Читать книгу Rauhnacht - Max Pechmann - Страница 8
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ОглавлениеAls Titus das Haus verließ, vernahm er aus der Küche wieder das Klappern der Töpfe. Es fiel ihm schwer, Lisas Bemerkungen aus dem Kopf zu bekommen. Welche Art von Gefahr hatte sie gemeint? Titus bezweifelte, eine Antwort zu erhalten, wenn er die Küche aufsuchte, um sie danach zu fragen. Lisa war eigenartig. Mindestens soviel stand fest. Dennoch musste er sich eingestehen, dass ihn ihre Erscheinung faszinierte.
Vor dem Haus zündete er sich eine Zigarette an. Die Kälte schnitt wie eine Rasierklinge in sein Gesicht. Der Schnee blendete in den Augen, obwohl der Himmel mit graublauen Wolken verhangen war.
Er hatte vor, einen Rundgang durch den Ort zu machen, bevor Gregor mit seiner Assistentin zurückkam. Vielleicht führte ihn sein Spaziergang auch in die Nähe des obskuren Zauns, den die Bewohner aus Holzstämmen errichteten.
Während er rauchte, fiel sein Blick auf den Friedhof, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag. Der Schnee, der in der Nacht gefallen war, hatte auf den ungepflegten Hecken einen weißen Wall errichtet. Er wusste nicht, was er sich davon versprach, doch als er seine Zigarette ausdrückte, beschloss er, dem Gottesacker einen kurzen Besuch abzustatten. Er kannte einen Autor, der sich von Grabsteinen inspirieren ließ. Vielleicht hatte Titus ja dieses Mal auch Glück und kam beim Anblick der Gräber auf eine neue Romanidee.
Er überquerte die verlassene Straße und öffnete das schwarz lackierte Tor. Die moosbedeckten Grabsteine mit der windschiefen Kapelle im Hintergrund erschienen wie das Motiv für das Plakat eines klassischen Gruselfilms. Gelegentlich ragten verwitterte Skulpturen in Form trostloser Engel aus dem Schnee.
Während Titus an den Gräbern vorbeischlenderte las er die Namen der Verstorbenen. Seltsamerweise stand auf mehreren Grabsteinen dasselbe Sterbedatum: 25.12.1981. Hatte damals eine Epidemie den Ort heimgesucht? Vor einem der Grabsteine blieb er abrupt stehen. Bardin. Besaß nicht die Haushälterin denselben Nachnamen? Tim Bardin 1952-1981 und Anna Bardin 1950-1981. Unterhalb dieser beiden Namen stand: Thomas Bardin. 1979-1981. Es musste sich dabei um den Sohn der beiden handeln. Lisas Eltern und ihr Bruder waren hier begraben. Er zog seinen Mantel fester, da es ihn plötzlich fröstelte.
Er spazierte weiter bis zur Kapelle. Die Holztür hing schräg in den Angeln. Dem Aussehen nach hatte sich nie jemand die Mühe gemacht, diese zu reparieren. Er drückte dagegen. Sie öffnete sich, wobei sie über den Steinboden schabte. Fünf hölzerne Kirchenbänke reihten sich hintereinander. Am gegenüberliegenden Ende stand ein Altar. Darüber hing ein schweres Steinkreuz. Es gab keine Verzierungen, nichts, das sich lohnte, näher in Augenschein zu nehmen. Also schloss er die Tür wieder und drehte sich um.
Titus zuckte zusammen. Er blickte direkt in das mürrische Gesicht eines alten Mannes. Der Kerl musste sich regelecht von hinten angeschlichen haben. Er trug eine dunkelblaue Wollmütze und einen schäbigen Anorak. Sein grauer Stoppelbart verlieh ihm ein ungepflegtes Aussehen.
„Was machen Sie hier?“, fuhr ihn der Mann an.
Titus versuchte, sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen. „Mich umsehen.“
„Sich umsehen? Wer sind Sie überhaupt? Ich kenne Sie nicht.“
Titus begann sich, über diese grobe Art zu ärgern. „Darf ich fragen, wer Sie sind?“
„Sie sind fremd hier, nicht wahr?“, fuhr der Mann fort, so als ob er Titus’ Frage nicht gehört habe. „Fremde in Tiefenfall sind nicht gut. Wir mögen keine Leute von außerhalb. Besonders nicht, wenn sie sich auf unserem Friedhof aufhalten.“
Titus räusperte sich. „Gibt es dafür auch so etwas wie eine Erklärung?“
Der Mann glotzte Titus verdutzt an. „Eine Erklärung? Hören Sie, junger Mann, ich weiß noch immer nicht, wer Sie sind und was Sie hier wollen. Daher rate ich Ihnen, sich von hier fernzuhalten.“
Titus trat an dem Mann vorbei auf die Reihe von Grabsteinen zu, in welche dasselbe Sterbedatum eingemeißelt worden war. „Können Sie mir nicht einmal sagen, weswegen so viele Leute an Weihnachten einundachtzig gestorben sind?“
Die Augen des Mannes funkelten zornig. „Wer sind Sie? Ein verdammter Reporter? Hauen Sie von hier ab!“
„War nur eine Frage“, erwiderte Titus, drehte sich um und verließ den Friedhof.
Um auf der rutschigen Straße in den Ort zu kommen, benötigte er mehr als fünfzehn Minuten. Kein Mensch kam ihm entgegen. Wenn er Glück hatte, traf er in Tiefenfall auf Gregor, damit er sich den Fußmarsch zurück ersparte. Vielleicht wusste sein Freund noch nichts darüber, dass es am ersten Weihnachtstag 1981 auffällig viele Sterbefälle gegeben hatte. Normalerweise hätte er ihn mit seinem Handy anrufen können. Gregor aber gehörte zu einer Minderheit von Handy-Gegnern. Daher blieb Titus nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Er kam nicht gerade an vielen Geschäften vorbei. Es gab unter anderem ein kleines Antiquariat, das jedoch geschlossen hatte. Titus blieb kurz vor dem Schaufenster stehen, in dem Bücher über Geister- und Hexenglauben auslagen. Anscheinend beschäftigten sich nicht wenige Leute mit Esoterik.
„Was auch immer das zu bedeuten hat“, murmelte Titus vor sich hin.
Endlich erreichte er das Ortszentrum von Tiefenfall. Direkt vor ihm ragte die Kirche wie ein abstruses Artefakt aus dem mit unebenen Pflastersteinen belegten Platz. Ihre schmutzigbraune Fassade sowie die gotischen, teils blinden Fenster trugen nicht gerade dazu bei, dass er sich in dieser Gegend wohl fühlte. Erst jetzt erkannte er auf dem Kirchturm eine dornenähnliche Spitze. Auch auf dem Dach des Kirchenschiffes ragten in regelmäßigen Abständen große, silberfarbene Dornen in die Höhe. Diese Auffälligkeiten machten ihn neugierig.