „Das ist nichts anderes als herumzuschnüffeln.“
„Wie Sie das bezeichnen, ist mir im Grunde genommen egal“, meinte Gregor. „Auf jeden Fall führen wir hier wissenschaftliche Studien durch.“
Die Antiquarin tippte mürrisch die Preise der Bücher ein, die Gregor auf die Theke gelegt hatte. „Wo wohnen Sie eigentlich? In Tiefenfall gibt es keine Hotels.“
„Neben dem Friedhof“, antwortete Theresa.
Die Frau stockte beim Eintippen. „Im Haus der Bardins?“
„Genau da“, bestätigte Gregor, einen warnenden Blick auf seine Assistentin werfend. „Lisa Bardin vermietet uns das Haus für längere Zeit.“
In den Augen der Frau züngelten Flammen. „Lisa Bardin.” Der Name kam zischend über ihre Lippen. Sie machte ein Kreuzzeichen und spuckte auf den Boden. „Verflucht soll sie sein, diese verdammte Hexe. Sie stiftet nur Unruhe in unserer Gemeinde. Wenn es nach mir ginge, hätte ich sie schon längst aus Tiefenfall vertrieben.“ Sie nahm das Geld, das Gregor ihr reichte. „Niemand kann sie leiden. Wahrscheinlich nicht einmal unser Pfarrer.“
„Was genau hat sie denn angestellt?“, wollte Titus wissen.
Die Antiquarin grübelte nicht lange. „Ihr Mann ist von ihr abgehauen. Er hielt es mit ihr nicht mehr aus. Da bin ich mir sicher. Sie steht mit dem Teufel im Bunde. Manche Leute behaupten, in der Nacht, in der ihr Mann geflohen ist, haben sie furchtbare Schreie gehört. Das sagt doch wohl alles. Er schrie vor Angst. Vor Angst, hören Sie?“
Titus nickte unmerklich. Die Gerüchteküche in einem kleinen Ort wie Tiefenfall war besser als jeder Kinofilm. Die Leute hatten nichts zu tun, also erzählten sie sich gegenseitig Ammenmärchen. Dass einer dabei in den Fokus der Aufmerksamkeit geriet und somit zum Opfer wurde, war ihnen egal. Jedenfalls so lange, bis sie selbst von zwielichtigen Gerüchten heimgesucht wurden.
„Wow“, sagte Gregor, als er den Motor anließ.
Theresa reichte Titus ihre Bücher, die er neben sich auf die Rückbank legte. „Wow?“, wiederholte sie.
„Lisa führt hier wirklich kein einfaches Leben“, erklärte Gregor. „Mit Postkartenromantik hat es jedenfalls nicht viel zu tun.“
„Du glaubst das mit den Schreien nicht?“, fragte seine Assistentin.
Gregor setzte den Wagen in Bewegung. „Du etwa?“
„Ich fand es auf jeden Fall unheimlich.“
Gregor warf einen Blick in den Rückspiegel. „Was ist mit dir, Titus? Glaubst du’s oder nicht?“
Titus unterdrückte ein Gähnen. „Die Bewohner bestehen in der Hauptsache aus Spießern und Kleinbürgern. Was will man da anderes erwarten?“
Gregor lachte. „Das ist mein Titus wie ich ihn kenne und liebe. Misanthropisch bis zum Gehtnichtmehr.“
„Sagtest du nicht, du hättest etwas in der Kirche zu tun?“, entgegnete Titus.
Die Kirche war geschlossen.
Gregor, gefolgt von Titus und Theresa, umrundete das Gebäude, bis er zum Pfarrhaus gelangte. Er klingelte mehrmals. Eine ältere Frau mit kurzen grauen Haaren öffnete. Sie trug einen einfachen Hauskittel mit Blümchenmuster. Sie schien Gregor bereits zu kennen, denn sie sagte lapidar: „Der Pfarrer ist nicht hier.“
Gregor machte ein enttäuschtes Gesicht. „Ich hatte einen Termin bei ihm.“
Während die Frau ihren Blick neugierig über Theresa und Titus gleiten ließ, antwortete sie: „Es kam etwas dazwischen.“
„Und wo ist er jetzt?“
Sie deutete mit einem Nicken hinter ihn. „Er weiht den Schutzwall ein.“
Gregor wandte sich sofort um. „Das dürfen wir uns nicht entgehen lassen.“
„Warten Sie lieber hier auf ihn“, mahnte ihn die ältere Frau. „Das geht nur die Bewohner des Ortes etwas an.“
Gregor ließ sich nicht aufhalten. „Ich bin Forscher wie Sie wissen. Ich muss einfach sehen, was dort vor sich geht.“
Die Frau zuckte mit den Schultern und schloss die Tür.
Titus bekam ein mulmiges Gefühl. „Du willst wirklich da hin?“
Gregor klopfte ihm auf die Schulter. „Es ist die einzigartige Gelegenheit, etwas von diesem Brauch mitzubekommen. Gehen wir.“
Erst bei ihrem weiteren Gang durch die Stadt fiel Titus auf, dass die einzigen Leute, die ihnen begegneten, ausnahmslos Frauen waren. Das hob nicht unbedingt seine Stimmung. Es bedeutete nämlich, dass nur der männliche Teil der Bewohner bei dem Ritual anwesend sein durfte. Wahrscheinlich handelte es sich um ein Massenbesäufnis. Titus’ Nervosität nahm zu. Auf ein Rudel betrunkener Hinterwäldler zu stoßen, hatte nicht gerade etwas mit dem zu tun, was er sich von dem Ausflug erhofft hatte.
„Hier entlang.“ Gregor deutete auf eine gepflasterte Gasse, die zwischen schmalen Fachwerkhäusern steil hinab führte. Bei dem Schneematsch eine wahre Rutschpartie. Titus hätte es zweimal beinahe hingeschlagen. Als Stadtmensch hatte er natürlich nicht daran gedacht, geeignetes Schuhwerk mitzunehmen. Die glatten Sohlen seiner schwarzen Halbschuhe erwiesen sich als völlig ungeeignet. Gregor und Theresa trugen schwere Wanderstiefel. Dementsprechend schritten sie gelassen über die rutschigen Pflastersteine.
Das Ende der Gasse war gleichbedeutend mit dem Ortsende. Die letzten Häuser sahen sich einer weiten, schneebedeckten Ebene gegenüber. Normalerweise hätte er diese Fläche bis zu den Bergen verfolgen können. Im Sommer gab es hier sicherlich Wiesen und Felder.
Doch Titus´ Blick reichte gerade einmal zweihundert Meter weit. Voller Staunen betrachtete er das kolossale Bauwerk, das dort aus dem Schnee ragte. Es kam ihm vor, als trennte diese kurze Distanz das Mittelalter von der Antike.
Die Palisade erinnerte an eine römische Bastion. Die aneinander gereihten Stämme waren an ihren oberen Enden angespitzt und wirkten wie riesige Pfähle, die ein größenwahnsinniger Vampirjäger angefertigt hatte. Jeder zehnte Stamm ragte um etwa fünfzig Zentimeter über die übrigen Pfähle empor. Die Höhe der Palisade betrug ungefähr acht Meter. Sie erstreckte sich über die gesamte Nordseite des Ortes. Ein breiter, platt getrampelter Weg führte zu dem Bauwerk, vor dem sich eine größere Versammlung gebildet hatte.
Titus erkannte Walter Dorn, der auf einem Podium stand, während neben ihm der taubstumme Herbert apathisch einen Weihrauchkessel hin und her schwang. Seine Augen weiteten sich, als er Titus erkannte. Er hörte mit den Schwingen des Weihrauchkessels auf, streckte aufgeregt seine rechte Hand aus und gab unverständliche Laute von sich.
Pfarrer Dorn stoppte in seiner Predigt.
Erst wandte einer, dann zwei und schließlich alle Köpfe in ihre Richtung. Wie Titus bereits befürchtet hatte, handelte es sich bei den Anwesenden ausnahmslos um Männer. Sie hatten soeben einen Ritus unterbrochen, bei dem Frauen, so wie es aussah, in der Tat ausgeschlossen waren. Titus hoffte, dass die Bewohner sie nicht gleich teeren und federn würden. Immerhin hatten sie Theresa dabei.
„Was soll das?“, hallten bereits die ersten Rufe herüber. Gefolgt von: „Wer ist das?“, „Woher kommen die denn?“ und „Was machen die da?“. Der ausschlaggebende Satz aber lautete: „Die sind nicht von uns!“
Während Walter Dorn vom Podium aus versuchte, die Gemüter zu beruhigen, trampelten bereits die ersten Bewohner Tiefenfalls auf sie zu. Die beiden Anführer trugen blaue Latzhosen und rotweißkarierte Hemden. Sie hatten die Ärmel hochgekrempelt. Eine Art von Kälteempfinden schien es für sie nicht zu geben, auch wenn ihre Köpfe und Hände rot angelaufen waren. Sie hatten beide blondes Haar und glichen sich, als sei der eine der Doppelgänger des anderen.
„Für einen Rückzug dürfte es wohl zu spät sein“, bemerkte Theresa.
Titus fiel es schwer, zu beurteilen, ob sie dies ironisch gemeint hatte.
Gregor beobachtete mit einer gewissen Faszination das Herannahen der Einheimischen. Wäre er auch noch so fasziniert darüber, wenn sie ihm den Schädel einschlugen?
Die beiden Latzhosenträger bauten sich direkt vor ihnen auf. Sie verschränkten ihre Arme vor der Brust, sodass ihre Muskeln voll zur Geltung kamen. Titus wirkte ihnen gegenüber wie ein Streichholz, das jemand vor einem Ochsen in den Boden gesteckt hatte. Ihre Augen rollten von ihm zu Theresa und dann zu Gregor, um kurz darauf erneut auf Theresa zu blicken. Hinter ihnen versammelten sich Schaulustige und Empörte. Aber nicht alle waren gekommen. Ein paar von ihnen hielten sich weiterhin vor der Palisade auf. Pfarrer Dorn kletterte unbeholfen vom Podium. Herbert folgte ihm.
„Ihr seid nicht von hier.“ Der Satz, den einer der beiden Latzhosenträger ausstieß, besaß mehr den Charakter einer Feststellung als den einer Frage. Seine Stimme klang rau und aggressiv.
„Da haben Sie nicht Unrecht“, bemerkte Gregor. Titus beeindruckte seine Gelassenheit. Eine Ruhe, die wohl jedem Forscher irgendwie im Blut stecken musste. Selbst Zoologen, die in Afrika von einem Rudel Löwen angegriffen wurden, fanden darin noch immer etwas Interessantes.
„Frauen nicht hier erlaubt“, fügte der andere hinzu, ohne auf die Grammatik zu achten. Seine Stimme besaß einen überraschend hohen Ton und passte keinesfalls zu seinem bulligen Aussehen.
Beide Männer starrten missbilligend auf Theresa.
Gregors Assistentin zuckte mit den Schultern. „Ist das ein Problem?“
„Das ist es“, übernahm der Mann mit der tieferen Stimme das Wort.
„Dann störe ich nicht weiter.“
„Du bleibst hier.“
Theresa blieb stehen.
„Fremde und Frauen dürfen bei diesem Ritual nicht anwesend sein“, fuhr er fort. „Ihr habt zwei Regeln auf einmal gebrochen.“
Titus verhielt sich mucksmäuschenstill. Er hasste solche Kerle. Egal, was man ihnen erwiderte, sie waren nur auf Ärger aus.
„Was ist denn daran so schlimm, wenn Fremde und Frauen bei Ihrem Ritual anwesend sind?“
Beide Männer starrten Gregor an, als hätte sich dieser auf einmal in ein Pferd verwandelt. Auf eine solche Frage waren sie wohl oder übel nicht vorbereitet gewesen.
„Brauchst nicht wissen“, sagte schließlich der mit der hohen Stimme und der fehlenden Grammatik.
„Ihr habt die Regeln gebrochen“, wiederholte der andere.
Hinter ihnen nickten die übrigen Männer zustimmend. Eine Mischung aus einfachen Handwerkern und Bauern. Titus erkannte nur wenige, bei denen es sich um Büroleute oder Verkäufer handelte. Es wunderte ihn, dass ausgerechnet in einem solchen Ort ein Antiquariat überleben konnte. Vielleicht durfte man Menschen dieses Schlages nicht unterschätzen. Oder das Antiquariat betrieb zusätzlich einen Online-Shop.
„Wer die Regeln bricht, muss bestraft werden“, erklärte der Mann weiter. „Ihr bringt uns alle in Gefahr.“
„Niemand bringt irgendjemanden in Gefahr!“
Titus spürte so etwas wie Erleichterung, als sich Walter Dorn zwischen den beiden Latzhosenträgern hindurchzwängte. Herbert humpelte hinter ihm her. Er hielt noch immer den Weihrauchkessel in der Hand.
„Uli! Hannes!“, ermahnte der Pfarrer die beiden. „Es sind Gäste. Wie sollen sie von unseren Regeln wissen?“
„Das Ritual kann man nur einmal durchführen“, bemerkte Hannes, der Mann mit der tiefen Stimme.
„Wir haben noch nicht einmal damit begonnen“, machte Dorn ihn darauf aufmerksam. „Es sind Gäste. Und wir sollten sie wie Gäste behandeln.“
Hannes schaute auf Theresa. „Und was ist mit der Frau?“
„Sie zählt auch als Gast“, erklärte Dorn geduldig. „Wie der Mann neben ihr ist sie Wissenschaftlerin.“
„Und dieser Typ da?“ Hannes nickte in Titus’ Richtung.
„Er ist Schriftsteller …“
„Dann krallen wir uns eben den!“ Uli und Hannes packten Titus an den Armen. Sein Herz rutschte ihm beinahe in die Hose.
Dorn schüttelte den Kopf. „Er ist ebenfalls Gast hier in unserem Ort.“
„Aber die Strafe …!“
„Keine Strafe“, unterbrach Dorn Hannes. „Gäste werden nicht bestraft. Das Ritual hat noch nicht begonnen. Niemand ist zu Schaden gekommen.“
„Ehrwürden, Ihr wisst, dass das Ritual nicht funktioniert, wenn Fremde und Frauen daran teilnehmen. Die drei bringen uns in Gefahr. Heute beginnen die Rauhnächte. Wir brauchen den Schutz.“
„Da hast du ganz recht, Hannes. Deswegen werden wir unsere drei Gäste bitten, diesen Platz wieder zu verlassen. Dann können wir ungestört mit dem eigentlichen Ritual beginnen.“
„Hat überhaupt schon einmal ein Fremder an dem Ritual teilgenommen?“, wollte Gregor wissen.
„Nein“, antworteten Uli und Hannes wie aus einem Mund.
„Dann wissen Sie nicht, ob unsere Anwesenheit Ihrem Ritual schadet“, schlussfolgerte der Volkskundler.
„Natürlich schadet es!“, fuhr Hannes ihn an. „So steht es im Gesetz!“
„Strafe machen?“, fragte Uli.
Walter Dorn hob seine Hände in die Höhe, als wollte er wie Moses das Meer teilen. „Ich sagte, niemand wird bestraft. Gilt mein Wort oder euer Wort?“
Uli und Hannes senkten ihre Köpfe. „Ihr Wort, Ehrwürden.“
„Und ich sage, wir lassen sie gehen.“
Auf einmal trat ein Mann nach vorne, dem Titus schon einmal begegnet war. „Dieser Kerl hier wohnt bei Lisa!“ Der Friedhofswärter. Auch jetzt trug er einen schäbigen Anorak und eine Wollmütze. Sein Ausruf führte zu erneuter Unruhe. Uli und Hannes packten erneut Titus’ Arme.
„Bei der Hexe?“, raunte Hannes.
„Müssen Strafe machen!“, rief Uli.
„Bestrafen!“, grölte es nun von allen Seiten. Hände wurden in die Höhe gereckt wie bei einer Protestaktion.
„Ruhe!“, brüllte Dorn. Auf einmal hörte man nur noch den Wind über die Landschaft streifen. „Ich sagte, niemand wird bestraft. Wenn ich die Regeln richtig deute, dann würde eine Bestrafung dazu führen, dass diejenigen, welche diese Untat durchführen, ihrerseits bestraft werden. Und zwar von jenen, vor denen wir uns eigentlich schützen wollen.“
Uli und Hannes ließen Titus augenblicklich wieder los.
Gustav, der Friedhofswärter, starrte Titus weiterhin voller Hass an.
„Und was Lisa betrifft, sie ist keine Hexe“, stellte der Pfarrer klar. „Oder hat sie einen von euch schon einmal verhext?“
„Sie hat als einziges Mitglied ihrer Familie einen Angriff von Lamien überlebt“, sagte Gustav. „Und wie wir alle wissen, ist ihr Mann eines Nachts schreiend aus ihrem Haus geflohen und nie wieder zurückgekehrt. Lisa steht mit denen im Bunde. Damals wurde sie von den Lamien nicht einmal angefasst.“
Zustimmendes Raunen erfüllte die Runde.
„Und“, fügte Gustav bedeutungsvoll hinzu, „es ist kein Geheimnis, dass Lisa vor einem Jahr versuchte, mich zu verhexen. Nur mit Mühe gelang es mir, mich von ihrem Zauber zu befreien. Wir hätten bereits damals Lisa zusammen mit ihrem Haus verbrennen sollen.“
Erneut zustimmendes Gemurmel. Aber auch den ein oder anderen höhnischen Lacher.
„Und wenn Leute in ihrem Haus wohnen, dann sind diese schon allein dadurch gebrandmarkt. Besonders, wenn sie wie dieser Mann einfach auf unserem Friedhof herumschnüffeln.“
Titus sah sich einer Vielzahl weit aufgerissener Augen gegenüber. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als unsichtbar zu sein. Die Leute meinten es ernst mit dem, was sie sagten. So irrsinnig und abgehoben es auch erschien. Diese Typen glaubten daran. Von Vernunft keine Spur. Vielleicht war es doch besser, Tiefenfall so schnell wie möglich zu verlassen.
Walter Dorn breitete seine Arme in einer umarmenden Geste aus. „Seid nicht zu voreilig. Lisa vermietet ihr Haus an Gäste, auch wenn, wie ich zugeben muss, diese lange auf sich warten lassen. Und esst ihr nicht ihre Torten und Kuchen, die sie extra für unsere kirchlichen Veranstaltungen backt?“
„Na ja …“, kam es kleinlaut aus manchen Kehlen.
„Da habt ihr es. Lasst Lisa einfach in Ruhe. Sie tut niemanden etwas. Und habe ich nicht einmal gehört, Gustav, dass du Lisa in gewisser Weise verhexen wolltest?“
Gelächter.
Gustavs Kopf wurde dunkelrot. Mit zorniger Miene machte er kehrt und stapfte zurück zur Palisade.
„Und jetzt zu unseren Gästen“, kam der Pfarrer auf das eigentliche Thema zurück. „Wir lassen sie in Ruhe gehen. An Heilig Abend werden sie an unserer Messe teilnehmen. Dann kann jeder von euch sich ein Bild von ihnen machen. Bei der anschließenden Vesper kommt ihr wahrscheinlich sogar schnell ins Gespräch und werdet euch für euer jetziges Verhalten schämen. Es sind schließlich Menschen wie wir. Ich habe bereits mit ihnen gesprochen und kann keinerlei Makel an ihnen feststellen. Im Gegenteil, die Unterhaltung war jedes Mal äußerst interessant und bereichernd. Ich habe viel dazugelernt. Wann kommt man schon in direkten Kontakt mit Wissenschaftlern und Schriftstellern?“
Uli und Hannes zögerten. Auch wenn sie jetzt nachgaben, so war es offensichtlich, dass die Stimmung sofort wieder kippen konnte. Titus, Gregor und Theresa galten von nun an als Zielscheiben, wenn es darum ging, ein Opfer zu suchen. Sie mussten sich hüten. Ein falsches Wort, eine falsche Bewegung, ein falscher Blick konnten dazu führen, dass man sie erneut jener ominösen Bestrafung zuführen würde. Und was Lisa betraf, daran wollte Titus erst gar nicht denken. Am liebsten würde er sie in seinen Koffer stecken und heimlich aus Tiefenfall tragen. Wieso hatte sie diesen Ort nicht schon längst verlassen?
Walter Dorn schüttelte ihnen nacheinander die Hände. „Entschuldigt bitte diese Unannehmlichkeit. Es sind im Grunde genommen gute Menschen. Machen Sie sich lieber wieder auf den Weg. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen ein zweites Mal beistehen kann.“